Das allererste Fußballspiel Anfang der wilden 90er: Mit dem Buschmesser zur Alten Dame

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„Kommste mal mit! Bullen klatschen! Dufte uff die Fresse! Batsch! Mit uns nach Greifswald, nach Rostock! Beim BFC ist immer was los!“ Grinsend berichtete der Mit-Auszubildende vom vergangenen Wochenende. Mit etwas Glück könnten auch paar neue Schuhe, eine schnieke Jacke oder sogar eine Stereo-Anlage rausspringen. Auswärts ginge immer was. Vom lumpigen Lehrlingsgehalt konnte er sich wohl auch kaum all die sauteuren Pullover, Jeans, Jacken und Turnschuhe anschaffen. Ost-Berlin im September 1990. Zwar stand der Tag der Deutschen Einheit bereits kurz bevor, doch im Osten tickten die Uhren noch völlig anders. Zwar längst nicht mehr im sozialistischen Takt, doch eben auch nicht, wie sich die Politik das vorgestellt hatte. Der „Wilde Osten“ außer Rand und Band. Die totale Freiheit. Die einen tobten sich in den Keller-Clubs aus, die anderen besetzten Häuser in Mitte und Prenzlauer Berg oder der Lichtenberger Weitlingstraße, wiederum andere ließen am Wochenende beim Fußball die Sau raus. Den völlig überforderten Volkspolizisten, die bald in Bundes-Uniformen ihren Dienst ausüben würden, mal zeigen, wo der Hammer hängt. Einfach total abfeiern, durchdrehen, freidrehen. Eigentlich auch gar nicht wissen, wohin der Weg eigentlich führen würde.

Wir von der damaligen Ausbildungsklasse der EBAG Berlin waren der letzte Jahrgang, die im Juni 1990 an den Polytechnischen Oberschulen das Abschlusszeugnis der 10. Klasse erhielten. Die Verträge für die Lehre hatten wir bereits zwei Jahre zuvor unterzeichnet. Mitten rein ins letzte POS-Schuljahr schlug der Hammer in Form des Mauerfalls ein. Das System östlich des Raumteilers löste sich in Windeseile auf. Bereits am Ende des 10. Schuljahres hatten die Lehrer keinen Plan mehr. Niemand wusste, wie es konkret weiter gehen würde. In der Lehre wurde es noch deftiger. Totale Anarchie in der Lehrwerkstatt am Schiffbauerdamm und in der Berufsschule am Ostbahnhof. Jeweils mit Blick auf die Spree. Es war ein totaler Kulturschock. Was sich alles in der Ausbildungsklasse tummelte, spottete fast jeder Beschreibung. Der eine machte auf strammen Neonazi, der andere war Punk, wiederum andere probierten sich mit Kampfsport (angesteckt von einschlägigen aus den neuen Videotheken ausgeborgten Filmen) und zeigten dies auch mal mit Besenstilen zwischen den Werkbänken. Und ja, wiederum andere gingen sich am Wochenende hübsch kloppen. Logisch, dass es gehörige Schnittmengen gab. Von daher konnten der Punk und der Typ von den Republikanern auch schon mal Kumpels sein. Um nicht auf der Strecke zu bleiben, boxte ich mit alten Schulkumpels in der Garage. Und zwar mit richtig alten, braunen, mit Stroh und Rosshaaren gestopften Handschuhen. Dazu wurden ab und an paar Kilo mit der Stange gewuchtet. Schön und gut. Fakt ist: Bei der Lehre irgendwas zur Thematik Elektrotechnik lernen? Klare Fehlanzeige! Bambule tagein, tagaus! Sich gegenseitig das Werkzeug verstecken, Blödsinn auf einer Tour aushecken. Andere bis zur Weißglut bringen. Zwanzig Schokoriegel am Tag reinschieben und blöd herumquatschen. 

