Vor 30 Jahren: Pisswetter und Muffigkeit beim Pokalfinale Hertha II vs. Leverkusen

Vor 30 Jahren: Pisswetter und Muffigkeit beim Pokalfinale Hertha II vs. Leverkusen

Zufälle gibt's! Als geborener (Ost-)Berliner zog ich im Sommer 1991 nach einem Jahr Ausbildung bei ORWO / der EBAG an den Rhein, um diese bei der Bayer AG in Leverkusen fortzusetzen. Fußballtechnisch startete ich damals voll durch und nahm alles mit, was sich bot. Während ich bei meinen Heimatausflügen schaute, was die Clubs in den östlichen Gefilden so anstellten, besuchte ich von 1991 bis 1994 sehr viele Spiele von Bayer 04 Leverkusen und fuhr auch auswärts - mitunter bis nach Eindhoven, Nantes und Parma - reichlich mit. Man darf durchaus behaupten: In NRW wurde ich fußballsozialisiert. Dort stieß ich meine Hörner ab, bekam die ersten Male im Leben die "Schwarzwurzeln" der Polizei zu spüren und sah, wie der Hase so läuft. Im Kölner Block 38, in den Gästekurven des Landes, auf der Boxwiese und in all den Sonderzügen, Sonder-Straßenbahnen und Fanbussen. Der Zufall wollte es, dass in der Saison 1992/93 im Achtelfinale des DFB-Pokals Bayer 04 auf Hertha BSC (1:0) traf. Dem nicht genug, zogen die Hertha-Bubis ins Pokalfinale ein und trafen auf die Werkself. Heimat gegen neue Wahlheimat. Folgend ein Kapitel aus meinem Buch "Zwischen den Welten", das im Herbst 2014 auf den Markt kam:

Für etwas Zirkus wollte ich auch in meinem Heimatörtchen Waldesruh vor den Toren Berlins sorgen. Auf meiner nächsten Fahrt zu meinen Eltern nahm ich gleich einen ganzen Batzen Aufkleber und ein Bündel roter Textmarker mit. Geschwängert von grenzenloser Euphorie hatte ich nichts anderes zu tun, als spät abends durch die ruhigen Straßen der Siedlung zu pilgern und sämtliche grauen Stromkästen und etliche Laternenmasten zu verschönern. Bald war an zahlreichen Stellen das Bayer-Kreuz zu sehen. Dazu immer wieder ein handgemaltes „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!“, „Leverkusen die Macht am Rhein!“ Ganz großes Kino. Zumal beim Spaziergang mit meinen Eltern ich am nächsten Tag gefragte wurde: „Sag mal, Marco, warst du das? Was soll denn dieser Scheiß?“, „Ich? Äh, nein ...“ Als wenn es in dieser Siedlung noch einen anderen Bayer-Fan geben würde. Und beim Blick auf die Handschrift stellte sich eigentlich sowieso keine Frage mehr. Mir war es egal, jeder sollte wissen, dass Bayer 04 meine Heimatstadt erobern würde – und Waldesruh gleich mit!

Zurück in Leverkusen deckte ich mich mit Eintrittskarten ein. Sicherlich wollten tausende Fußballfreunde aus der Chemie-Metropole zum Pokalfinale düsen, doch der ganze große Run blieb aus. Ohne Probleme konnte man ein paar mehr Tickets kaufen und auf ein gutes Geschäft in Berlin hoffen. Schließlich war eine Heimmannschaft am Start und der Ticketbedarf würde dort gigantisch sein. Die Zuschauerzahl beim Halbfinale gegen Chemnitz zeigte diese Tatsache mehr als deutlich an. Da es im Sommer 1993 mit meinem Berliner Schulfreund Jan nach Nordamerika gehen sollte, war ein Extra-Einnahme überaus erwünscht. Pro Ticket 50 DM – und schon war die Reisekasse gefüllt. 

