Der Geist der 90er: Wilde Auswärtsfahrten, Besäufnisse, Hools und fleißiges Lieschen - alte Briefe wecken Erinnerungen

Hot

„Auch wieder in chemical city - kurz CC? Du musst morgen arbeiten? Dann sehen wir uns ja! Gibt viel zu erzählen! Hast du schon ‚Texas‘ mit Helge Schneider gesehen? Lustig! Tschö, mit berlinischem Gruß!“ Diesen Zettel hatte ich dem Karsten Ende 1991 an die Zimmertür im Ausbildungswohnheim gepinnt. Klingt jetzt nicht gerade berauschend und spannend. Aber es wird besser, viel besser! Um in der Einleitung nur mal fix gucken zu lassen, was kommt, ein erstes Beispiel. So hieß es drei Jahre später: „Gestern mit Jan in Wolfsburg gewesen. War lustig! Wir haben nur gelacht. Wir mussten durch die halbe DDR-Provinz fahren, mit DR-Bummelzügen. Leider verlor Hertha, das wäre es gewesen. Wolfsburg ist so arm, uäh, echt das Letzte. Die haben dort totale Schei**fans und ein beknacktes Stadion. Total pervers. Na ja, wir hatten wieder viel Spaß mit der Polizei. Wir mussten über die Gleise laufen, damit wir unseren Zug erreichten. Ab Hannover ging es weiter mit einem IC. Viele Berliner machten dort in drei Waggons ne dufte Party. Der Bundesgrenzschutz riegelte halb Magdeburg ab. Echt amüsant. Aber nun ist Winterpause. Kein Fußball, keine Auswärtsfahrten, keine Hooligans, keine Partys in Zügen. Jan ist echt in Ordnung. Ne, echt, wirklich! Wir müssten mal zu dritt auf Tour gehen! Uerdingen gegen Dresden oder so, höhö. Aber sag mal, wie lief die Prüfung? Gut? Wenn ja, ein guter Grund zu trinken! Das wird ne Jahrhundertparty! Mensch klasse! Mit Felix, Rasterlockenmensch und Kendy, ja, und Mobby! … Und Freitag: Wir können ja dann noch etwas dickes unternehmen. Fleißiges Lieschen spielen, oder Mäxchen, oder Katze fall tot um! Oder wir essen einen Papagei! Ein wirklich schönes Gesellschaftsspiel mit gesellschaftspolitischen Zügen. Geradezu richtig für uns!“

Was für eine großartige Überraschung! Neulich wurden in Essen quasi die privaten Archive geöffnet. Ich bekam eine ganze Tüte voll Briefe überreicht. Briefe, die ich von 1991 bis 2003 an Karsten geschrieben hatte, und die nun fein säuberlich sortiert in einem Ordner geheftet vor mir auf dem Schreibtisch liegen. Bei einigen Pilsetten las ich abends all die meist mit Hand - ab und an auch mit elektronischer Schreibmaschine - geschriebenen Briefe durch. Seitenlang. Voll mit Anekdoten und Erinnerungen. Mein lieber Schwan, das muss in einen Bericht mit rein! Das dürften paar Seiten werden. Also ran an die Arbeit. Espresso auf der Herdplatte angesetzt, die Milch geschäumt und ans Laptop eine externe Tastatur angeschlossen. Jetzt kann es richtig knattern! Um überhaupt etwas Linie in all den Wust reinbringen zu können, werde ich chronologisch vorgehen und die besten Stellen in Auszügen präsentieren. Doch bevor es losgeht, noch mal kurz zurück zum eingangs erwähnten Zweitligaspiel VfL Wolfsburg vs. Hertha BSC. Auf den Brief vom 11. Dezember 1994 hatte ich eine kleine Zeitungsmeldung geklebt. In dieser hieß es wortwörtlich: „Nach elf Spielen ohne Niederlage wurde Hertha in Wolfsburg gestoppt, 0:1 beim Spitzenreiter. … Mit Nebelbomben und Leuchtraketen sorgten die rund 1.000 mitgereisten Hertha-Fans für italienische Verhältnisse am Wolfsburger Elsterweg.“ 

Brief

Um vorab die persönliche Situation in den 90ern zu erklären: Anfang September 1991 zog ich von (Ost-)Berlin nach Leverkusen, um dort bei der Bayer AG meine Ausbildung als Elektroniker fortzusetzen. Im dortigen Wohnheim lernte ich unter anderen Karsten kennen, mit dem ich jetzt - ein Vierteljahrhundert später - dieses Magazin am Laufen halte. Von 1991 bis 1994 waren wir nur auf Achse, soweit es Zeit und Geld zuließen. Wir hauten uns das ganze Fußball-Buffet rein, saugten alles auf, was möglich ist. Leverkusen, NRW, Berlin, Deutschland, England, Europa - (fast) die ganze Welt. Es wurde gesoffen, gefeiert, sich derb gestritten, wieder vertragen, auf dem nahen Ascheplatz gekickt, aus Jux oder Wut die Wohnheimtür zerdeppert, mit Leuchtkugeln im nahen Wald mit anderen Ossis herumgeballert, mit einer Simson abends ganz Schlebusch unsicher gemacht. Mitte 1994 zog ich wieder zurück nach Berlin, doch der Kontakt blieb. Klassisch per Telefon und per Brief. Immer wieder statteten wir uns gegenseitig Besuche ab und hielten uns auf dem Laufenden. Und klar, das wichtigste Thema schlechthin: Fußball!