Ost-Berlin

Es war an einem Morgen in der Berufsschule auf dem Pausenhof, als ich erklärte, dass ich mal in Kürze bei Hertha vorbeischauen würde. Schließlich würde die „Alte Dame“ ja wieder erste Liga spielen. Hertha? Schallendes Gelächter. Der eingangs besagte Hool empfahl mir, mal lieber mit zum FC Berlin (BFC Dynamo) zu kommen. Als ich jedoch seine und meine Oberarme verglich und zudem hörte, dass auch schon mal der eine oder andere verletzt auf der Strecke blieb (nicht immer wurde die VoPo auf dem falschen Fuß erwischt), lehnte ich dankend ab. Schade. Er dachte wohl, dass ich rein optisch das Zeug dazu hätte, mal richtig freizudrehen. Schließlich hatte ich doch morgens nach dem Gang durch den Ostbahnhof davorstehenden, inzwischen besitzerlosen, alten DDR-Fahrzeugen die Seitenscheiben eingetreten. Das war eine Art Volkssport. Trabant und Wartburg wollte eh niemand mehr haben. Die standen zuhauf ohne Nummernschild in der Weltgeschichte herum. Mitnehmen, zu Schrott fahren oder eben gleich zertreten. 

Mit BW-Stiefeln, hochgekrempelter Jeans und sowjetischer Tarnjacke machte ich was her. Gut so, denn so wurde ich trotz fehlender Muskelpakete nicht das „Opfer“. Den einen oder anderen Außenseiter hatte es damals wahrlich hart erwischt. Der Begriff „Mobbing“ würde das Drama nicht wirklich treffen. Manch einer wurde richtig fertig gemacht. Von daher zog ich gleich zu Beginn der Lehre den Joker und ließ meinem damaligen militärischen Faible freien Lauf. Die Faschos dachten gleich, sie hätten nen neuen Kumpel. Dem war jedoch nicht so. Ich war bereits Ende der 80er Jahre auf gut Deutsch gesagt richtig geil auf Abenteuer. Natur. Militär. Weltreisen. Alles vermischte sich zu einer etwas speziellen Lebensauffassung. Dass indes viele Ossis im Wilden Osten einen Faible für Waffen und kernige Kleidung hatten, steht eh außer Frage. Wo wurde nicht überall auf Partys die Haarschermaschine angesetzt? Wer opferte nicht alles sein Sparschwein und kaufte sich die ersten Docs oder Bundeswehrstiefel? Achtloch? Sechzehnloch? Da mir sowieso das nötige Kleingeld für coole Markenklamotten fehlte, krempelte ich eine dunkle 0815-Jeans hoch und sorgte mit der sowjetischen Tarnjacke für Gesprächsstoff. „Alter, geiles Ding! Komm, Marco, hau dem Trabbi auch noch paar in die Seite!“ Das Glas splitterte. Ich Idiot hätte mir sämtliche Sehnen an Füßen und Beinen zerschneiden können. 

Polizei

Da ich zu DDR-Zeiten nicht beim Fußball war - meine Eltern hatten aufgrund meiner Aufmüpfigkeit ein klares Veto eingelegt -, wollte ich nun als 17-Jähriger recht fix diese Lücke füllen. Ich ahnte, dass mich die erhitzte Atmosphäre in den Stadien durchaus packen könnte. Es gibt bekanntlich immer ein erstes Mal. Das zuvor im Frühjahr 1990 im Berliner Olympiastadion gesehene Schülerländerspiel zwischen Deutschland und England zähle ich mal nicht als „mein allererstes Fußballspiel“, da es eher ein Klassenausflug war, bei dem man einfach mit trottete. Die Ost-Berliner Schulklassen hatten damals freien Eintritt gewährt bekommen. Vor vollen Rängen endete jene Partie mit 0:4. Kein Wunder, die englischen Kids waren auch allesamt einen Kopf größer als die deutschen Schüler. Nun aber, mein erstes selbst ausgesuchtes Spiel! Ich hatte Bock auf ein Abendspiel unter der Woche, und da bot sich ein Spiel von Hertha BSC gegen eine Weltauswahl an. Ich ließ die Kumpels in der Lehre abfeiern. Mir egal, ich wollte endlich mal Hertha sehen. Da im Ligaalltag eh nicht viel zu holen war, erschien ein lockerer Test gegen ein paar Weltstars geeigneter. 

