Perspektivenwechsel, „Sushi-Fußball“ und Erinnerungen an Barcelona

Perspektivenwechsel, „Sushi-Fußball“ und Erinnerungen an Barcelona

“Hey Kollegen, hat einer von euch Bock auf Sushi-Fußball?” Die Frage stößt im Büro auf verwirrte Blicke. “Sushi-Fußball?”, fragt jemand, “was ist das?” Es wird erklärt, dass damit ein Spiel auf der VIP-Tribüne gemeint ist. Dort gibt es zwar nicht wirklich Sushi, doch das Gericht aus rohem Fisch und Seetang steht stellvertretend für die Upperclass.

Am Abend spielt Hertha BSC im Pokal gegen die roten Hosen von der Elbe, und der Kollege könnte an Karten kommen und will ausloten, wer dabei wäre. Die meisten winken ab. Keine Zeit, keine Lust, kein Interesse an Bonzen-Plätzen. Ich dagegen melde mich. Ich hatte schon vor einer Weile festgestellt, dass der VIP-Bereich der einzige Ort im Olympiastadion sein dürfte, von wo aus ich noch kein Spiel gesehen habe. Das Ganze kam dann doch nicht zustande, und ich packte den Wunsch, mal in die VIP-Tribüne zu gehen, wieder in die mentale Schublade.

Dann kam dieser unsägliche 16. Januar 2024, an dem Kay starb. Ich habe das nach wie vor nicht überwunden, und sein viel zu frühes Ableben bringt mich immer mehr dazu, Dinge eben jetzt zu tun und nicht auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Dafür ist das Leben einfach viel zu kurz. Also ging ich in die Offensive und fragte über meine Socials an, ob denn nicht jemand mal ein Ticket für mich hätte. Es dauerte auch gar nicht lange, da meldete sich ein ehemaliger Arbeitskollege, der wiederum jemanden kannte, der an Karten kommt. Nach einigen ausgetauschten Nachrichten hatte ich Karten für das Spiel gegen die Hansa-Kogge inklusive Tiefgaragenstellplatz in der Tasche.

Je näher das Spiel rückte, umso größer wurde die Vorfreude. Am Spieltag selbst wurde das Homeoffice überpünktlich beendet, das Gesicht von überflüssigen Barthaaren befreit, der Kadaver abgeduscht, das Frauchen geschnappt und ab ging's gen Stadion. Eigentlich wollten wir das Auto noch durch die Waschanlage jagen, entschieden uns dann aber aus Faulheit dagegen. Am Ende war das ganz gut so, denn obwohl wir mit Stadionöffnung an der Tiefgarageneinfahrt waren, waren wir erst anderthalb Stunden vor dem Anstoß in einer Parkbucht angekommen.

Die Organisation der Security war einfach dermaßen schlecht, als würden die das zum ersten Mal machen. Aber am Ende stand die verdreckte und verklebte Familienkutsche zwischen glänzenden SUVs und Nobelkarossen in der TG Süd. Ein paar Treppen rauf, ein paar wieder runter, und schon saßen wir an einem gut gedeckten Tisch. Sehr zu meiner Freude mit einigen bekannten Gesichtern aus dem Vorstand des Hertha BSC e.V.

Bei netten Gesprächen und gutem Essen verflog die Zeit bis zum Anpfiff wie im Flug. Fünf Minuten vor dem regulären Kick-Off bezogen wir unsere gepolsterten und mit Armlehnen ausgestatteten Sitze. Allerdings verzögerte sich die Spielfreigabe durch den Schiedsrichter. Denn die Damen und Herren vom Ostseestrand wollten der alten Dame standesgemäß ihre Aufwartung machen. Dafür hatten sie die beiden Blöcke links und rechts des Marathontores mit je blauen und weißen Ponchos versehen. Zwischen Ober- und Unterrang prangten große Banner mit “Hansa” und “Rostock”. Passend zu diesem optisch wirklich guten Auftritt wurde blauer und weißer Rauch gezündet. Dieser war so intensiv, dass er sich wie ein Mantel über alle Ränge legte und einen ein wenig an das Barcelona Nebel-Spiel längst vergangener, viel besserer Hertha-Zeiten denken ließ.

Lediglich die Raketen und Böller als Stilelemente waren nicht sonderlich clever. Zumal die Raketen durch das im Vorfeld vorm Gästeblock gespannte Netz zurück in den eigenen Block gelenkt wurden. Das hätte dann doch schon ins Auge gehen können. Als der Rauch sich verzogen hatte, überzeugten die Kogge-Fans mit einer nahezu 100-prozentigen Mitmachquote.