1991

Also legen wir mal los! Die meisten Passagen erklären sich von selbst. Und gerade bei uns Älteren wird es sicherlich immer wieder im Geiste Klick machen. Am 22.12.1992 hieß es in einem Brief: „Ja ja, ist schon was los mit den Mädels. Na mal schauen, können ja aufregende Ferien werden. Und was machst du so? Wie fandest du das Spiel in Uruguay? War ja nicht schlecht, gut gespielt. Schön, dass Effe nicht mehr mitspielt! Kirsten hat ja wieder einen langen Einsatz gehabt … Haha.“ Am Ende des Briefes wurden zahlreiche Vereine den Rubriken „Viva“ und „Fu**“ zugeordnet. Alles, was Berlin im Namen trug, wurde in erste Rubrik gepackt. Dazu Kaiserslautern (aufgrund der hübschen Bengalen im Block), Celtic FC sowie Lazio und Juve. Dass damals in die andere Rubrik einfach mal der 1. FC Magdeburg, Eintracht Frankfurt und der Chemnitzer FC landeten, hatte schlichtweg nur einen Grund. Andere Kumpels, die genau jene Vereine mochten, wurden gestichelt. Und es war eine Wonne, wenn Uli Stein mal daneben griff und Jan im Gemeinschaftsraum das Gesicht verzog wie nach drei Wochen Rosenkohlsuppe.

City

Im Januar 1993 wurde eine Tour nach England geplant, und demzufolge war dies das aktuelle Thema schlechthin: „Wenn ich dann im vollen Stadion stehe und die lauten Gesänge höre, dann läuft es einem kalt den Rücken runter. Ganz komisches Gefühl, die Tränen stehen einem fast in den Augen. Das war gegen Celtic genauso. Wahnsinn!!! … Oh je, Pokal, das wird spannend. Vielleicht kommt es zum Spiel Berlin - Leverkusen. Das wäre krass! Ich wüsste nicht, für wen ich sein soll. Würde es zum Spiel LEV - Chemnitz kommen, ich würde diese … So, morgen, Samstag, werden die Haare gefärbt. Ich hoffe, ich sehe meine Ex-Freundin. Ein bisschen Spaß kann nicht schaden…“

Hertha

Am 29. September 1993 saß ich gerade in einem IC von Düsseldorf nach Berlin, als ich mit einem Füller auf kariertem Papier folgende Zeilen schrieb: „… Ich habe gerade gelesen, dass zum Berliner Derby 30.000 Besucher erwartet wurden - vor der Saison. In Anbetracht der Lage sollen jetzt um die 15.000 Fans kommen. Gegen 1860 werden 20.000 erwartet. Nun ja, das freut mich schon etwas. Die Vorfreude auf Sonntag ist riesig, der Hass auf TeBe und DFB neu geschürt! … Das Spiel gestern war irre, super spannend. KSC - PSV. Und total laut, Hexenkessel! KSC kam verdient in die 2. Runde. BVB ist auch weiter, toll. Eintracht: 1:2 gegen Dynamo! Höhö! … Apropos: Wir haben jetzt einen neuen Ball: Derby Star. Gute Qualität. Wenn du Lust hast, können wir ihn nächste Woche mal ausprobieren! … So, Karsten, ich wünsche Dir einen Sieg von Leverkusen und Erkenschwick. Mir wünsche ich einen Sieg gegen TeBe und das Mädel der kühnsten Träume…“

Einen Monat später wurden weitere Europapokalspiele ausgewertet: „Oh Mann, war ich enttäuscht! 3:3! Manchester - Istanbul. Schlimmer hätte es kaum kommen können. Na mal schauen, sie müssen jetzt in Istanbul gewinnen. … Und Lev gestern? Super! Wie steht es in der Zeitung? Ich zitiere: ‚Das Olympiastadion zu Athen wirkte menschenleer, Sergio hatte in der 42. Minute Bayer in Führung geschossen. Dann zwei Minuten später schaffte Panathinaikos durch Warzycha den Ausgleich. Und es war, als hätte ein Urtier aufgebrüllt. Sekunden später war das riesige Oval in purpurrotes Licht getaucht.‘ So steht es geschrieben. Und ich sage dir, das Publikum von Athen ist großartig! Fußball kann so toll sein! … Samstag wird bestimmt cool! Cologne - Borussia. Freitag gehen wir auf die Azubi-Party. Da wo wir hingehören, höhö! Wird aber bestimmt lustig!“

Lev

Mit roter Tinte wurden am 18. Dezember 1993 folgende Zeilen aufs Papier gebracht: „Ab 7 Uhr hatte ich mit Gordon das ABBA-Lied geschrieben, in den Amiga. Dabei gut Whisky getrunken. Und dann. Klopf, klopf ans Fenster. Schwupps kamen um 22 Uhr sechs Leute an, alle ab ins Gordons Zimmer. Whisky trinken und extrem laut Freddy Mercury hören. Und um 23 Uhr. Klopf, klopf an die Tür. Die Alte in voller Wut, am Ausrasten. Man habe sie hintergangen, der Besuch sei nicht angemeldet, sie haben nicht geklingelt. Der Alte kam auch noch dazu. Debatten ellenlang. Wir mussten alle gehen. Ab ins Schlibisch Inn. … Was anderes: Ich wusste gar nicht, dass man so ein Heimatgefühl haben kann. Früher, als ich in Berlin wohnte, fand ich die Stadt nicht so toll. Ganz nett halt. Aber seitdem ich hier wohne, habe ich sogar das Gefühl, ich müsste mich für meine Heimat einsetzen und verteidigen. Wenn Du mich ärgern willst und meinst ‚Hähä, scheiß TeBe, und hihi, blöde Hertha kann ja gar nix!‘, dann springt das gut bei mir an und das Fass ist bei mir schnell voll. Und wenn einer meint ‚Berlin ist eine Scheißstadt oder scheiß DDR!“, dann kann es passieren, dass ich denjenigen am liebsten vermoppen würde! … Nach Weihnachten bekomme ich höchstwahrscheinlich eine Brille. Dann strengt das Lesen nicht mehr so die Augen an, und ich kann besser die Spieler auf dem Fußballplatz erkennen (es gibt schon leichte Probleme). Fußball ist einfach genial. Die affengeile Stimmung der Fans. Aber Karsten: Fair play, keine Macht den Drogen. Hihi. Keine Gewalt. Du kleiner Raufbold…“