Ich machte mich allein auf den Weg, setzte mich in die U2 und fuhr in Richtung Ruhleben. Selbstverständlich in meinem üblichen Outfit. Kann aber sein, dass ich an jenem Tag wenigstens die schweren Stiefel daheim in Waldesruh ließ. Die Bauchtasche in Camouflage war indes wieder dabei, und noch eine andere Überraschung hing am Gürtel. Als mich der Ordner am Einlass des Olympiastadions abtastete, bekam ich plötzlich zu hören: „Alter, aber das kriegst du hier nicht mit rein!“ Ich war ein wenig überrascht. Wieso das denn nicht? „Das“ war ein Militärmesser mit stehender Klinge und integriertem Schleifstein an der Scheide. Wie manch einer stets sein Butterfly oder einen in der Lehrwerkstatt gebastelten Wurfstein stets dabei hatte, trug ich dieses Messer immer an meinem Gürtel. Was heute sofort mit einer Anzeige wegen unerlaubten Waffenbesitzes enden würde, wurde damals ganz unproblematisch gelöst. Das Messer abnehmen? Ach was! Man schrieb das Jahr 1990! Der Ordner empfahl mir das Messer in einem Gebüsch unter Laub zu verstecken. Ich müsste mir halt nur gut die Stelle merken. Dann könnte ich es mir nach dem Spiel wieder abholen. Ich dachte, er würde mich verarschen, mich beobachten und das Messer selber einheimsen. Doch denkste, nach dem Spiel lag es tatsächlich unangetastet unter dem ausgewählten Baum.

Berlin

Also nichts wie rein in die gute Stube! Das Stadion kannte ich ja bereits vom Schülerländerspiel, doch bei Flutlicht machte das Ganze noch viel mehr her. Ich fand mich auf der Gegengerade wieder und sah unten auf dem Rasen Carlos Valderrama im Team der Weltauswahl zaubern. Von der WM war er mir selbstverständlich wohlbekannt, und seine Frisur war trotz der recht großen Distanz nun wahrlich nicht zu übersehen. Die Erinnerungen sind verblasst, ich könnte nicht mal das Endergebnis sagen. Fielen überhaupt Tore? Recht gut gefüllt schienen die Ränge. Die aktiven Hertha-Fans standen damals noch oben neben der alten Anzeigetafel. Mein Blick haftete immer wieder bei den Hertha-Fröschen & Co. Dort, wo sich die Arme erhoben und das „Ha Ho He“ angestimmt wurde. Ja, es wurde mein Schlüsselspiel. Mir wurde an jenem Abend klar, dass ich beim Fußball verdammt gut aufgehoben bin. Es müsste ja nicht gleich brachial auf die Fresse geben, wie BFC-Kumpel Witte mir in der Ausbildung so farbenfroh geschildert hatte. Nach dem Spiel holte ich das Messer ab und fuhr mit der U2 wieder zurück in Richtung Bahnhof Zoo. Ich staunte über all die Kutten und über die damals übliche Randale in den Waggons. Bambule in der U2 gehörte Anfang der 90er zum guten Ton. 

EBAG

Nun hätte man meinen können, dass ich in der Folge sogleich all die Stadien abklappern würde, doch die „Randale Totale“ in der Ausbildung forderte mich genug. Totales Chaos, und da ich mit meinem Lehrvertrag bei den Fotochemischen Werken Köpenick (ORWO) bei der EBAG am Schiffbauerdamm und am Ostbahnhof sowieso nur „Gast“ war, hing das Damoklesschwert noch lockerer als bei den anderen. „Herr Bertram, noch so ein Ding, und dann können sie die Sachen packen! Dann können die von FCW sehen, was sie mit Ihnen anstellen! Ihr Verhalten ist unter aller Sau!“ Immer wieder wurde man beim Meister vorstellig. Wie der Zufall es jedoch wollte, zog es nicht nur einen Andi Thom von Ost-Berlin an den Rhein unter das leuchtende Bayer-Kreuz. Auch manch einen Auszubildenden in den Bereichen Chemie und Elektronik köderte man in den Westen. Es herrschte Bedarf an jungen Fachkräften. Auch wenn die Jungs aus dem Wilden Osten zwar eine Menge Flausen im Kopf gehabt haben mögen, in Mathe und Naturwissenschaften wurden sie an der POS bekanntlich 1a ausgebildet. Ich hatte mir das Ganze damals in Leverkusen angeschaut - und schließlich den Vertrag unterschrieben. Für drei Jahre zog ich an den Rhein, ein wahres Fußball-Eldorado bot sich mir. Bereits nach drei Tagen besuchte ich das erste Spiel, hunderte weitere sollten folgen…