Auch die Ostkurve war motiviert bis in die Zehenspitzen, verzichtete aber auf ein großes Intro. Es wurde wie immer gehüpft, ehe die Hauptstadtmafia ein Spruchband zeigte, auf dem die Ehrenlosigkeit des Einbruchs in die Fahnenräume der Ostkurve nochmals aufgegriffen wurde. Damals hatte Hansa den großen “Ostkurve Hertha BSC” entwendet und später bei einem Pokalspiel in Rostock präsentiert.

Stimmungstechnisch ist es eh immer ein Highlight, wenn die Kogge ihren Anker in Westend wirft, und so war es auch heute. Beide Seiten legten unglaublich brachial los und feuerten abwechselnd Support für das eigene Team oder Beleidigungen für den Gegner ins weite Rund. Die Dezibelzahl in der Ostkurve schnellte in der 18. Minute drastisch nach oben, weil Palko Dardai das Leder über die Linie ins Hansa-Tor bugsiert hatte. Der Jubel war kaum verhallt, da beklatschte das ganze Stadion (also abgesehen von den ca. 20.000 Rostockern) einen Eckball für Hertha.

Lediglich einzelne Personen registrierten, dass der Schiedsrichter gar nicht auf Ecke, sondern auf Strafstoß entschieden hatte. Offenbar wurde der Ball mit der Hand ins Toraus befördert. Unmöglich, das von unseren Plätzen aus zu dementieren oder zu bestätigen. Aber da im Kölner Keller auch alles dunkel blieb, wurde der Elfer ausgeführt. Fabi Reese verlud den Koggen-Keeper, und Hertha ging mit einem 2:0 in die Kabinen. Wirklich merkwürdig, eigentlich hatte Hansa eine optische Überlegenheit, nutzte das starke Pressing aber nicht aus, sondern ließ Hertha sich immer wieder befreien und kontern.

Wir nutzten die Halbzeit natürlich aus und knabberten uns noch ein bisschen durchs Buffet. Ich bin bei freiem Essen meiner Waschmaschine nämlich sehr ähnlich und habe ein Fassungsvermögen von sechs Kilo.

Der zweite Abschnitt begann eigentlich wie der Erste. Hansa versuchte, Hertha tief in die eigene Hälfte zu drücken, blieb aber immer die letzte Konsequenz schuldig. So konterte die alte Dame nach einer Stunde zum 3:0, und vier Minuten vor dem regulären Ende vollendete Fluppe zum 4:0. Natürlich trug dieses Ergebnis dazu bei, dass die Herthaner auf den Rängen eine geniale Sohle aufs Parkett legten. Die Mitmachquote bei Hansa sank aber auch kaum. Eigentlich war trotz der sich anbahnenden Niederlage jeder noch dabei, sein Team anzufeuern. Lediglich die Lautstärke litt aufgrund des Spielverlaufs. Nach dem Match wurden beide Teams von ihren Kurven bejubelt, und für uns ging es nach einem Scheidebecher und einem Scheideteller vom Buffet zurück in die Tiefgarage.

Dort hatte uns eine Art Monstertruck eingeparkt, und ich musste mich wie der Weihnachtsmann, der sich in einen Kamin quetscht, in unseren Pampers-Bomber einsteigen. Ein unglaublich schönes Erlebnis. Vielen Dank an alle, die das möglich gemacht haben. Damit kann ich wieder eine Sache von meinen To-Dos streichen. Bleibt noch: einen Titel mit Hertha BSC erringen und einmal für eine Hertha-Mannschaft auf dem Feld stehen.

Bevor die Augen an diesem Abend zufielen, schweiften meine Gedanken noch einmal zu Hansa: Ach, geliebter Feind. Sieh zu, dass du die Klasse hältst. Besuche im Ostseestadion oder eben deine Anwesenheit in Berlin sind doch immer wieder knisternde Höhepunkte einer Saison. Ha Ho He Hertha BSC! Der Kutten König.

Bericht: Der Kutten König (externer Link zu Facebook)

Fotos: Der Kutten König, Groundhopping Berlin & Co, Arnaud Schonder

Stadionname:
  • Olympiastadion Berlin
Inhalt über Klub(s):
Spielergebnis:
4:0
Zuschauerzahl:
62.177
Gästefans
21000

Ligen

Inhalt über Liga
2. Bundesliga

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