Köln

Die Brille kam dann doch erste zehn Jahre später, bis dahin kniff ich ab und an fest die Augen zusammen. Weiter im Text, vor mir liegt der fette Ordner, und wir sind jetzt Mitte Februar 1994. „Morgen Cologne - Schalke. Ich würde sagen, es kommen 35.000 - 40.000 Zuschauer. … Am 1. März ist das Spiel in Lissabon. Dann vergnügen wir uns am Atlantik oder am Mittelmeer. Danach können wir machen was wir wollen. Schottland, England, Italien, Frankreich. Wir zahlen das Interrailticket und beim Rest werden wir aufpassen und günstig leben…“ Die Europa-Tour wurde dann in die Realität umgesetzt. Gespart wurde bei den Übernachtungen. Geschlafen wurde in Zügen, auf Bahnhöfen (in Lissabon wurden wir fast aufgemischt), in Parkanlagen und bei Nieselregen unter freiem Himmel in den Highlands vor den Toren von Edinburgh. Und das bei 2 Grad plus im März 1994!

Lissabon

August 1994. Zurück in Berlin. Am VHS-Kolleg begann der Vorkurs zum Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg, und auf dem Postweg mussten die Neuigkeiten ausgetauscht werden: „Was soll ich sagen? 10 Jungens und 15 (!) Mädels in meiner Klasse! Das ist aufregend. Das Alter liegt zwischen 21 und 25. Ein Mädel hat sogar grüngefärbte Haare. … Ich mache nun sehr oft Krafttraining und Lauftraining. … Hertha BSC - Rostock 0:1. Graupenmannschaft. Unfähige Vorstandsmitglieder. Ich gehe erst wieder hin, wenn sie anständigen Fußball spielen. … Und Völler ging zu Bayer Leverkusen. Cooles Ding. Hoffentlich nutzt es was. Schuster, Dooley, Lehnhoff, Völler, oh oh, was für ne Rentnergang, aber vielleicht klappt es ja.“

FC Berlin

Nur vier Tage später setzte ich mich wieder ran und erklärte: „In der Regionalliga Nordost ist Wismut Aue richtig gut, sie haben zur Zeit die aktivsten Fans. Nach Berlin kommen schon mal 500 Fans mit. Für 3. Liga geht das. Na ja, bei Union spielt sich nicht so viel ab. Man findet sich einfach nicht mehr ab mit der 3. Liga. Nach viermaligem Nicht-Aufstieg seit 1990. … In einer Woche ist DFB-Pokal. Da bleibt mir leider nur TeBe - St. Pauli. So ein Hohn, schon wieder diese St. Pauli Mannschaft. Ansonsten Regionalliga. Vielleicht jetzt am Samstag Brandenburg - Union. Aber am 24. September spielt der FC Berlin gegen Union. Endlich mal was gutes. Es wird Zeit, dass auch wieder Eishockey beginnt in Berlin…“ Am 18. Oktober 1994 war zu lesen: „Ich war bei Dynamo Dresden - Rote Teufel. 1:0. Es war ganz gut, die Stimmung war prächtig. Oh je, Bayer Leverkusen! 1:1 gegen Uerdingen, ist ja übel. Hertha holte 7:1 Punkte in Folge. Am Sonntag müssen sie nach Nürnberg, oh oh, Spiel der Wahrheit!“

HSV

Eine Sause nach Hamburg wurde im Brief vom 7. November 1994 geschildert: „Na so was! Leverkusen gewann mit 2:1! Der Mob jubelte. Aber im Ernst, ungefähr 500 Lev-Anhänger waren anwesend. … Auf der Hintour im Shuttlebus war es lustig. Ich trug meinen Leverkusen-Schal schön offensichtlich. Der ganze Bus voll mit HSV-Fans. Plötzlich fingen sie alle an zu singen. ‚Scheiß Leverkusen…‘, „Du bist scheiße wie der SVW’. „Du kannst nach Hause fahr´n!’, ‚Du bist ein Leverkusener, ein asozialer Leverkusener, du schläfst unter Brücken…‘. Etwas mulmig war es. Alle lachten und amüsierten sich. Was soll man da machen? Ich schaute halt abwesend aus dem Fenster… Auf der Rücktour im Bus lag der Schal im Rucksack. Aber im Intercity nach Berlin wurde es spaßig. Zig HSV-Fans saßen im Großraumwagen. Ich hisste meine Lev- und ManUtd-Schals oben an die Gepäckablage. Siegesstrahlend. Sekunden später hingen überall HSV- und BVB-Schals. … Ach du scheiße! Barca - Manchester 4:0. Nun ja, vor 114.000 Zuschauern (!) kann man mal untergehen. … Jan will mit mir zu Eintracht - Neapel fahren. Oh, Leverkusen darf nach Katowice fahren, im tiefsten Polen. Das Rückspiel will ich aber sehen!“ 