FC Berlin

Das erste Mal. Beim Sex kann das erste Mal schon mal schmerzhaft sein. Und auch beim Fußball kann es beim ersten Mal zu Überraschungen kommen. Zum Abschluss noch eine kleine Auflistung:

Mein erstes Spiel in Leverkusen: Beim Pokalspiel gegen den 1. FC Köln brannte im Gästeblock ein Wurstbude, nach dem Spiel hetzten mich ein paar Kölner den Stadtring entlang und wollten den frisch gekauften Bayer-Schal ergattern…

Mein erstes Auswärtsspiel in NRW: Bochum im September 1991. Nach dem Sieg von Bayer 04 blies BO-City zum Angriff. Links und rechts gab es Keile. Wie durch ein Wunder blieb ich verschont.

Mein erstes Spiel auf dem Bökelberg: Nun wurde der Bayer-Schal doch noch gezogen. Zum ersten Mal spürte ich (ohne triftigen Grund) den Schlagstock auf dem Rücken, als wir wie Vieh zum Bahnhof getrieben wurden.

Mein erstes Spiel mit dem F.C. Hansa Rostock: Auswärts in Köln-Müngersdorf. Mit im Gästeblock durfte beobachtet werden, wie Hansa-Fans feiern können. Einer von ihnen präsentierte sogar seine „Fleischpeitsche“ und schwenkte diese in Richtung Kölner Hools im 38er Block. Legendär!

Mein erstes Spiel beim 1. FC Union: Juni 1992 gegen den VfL Wolfsburg. Am Ende der Partie durchkämmten angereiste BFCer die Ränge. Im Pulk erkannte ich einen aus der einstigen Parallelklasse. Nur aus Spaß nahm er einen einst in den Hofpausen reihedurch in den Schwitzkasten.

Mein erstes Auswärtsspiel mit dem BFC Dynamo (damals FC Berlin): Nach dem Spiel beim FC Sachsen Leipzig im Herbst 1994 (ich saß neutral) lauerten mir draußen vor dem AKS drei Chemiker auf und hauten mir mit den Worten „Du scheiß Berliner“ mächtig eine rein. Das erste fette blaue Auge beim Fußball.

Mein erstes Spiel auf der Insel: Tottenham Hotspur vs. Sheffield Wednesday im Januar 1993. Ohne besondere Vorkommnisse, aber ich wurde vom Insel-Fiber gepackt.

Mein erstes Spiel in der Niederlande: Fliegende Leuchtkugeln, stürzende Polizeipferde und hasserfüllte Holländer beim Duell PSV Eindhoven vs. Bayer 04 Leverkusen im Herbst 1994.

Leverkusen

Mein erstes Spiel in Polen: Legia Warschau vs. Spartak Moskau im Dezember 1995. Bei gefühlten minius 35 Grad Celsius (!) drohte trotz dreifacher Kleidungsschicht einiges abzufrieren.

Mein erstes Spiel in Italien: Mit Leverkusen zu Gast beim AC Parma im Frühjahr 1995. Wir wurden des Landes verwiesen und wurden von der Polizei bis an die Grenze gebracht. Man glaubt es kaum, aber es war mein erster und letzter Besuch in diesem Land … Die volle Palette wurde stattdessen in anderen Ländern mitgenommen… ;-)

Fotos: Marco Bertram, Karsten Höft

> zu den turus-Fotostrecken: Fußball, Stadien und Fankurven

 

Artikel wurde veröffentlicht am
09 Januar 2017

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G
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Was für eine verrückte Zeit. Großartige Erlebnisse! :-)))
J
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Und das alles ist schon über ein Vierteljahrhundert her?! Ich fall ins Essen. Ich war damals ähnlich alt, nur eine Ecke älter. Noch mal 27 Jahre draufgelegt und ... nee, lassen wir das. Erinnern wir uns lieber an diese chaotische Zeit. Wir haben einige Ladas und Wartburgs im Wald zerschrotet. Nur aus Jux und Dallerei. Alles schien möglich. Im Nachinein bedaure ich nur, wie wir Ossis dem Westkonsum hinterhergehechelt sind. Mit diesen Rostkarren haben uns die Wessis ganz schön verarscht. Für einen alten Askona ganz schön was auf den Tisch gelegt. Richtig ist, Abteilung Grün bekam gut hinter die Löffel. Fußballausflüge waren herzlich. Und zärtlich.
P
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RT
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G
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