Tramper

Und der Herbst 1994 wurde noch richtig heiß. Ich kaufte mir mehrfach ein DB-Monatsticket und düste quer durch Deutschland. Saufen in München im Mathäser-Brauhaus, aufwachen in Köln-Kalk in einer fremden Bude. Richtig interessant wurde es dann, als die Sause nach Leipzig-Leutzsch anstand. Aufbereitet wurde dieses Spiel bereits in zwei meiner Bücher und hier im Magazin. Interessant sind jedoch die Zeilen, die aus der Emotion heraus geschrieben wurden: „Ohne zu lügen behaupte ich, dies war mein heftigstes Fußballspiel! Vom Stadion und den Fans machte ich ein paar Fotos. Etwa 300 Berliner Hooligans, vielleicht auch mehr, einige blieben draußen, waren in Leipzig. So einen Gästemob sah ich selten, so gewaltbereit, das kannst du dir nicht vorstellen! Nach dem Spiel war es lustig, mit dem BGS aus Sachsen. Ich bekam von 5 Leipzigern (ich im Moment allein) kräftig aufs Auge. Man erkannte mich als Berliner. Ich stand / saß auf der Leipziger Tribüne. Was da nach dem Spiel los war, unbeschreiblich. Am Abend wurden wir alle in einen Sonderzug geknüppelt und gejagt von der Polizei. Totales Chaos. Ich musste mich wehren, weil ein Polizist in der Masse mir den Hals zudrückte…“

FC Berlin

Rein ums Sportliche ging es indes in einem Brief vom 20.12.1994, der mit der neu zugelegten Schreibmaschine getippt wurde. „Die Mad Dogs München gehen Konkurs. Sie stellen den Spielbetrieb ein. Das ist ein Ding, sie sind ja Meister. Das macht mir ein wenig Angst, es könnte ja dem EHC Eisbären genauso gehen, urplötzlich. Na ja, ist aber nicht abzusehen. … Ab nächstes Jahr gibt es vielleicht wieder eine britische Meisterschaft, da spielen der schottische, walisische, englische und nordirische Meister gegeneinander. Diese Meisterschaft gab es bis 1984 schon mal, sie ist die älteste Meisterschaft der Welt. 1984 wurde sie abgeschafft, wegen schwerster Ausschreitungen!!! Stell Dir mal das Spiel Glasgow Rangers - Manchester United vor! Du weißt ja, was Rangers-Fans von United halten. … Jetzt werden erst einmal Testspiele gemacht der B-Nationalmannschaften. Man will sehen, ob die Fans friedlich bleiben. Und ach: Gaudino geht zu Manchester City? … Jetzt nur noch eine Einladung abgetippt für dich: Detroit House im Zosch in der Tucholskystraße 30 in Berlin Mitte mit den DJs witte, househerr & M.I. flint a, 29.12.1994 ab 22 Uhr.“

1995

Auf ins Jahr 1995. Aus Kostengründen wurde wieder auf  den Füller zurückgegriffen. Die Kassetten mit den Farbbändern waren extrem teuer. Davon ganz abgesehen schrieb ich zahlreiche Briefe im Unterricht am Kolleg, wenn es mal wieder öde zur Sache ging. „Am Freitag wollte ich zur Vorrunde des Berliner Hallenturniers. Konnte ich vergessen, sie prügelten sich fast um die letzten Tickets. Außerdem: 40 DM! … Neulich war ich bei Eisbären - Hannover. Ausverkauft, ich stand mit im Fanblock. Rückstand 15 Minuten vor Schluss 2:7! Dann holten sie auf 6:7 auf, fast noch der Ausgleich. Die Leute waren am titschen, unglaublich! Da läuft es einem den Rücken runter, wenn tausendfach „Dynamo!“ und „Ostberlin!“ ertönen.“ Und auch das Thema Abitur war im Brief vom 19.01.1995 wieder Thema. „Wir bekamen noch 3 Frauen dazu. Das heißt jetzt: 20 Frauen und 7 Männer. Heute wurde ich zum Stellvertreter des Klassensprechers gewählt. Das erstaunte mich. 16 Stimmen für meinen (fast) Namenskumpel Mark. Ich bekam 11 Stimmen.“ Würde es nicht im Brief stehen, würde ich es nicht glauben. Meine Fehlzeit aufgrund der ganzen Fußballtouren: Rund 30 Prozent.

Zwei Monate später lag ich mehrere Wochen flach. Auch daran kann ich mich kaum erinnern. Aber die Zeilen von damals sind eindeutig: „Letzte Woche ging´s mir richtig beschissen. Den einen Tag kippte ich fast aus den Latschen. Dachte schon, das wär´s gewesen. Jetzt bekomme ich Antibiotika, und es geht mir schon ganz gut. … Um Himmels Willen, der BSC Preussen! Diese blöden Kölner Haie! Die ganze Stadt war sauer. Kurz vor dem Titel - und dann? In den Spielen ging es heiß zur Sache. Da wurde fast nur geprügelt auf dem Eis, die Berliner ließen sich zu sehr provozieren, so dass zwei wichtige Spieler gesperrt wurden. Beim Spiel in Köln schlug ein Berliner Spieler einem Kölner Zuschauer die Fresse ein. Ganz schön hitzig. … Am kommenden Sonntag spielt Union Berlin gegen den FC Berlin. Ich werde hinfahren mit Fotoapparat. Wenn ich wieder fit bin, ich hoffe. Ey, ich muss sogar reines Vitamin C essen. Uäh, widerlich. Aber bis zur Tour nach Parma bin ich wieder stabil. Die 17. Reihe muss stehen, stimmt´s? Oder sind wir doch die 16. Reihe? :-)“

Im gleichen Brief gibt es noch etwas interessantes zum Stand der Dinge in Sachen Computer zu lesen: „Wir haben jetzt hier einen PC. Nico und ich. 386er DX so und so. Mit Tintenstrahldrucker. Ist ganz nett. Nico will nur ein neues Motherboard, er will halt einen 486er. Jeder müsste sich mit 300 DM beteiligen. Bei mir ist nun die Frage: Gordons Amiga oder Beteiligung am PC?! Na ja, Sensible Soccer lockt schon ein wenig. Vor allem jetzt, wo ich Ruhe verschrieben habe bekommen…“

FC Berlin

Über Fußball geht es wieder am 5. Mai 1995 - und zwar über den heimischen. „Der FC Berlin schrammte haarscharf am Berliner Pokal vorbei. Nun ist´s TeBe, das im DFB-Pokal dabei ist. Das wäre es gewesen. FC Berlin - 1. FC Köln oder FC Berlin - Rot-Weiss Essen. Leider nicht. Hertha steigt und fällt ständig. 6:2 gegen Fortuna Köln, 0:3 in Meppen. Und Union? Ach hör uff. … Neulich war richtig Stimmung in Prenzlauer Berg. Rund 300 Leute feierten mit Lagerfeuer Walpurgisnacht auf einem Platz. Plötzlich kam die Polizei und wollte räumen. Aus rund 300 Jugendlichen wurden ungefähr 4.000 Leute. Und es ging zur Sache. 47 verletzte Polizisten. Ein Kumpel von mir war auch dort. Mit Platzwunden kam er wieder. … Noch wat: Gestern lief ich mit roten Schuhen, Lederjacke und Dieseljeans die Friedrichstraße lang. An einer großen Gruppe Punks vorbei, die jeden um Geld anbettelten. Auch mich fragte man, ich schüttelte den Kopf. Danach grölten sie mir hinterher: ‚Ey wa, mit Alternativschnitt und roten Schuhen vorbei loofen und nix geben, wa?! Hey, gib ma etwas Geld, bist doch selber nen Linker, oder nicht wa? Hey, du Arschloch, gib endlich Geld, du arrogante Sau!‘ Ich ging einfach flotten Schrittes weiter.“

Berlin

„London hat 7 Erstligateams: Arsenal, Chelsea, Tottenham, QPR, Wimbledon, West Ham United, Crystal Palace… Berlin hat 7 Drittligateams: Hertha BSC II, Union Berlin, FC Berlin, Tennis Borussia Berlin, Hertha Zehlendorf, Reinickendorfer Füchse, Spandau… Toll, oder? Oder doch ein kleiner Unterschied?“, vermerkte ich in einem Brief am 16. Mai 1995. Des Weiteren hieß es: „Mit Jan fahre ich am Freitag nach Zwickau, sie spielen gegen Hertha. Zwickau lohnt, da kommen immer zwischen 6 - 7.000 Zuschauer. Am Samstag gehe ich dann mit ihm zum RL-Spiel FC Berlin - Sachsen Leipzig. Da freut sich Jan drauf. Na ja, er will Randale sehen. … Boah, und Hertha? 1:1 gegen Mainz. Weltklasse. Wenigstens Hansa Rostock steigt wieder auf. Hm, und Wolfsburg wohl auch. Die Provinz kommt. Auf zum Spiel Wolfsburg - Uerdingen vor 3.500 zahlenden Zuschauern und 18 Gästen aus Krefeld (inklusive Grotifant). Ach ja, Hertha will in ein, zwei Jahren aufsteigen. Ich bin skeptisch. Aber sie holten den ‚Eisen-Karl‘ aus Sion ,davor beim BVB. Und den Sixten Veit aus Chemnitz. Ein geiler Name, was? … Am 7. August spielen in Berlin der AC Milan und der FC Bayern München um den Opel Cup. Man rechnet mit 60, 70.000 Zuschauern. Mitte August spielt der 1. FC Union Berlin gegen Besiktas Istanbul! Stell Dir das mal vor! Ach ja, man munkelt hier in Berlin, dass der ESV Erkenschwick zur dominierenden Fußballmacht in Deutschland aufstrebt. Stimmt das? Aber die Randale nach ‚harmlosen‘ Spielen müsst Ihr dann abstellen. Das mag der DFB nicht!“

Opel

Zur Ruhe kamen wir Mitte der 1990er wohl nie. Es ging auf Schlag auf Schlag, und dementsprechend gefüllt mit Neuigkeiten waren auch die Briefe. Am 1. August 1995 notierte ich mit blauer Tinte: „Die letzten 7 Tage waren purer Stress. Nur heute nicht, da fuhr ich etwas Boot. Ich fahre vielleicht noch allein nach Budapest und Sofia, mit der Bahn. Aber erst mal alle Arbeiten erledigen. … Zum Fußball: Am Freitag war ich bei Reinickendorf - Union. Ich dachte mir, ist zwar Scheiße, aber trotzdem hin. Weit gefehlt. Es war das lustigste RL-Spiel für mich. Es kamen 3.000 Zuschauer, die Bude war voll, die Stimmung der 2.000 Union-Fans super. Ein gutes Spiel, 2:1 für Union, geiles Abfeten der Ostberliner. ‚Grüne, weiße Westberliner Scheiße…‘ Dies galt für Verein und Polizei. Erst einmal wurde eine Reinickendorfer Spieler fertiggemacht, weil er den Finger zeigte und Grieche ist. Nach dem Spiel ging es heiter weiter. Was soll ich sagen? Eine glatzige Kante wurde von der Polizei zusammengeschlagen, da ging der Mob auf die Polizei los. Da war Action, ich machte auch Fotos. Das Stadion dort bietet ja keine Sicherheit, so war das Chaos groß. Der Gewaltmob war eh groß. Kanten mit England-Shirts und Liverpool-Hemden. Leute mit Pittbull- und Bulldog-Trikots. Sehr witzig! Es war ein aufregender Abend, Regionalliga ist doch toll! … Für dich geht es ja bald nach Irland. Wenn du verdammt gut drauf bist, bringe mir bitte ein paar Kleinigkeiten von ManUtd und Celtic mit. Weißt schon: Programmhefte, etc. Bezahle ich dir dann. Vielleicht kriegst du ein Jahresheft und einen Spielplan von der neuen Saison. Ich würde mich riesig freuen.“

1995

Immer mehr Erinnerungen werden wieder wach beim Lesen all der handbeschriebenen A4-Seiten. Oh meine Güte, ist das alles wirklich schon 22 Jahre her? „Im Kino war ich auch. ‚Braveheart‘ war absolut spitze, ein Topfilm! Demnächst schaue ich mir ‚Hass‘ an, ein Film, der über die Rassenunruhen in Paris berichtet. Tja, und musikmäßig? Top: ‚Dolls United‘ mit ‚Eine Insel mit zwei Bergen‘ und die ‚Thekenschlampen‘. Es gibt zur Zeit echt die schärfsten deutschen Lieder. Und sonst? Eine fette Sau brach mir bei einem aktiven Fußballspiel fast mein Schienbein. Dieser Trottel latschte voll gegen mein rechtes Bein. Er trug Schienbeinschoner ohne Stutzen, Radlerhosen und ein Illgner-Torwart-Trikot. Geil was? Das war ein Experte!“

„This was the best!“ Die Logos hatte ich gleich mit auf den Brief geklebt. „Derby! Mit etwas Glück erhielten wir 35-DM-Karten für die Preussen-Tribüne. Inmitten von Devils-Fans. Die Stimmung unter den 6.500 Zuschauern war aufgeheizt, etwa 2.000 Eisbären-Fans standen auf der Tribüne hinter dem Tor. Preussen - Eisbären. 0:1, 1:1, 2:1, 2:2, 2:3, 3:3, Verlängerung, 46 Sekunden, 3:4 Sieg!!! War das irre, der absolute Wahnsinn. Wir waren dermaßen am Durchdrehen. Schon während des Spiels kam es zu Wortgefechten mit den Preussen-Fans. Ich bekam den absoluten Hass auf diese Westberliner. Um so schöner der Sieg von Dynamo Ostberlin! Die Tore wurden geschossen von Russen, eingekauft von Dynamo Moskau! Ich war selten so heißblütig! … Gestern fuhr ich mit Jan nach Frankfurt und Slubice. Paar Flaschen Sekt kaufen. Tralala. Dann abends zum HF der Deutschen Meisterschaft im Judo. JC Frankfurt - SC Berlin. War mal etwas anderes, nur wurde ich permanent genervt mit blöden Sprüchen. ‚Auf die Buletten!‘, ‚Nieder mit den Assi-Berlinern!’ Kumpels können so fies sein! Leider kam Frankfurt/Oder ins Finale…“

Derby

Wir schrieben inzwischen den 24. April 1996. Parallel zur Schule baute ich mit drei Freunden draußen vor den Toren Berlin aus einem Bauernhof an zwei Segelbooten, mit denen wir im Herbst 1999 gen Australien starten wollten. Demzufolge verschoben sich die Themen in jener Zeit ein wenig vom Fußball weg, doch auszutauschen hatten Karsten und ich auch während des Segelprojektes genug. „Vor einer Woche war ich mit meinem Vater (!) beim Berliner Drittliga-Derby. Nun, es war nicht übel, das Publikum war angemessen. Nur mein Vater regte mich auf, weil er komischerweise für TeBe war, da diese nicht so proletenhaft seien wie die Unioner. Außerdem sei bei denen ja alles finanziell okay. Scheiße, ich bekam fast Hassanfälle, als TeBe den Ausgleich erzielte und mein Vater lachte und sich freute…“

Unterricht am VHS-Kolleg. Boote bauen auf dem Bauernhof. Und da die Knete ständig knapp war, ging ich so oft es ging über die TUSMA arbeiten. Und mit ein bisschen Glück bekam man einen richtigen Knochenjob. Aber immerhin für 17 Mark pro Stunde. Karsten schrieb ich Anfang September 1996: „Ich sage dir! Bausanierung an einem unter Denkmalschutz stehenden alten Gebäude. Ich musste an den Fenstern den Sandstein bearbeiten, schön sorgfältig, in der 3. Etage halb aus dem Fenster hängend. Mit dem Rücken in Richtung Abgrund, eine Hand klammerte sich an den Fensterflügel, die andere Hand polierte den Sandsteingebilde. Zudem standen noch Leckerlies an wie Karrefahren, Fußböden aufkloppen und Dachbalken tragen. Wenn ich weiter so mache, kriege ich bald richtige Muckies. Aber wie sollte es auch anders sein, meine rechte Brustkorbhälfte ist jetzt total gezerrt und tut fürchterlich weh. … Ach ja, meine Güte! Hertha BSC verlor schon wieder. 0:1 in Gütersloh. So ein Mist, die kriegen es nie (!) auf die Reihe. Im Spitzenspiel der Regionalliga (Zweiter gegen Erster) spielte Union gegen Cottbus. Soll ich dir mal das Resultat nennen? 0:4!!!“

Union

Am 05. November 1996 - also fast auf den Tag genau drei Jahre vor dem schweren Schiffbruch auf der Nordsee - holte ich das Schreibpapier mit dem roten Teufel von ManUtd raus und zückte den Füller. Vier lange Seiten mit etlichen Gedankengängen. Es war eine aufwühlende Zeit voller Umbrüche. Eine siebenwöchige Brasilien-Reise im Sommer 1996 steckte noch in den Knochen und musste gedanklich aufgearbeitet werden, auf dem Bauernhof wurden die Bootsprojekt-Pläne immer konkreter, und auch am Kolleg hatte ich die Birne voll. Zeit für Fußball blieb kaum noch. Es blieb somit bei einer kurzen Auswertung: „Tja, Bayer Leverkusen ist top, das könnte ja was werden. Pünktlich zum fertigen Stadion. Aber Man United ist scheiße drauf: 0:5 in Newcastle, 3:6 in Southampton und 0:1 gegen Fenerbahce. Berlin bleibt halbwegs auf Kurs. Mal sehen. Heute Abend auf DSF kommt: Berlin Capitals - Manchester Storms. Na ja, nur Eishockey. Es leben die Eisbären!“

25.11.1996. „Wie Hemingway sitze ich am Schreibtisch, eine Flasche Rotwein steht geöffnet neben mir, es ist 19 Uhr. … Ich höre eine mitgebrachte Kassette mit Indianer-Musik aus Amazonien.“ Ein Glas später und ein paar Zeilen weiter: „Beim Spiel Ajax - Feyenoord gab es wahrlich schwere Ausschreitungen, schon vor Spielbeginn wurde das Feld gestürmt. Und Leverkusen hätte Tabellenführer werden können. Pustekuchen. 1:3 beim Stefan Hanke Club FC St. Pauli. Ach ja, beim Handball habe ich jetzt auch einen Lieblingsverein. Rate mal, höhö, THW Kiel. Da ‚freut‘ sich Jan, er liebt ja Flensburg-Handewitt, den Erzrivalen…“ 

Hertha

Hertha BSC konnte im April 1997 das Zweitliga-Spitzenspiel gewinnen, und klar, dass dies im nächsten Brief aufgearbeitet werden musste: „Es war wie ein unglaublicher Traum. 75.000 Zuschauer, ausverkauftes Olympiastadion, geilste Stimmung. Ewig wartete ich auf solch ein Erlebnis mit einer Berliner Mannschaft! 2:0 und wieder Tabellenführer. Ich setzte mich in die oberste Reihe, ein cooler Blick. Beim 1:0 von Hertha durch Axel Kruse war es richtig südländisch. Leuchtkugeln flogen in den Himmel, die Freude der Zuschauer war dermaßen riesig. Einfach genial. Alle waren aus dem Häuschen. Laola durch das weite Rund. Nie mehr zweite Liga. Von der Freude her war es eines meiner besten Spiele. Neben Manchester - Leeds, den Eisbären-Sieg bei den Preussen und dem Lev-Sieg in Frankfurt. Wie die Zeitungen berichteten, ist klar. Wie in Italien. Und haufenweise Lob.“

H96

Mitte Mai 1997 gab es dann folgendes zu vermelden: „Mit Jan fahre ich am 29. Mai nach Hannover, um das Aufstiegsspiel H96 - Energie Cottbus zu sehen. Anschließend setzt er mich bei dir ab, so geht das! Sonntag düse ich mit dem 35-DM-Ticket wieder zurück. … Ach ja, mit Jan und Raimar war ich beim Berliner Pokalendspiel im Jahn-Sportpark. Etwa 4.000 Unioner (95% der Zuschauer) im Stadion, aber Union verlor gegen die Füchse mit 0:1. Totaler Frust. Platzsturm. Einige Unioner gingen völlig ab. Die Angelegenheit war aber auch krass, denn es war ja Herrentag. Bier + Bier = …“

Anderer Monat, andere Sorgen. „Du hast geschrieben, am 13. September musst du zur Musterung. Wenn du nach Solingen musst, es es keimig, weil so ein alter Kerl Dir an die Eier packt. Von wegen Zurückstellung brauchst du da noch gar nix zu sagen! Erst einmal kommt der EVP-Test, einige Zeit später. Dein theoretisch frühester Termin zur Einberufung wäre ja der 1. April 1998…“ Anfang Dezember 1997 rückte auch Fußball wieder in den Fokus: „Jawohl, der BVB gewann gegen Belo Horizonte mit 2:0. Ich bin der absolute Borusse des Monats. Geiles Foto, oder?! Gekifft?! Aber wie du siehst, habe ich die Tickets für das Game gegen Hertha BSC gekauft, auf der noblen Geschäftsstelle. … Du, das Abitur ist vorbei, nun kann ich wieder verkommen, ich werde asozial! So richtig die Sau rauslassen, trinken, rauchen, nächtelang rumlabern und …! Und sag mal, ich habe Dir klar und deutlich mitgeteilt, dass wir Kirsten für seine 3 Tore gegen Scheiß Bayern eine Kiste Sekt schicken müssten! Ich spreche doch nicht undeutlich, oder?!“

Raus ging der Sekt nie, auch wenn ich vor heimischen Fernseher damals den 4:2-Sieg nach Rückstand gefeiert hatte, als sei ich plötzlich Millionär geworden. Mein damaliges WG-Zimmer in Bergfelde hatte ich vor Freude fast zerlegt, als Kirsten in der Schlussphase den Sieg klarmachen konnte. Ich trommelte auf den Fußboden ein, brüllte gegen die Röhre und trat gegen das Bett. Hey Ulf, falls google dich hierher führen sollte: Melde dich! Den Sekt gibt es dann! Und was im Dezember 1997 noch Thema war: „Vorhin war ja WM-Auslosung. Die Stadien in Frankreich sehen ja ziemlich cool aus. Das Eröffnungsspiel lautet: Brasilien - Schottland. Deutschland spielt mit Jugoslawien und Iran in einer Gruppe. Habe ich gelacht! Na dann aufie!“

ORB

April 1998. Das Jahrtausend näherte sich dem Ende zu, und draußen auf dem Bauernhof nahmen die beiden Segelboote langsam aber sich Gestalt an. Um vom Arbeitsstress abzuschalten, ging es hin und wieder in die große bunte Stadt. Auf ägyptischem Schreibpapier hielt ich fest: „Neulich kletterten wir in Friedrichshain auf ein Hausdach und spazierten über die Altbauten des Bezirks. Geile Aussicht und wackelige Beine wegen der Höhe. Keine Absperrungen und nix zum Festhalten. … Gestern zockte ich mal wieder Fußball. Ich schloss mich einer Gruppe des Hochschulsports an und spielte mit. Nach 30 Minuten wurde ich warm, grätschte und schoss auch ein Tor. Eine hatte die Rugby-Kleidung der Iren an, ich dagegen trug das weiße England-Trikot…“

Die folgenden Briefe drehten sich fast ausschließlich um das Segelprojekt. Und sonst? Mit rotem Stift auf weißem Papier wurde Ende August 1998 folgendes niedergeschrieben: „Neulich war ich mit Raimar in Hellersdorf in einer mordsmäßig guten Disco. Völlig cooles Ambiente und natürlich viele geil aussehende Frauen! Man hat es ja hier fernab auf dem Dorf nicht leicht. Nun bin ich 25 Jahre alt und habe immer noch keine Kinder. Nicht mal ne feste Freundin, aber wer hat die schon? Oder gibt es Neues zu berichten? … Mein Gott, Celtic verlor 0:3 gegen Zagreb und somit nicht in der Champions League dabei. Das Dortmunder Stadion sieht ja jetzt recht cool aus, schon ziemlich groß. Tja, und die Bundesliga läuft wieder. Der 1. FC Köln ist am Arsch der zweiten Liga. Der KSC noch viel mehr. Tennis Borussia Berlin ist auf Aufstiegskurs!“ 

Brief

10. Januar 1999. Inzwischen wurden einige Briefe auf dem Computer geschrieben, doch die Technik hatte ihre Tücken. „… All dies schreibe ich jetzt zum zweiten Mal, denn mein kleiner Computer ist ein dummes Schwein. Ein richtiges hinterlistiges Biest, ganz besonders das hässliche Laufwerk, dieses Miststück. Kratzbürstig, widerborstig und garstig. Es zerstörte soeben die Datei ‚Karsten‘, in der ganze zwei Seiten feinster Text gespeichert waren. Seine Kratzspuren auf der Diskette sind mit bloßem Auge erkennbar. So, das wirst du büßen, dachte ich mir und holte zum Zertrümmerungsschlag aus. Wahrscheinlich rächte er sich bei mir, denn vor einer halben Stunde legte ich ganz belanglos einen Apfelgriebs auf das externe Laufwerk. Kann ich gut verstehen, aber soll er sich nicht so weibisch haben…“

1999: Fußballpause. Fertigstellung der beiden Segelboote. Tag und Nacht in der Scheune werkeln. Im Oktober 1999 ging es schließlich los, am 06. November erwischte uns ein schwerer Sturm vor der niederländischen Küste ein schwerer Sturm. Dieser brachte beide Boote zum Durchkentern. Sichtbare und unsichtbare Retter waren später zur Stelle, so dass wir alle vier mehr oder weniger wohlbehalten wieder das Festland betreten durften.

Nordsee

Neues Jahrtausend, neue Zeiten. Zurück in Berlin. Zwischen all den Briefen und der E-Mail-Flut hatte das Telefonieren Hochkonjunktur. Anfang und Mitte der 1990er waren Ferngespräche sauteuer. Nach und nach purzelte der Preis, so dass wir stundenlang am Hörer saßen. Das Schmauchen der Zigarette oder das Gluckern der Bierflasche konnte live miterlebt werden. Und kein Wunder, dass ich am 19. Juni 2000 in einem Brief schrieb: „Zu schreiben gibt es ja nicht viel, wir telefonieren ja jeden Tag…“ So sind im Ordner auch kaum noch abgeheftete Briefe zu finden. Bis 2010 war das Telefon das A und O, in der Gegenwart wird fast nur noch per Mail kommuniziert. Seit 2002 rückte der Fußball wieder in den Fokus, seit 2005 bin ich wieder voll dabei, und seit 2009 gibt es die Fußball-Rubrik in diesem Magazin. 

Marco Bertram

Warum die Briefe bzw. Erinnerungen aus den den 1990ern so wichtig sind? Weil sie die elementare Basis für die derzeitige Tätigkeit bilden. Davon ganz abgesehen ist ein weiteres Buch über die 1980er und 1990er Jahre in Arbeit. Eine gute Frage, womit ich diesen irre langen Rückblick nun enden lasse. Ach, nehme ich einen Brief aus dem Jahr 2000, ein Griff aus dem Leben: „… Meine ‚abenteuerliche‘ Anzeige steht bald in der Zeitung. Man tut, was man kann. Ich fahre jeden zweiten Tag 50 km Rad und schwimme dreimal die Woche 2 bis 3 Kilometer auf der 50-Meter-Bahn in der nagelneuen Halle. Man muss ja fit bleiben. Vielleicht bin ich ja mal wieder im Ruhrgebiet, mit dem Rad! Tralala! Sport frei!“

Fotos: Marco Bertram, K. Hoeft

> zur turus-Fotostrecke: Fußball in den 90er Jahren

Artikel wurde veröffentlicht am
12 September 2017

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G
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G
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Genial geschrieben!
G
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G
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G
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Lustig zu lesen!!
R
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Schöne Zeiten. Schöne Erinnerungen.
J
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Wilderei?
Sind das am Zaun alles gezogene Fanutensilien? Wenn ja, wurde kräftig gewildert.....
J
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Die Ossis! :-D
K
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G
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