Am 12. Juni 1993 war es schließlich soweit. Das DFB-Pokalfinale stand an, doch an für ein großes Fußballfest angemessenen Sonnenschein war nicht zu denken, stattdessen ließ es Petrus aus düsteren Wolken permanent nieseln. Karsten und ich hatten uns bei Kumpel Nico in Waldesruh einquartiert, überpünktlich fuhren wir mit Bus und S-Bahn in die Westberliner City. Das Dreckswetter verhagelte einen echt die Laune. An Partystimmung vor dem Europacenter war nicht zu denken. In der Kneipe „Holst am Zoo“ gab es durchaus Bedarf an Eintrittskarten, doch zum einen stimmten die Preisangebote nicht und zum anderen waren die Berliner nicht allzu heiß auf Tickets in der Leverkusener Kurve am Marathontor. „Wat willste denn haben? Für 25 nehm ick eine!“ 25 Mark? Die kostete im Vorverkauf bereits 20 DM, inklusive 20 Pfennige für die Sepp-Herberger-Stiftung. Und dazu kamen noch 10 Prozent Vorverkaufsgebühr. Der Abdruck des Stempels zeigte dies ganz klar an. Kurve West Oberrang. Block 19, Reihe 3, Platz 16. 

Wer will, wer will, wer hat noch nicht? Am Bahnhof Zoologischer Garten und auf dem Ku´damm war nichts zu machen. Die Gewinnspanne war mir einfach zu niedrig. Somit wollte ich es direkt am Olympiastadion versuchen. Dort sah es jedoch noch schlechter aus. Bei diesem miserablen Wetter kamen nur die Ticketinhaber vorbei, kaum jemand hielt Ausschau nach verfügbaren Eintrittskarten. Zudem war ich nicht der einzige, der auf die Idee kam, sich mit einem kleinen Stapel einzudecken. 

„Na, los komm! Hast du halt Pech gehabt. Wir müssen langsam ins Stadion!“, meinte Karsten. „Pech gehabt? Ich könnte kotzen. Ich habe pro Ticket 22 Mark hingelegt. Alles für nen Arsch. Totale Scheiße hier!“, erwiderte ich. Mit wirklich übelster Laune steckte ich die Tickets wieder ein und passierte die Eingangskontrolle. Der Nieselregen hatte inzwischen ein wenig nachgelassen. Die Ränge füllten sich und als das erste „Ha Ho He Hertha BSC!“ vom Wind durch das weite Rund getragen wurde, packte mich ein Kribbeln. Mist, das ist doch meine Heimatstadt! Wie könnte ich da für Leverkusen sein? Eine für mich prekäre Situation. Ich äußerte mich nicht und wollte erst einmal schauen, wie das Spiel starten würde. Wenn die Hertha-Bubis sich gleich zu Beginn paar Buden von Kirsten und Thom einfangen, dann sollte es mir auch Wurscht sein. Dann würde ich mit Bayer 04 einfach locker den Pokalsieg feiern. Doch wenn, ja wenn, die kleine Hertha dran bleibt und wirklich was gehen würde ... Und so kam es. Mit Courage gingen die Amateure in die Partie und konnten den Kasten in der ersten Halbzeit sauber halten. In der Ostkurve brannte ein Rauchtopf und langsam aber sicher war bei mir die Frage beantwortet, wer gewinnen soll. 

50. Minute, 60. Minute, 70. Minute. Noch immer stand es 0:0. Die Werkself tat sich schwer mit den tapfer kämpfenden Herthanern. Ich hoffte auf die Verlängerung, das würde zumindest aus Berliner Sicht richtig gut klingen. Und vielleicht wäre im Elfmeterschießen das Glück auf der Seite des Außenseiters. Dazu kam es jedoch nicht, Ulf Kirsten war in der 77. Minute zur Stelle und lochte zum 1:0 für den Bundesligisten ein. Ich war bedient. Karsten jubelte neben mir frenetisch, ich blieb mit versteinerter Miene sitzen. Es blieb beim 1:0 für Leverkusen. Ein Titel mit Bayer 04 – und ich konnte diesen nicht einmal richtig feiern. Und nicht nur das, ich war frustriert und wütend. Die Tickets, auf denen ich sitzen blieb. Darüber, dass die Hertha Amateure so knapp an der Sensation vorbeigeschrammt waren. 

Als die Bayer-Spieler den Pokal entgegennehmen durften, gab es im weiten Rund ein gellendes Pfeifkonzert. Das Berliner Publikum zeigte sich nicht als fairer Verlierer, sondern buhte und pfiff die Pillendreher gnadenlos aus. „Das ist echt Scheiße von den Berlinern!“, echauffierte sich Karsten später in der S-Bahn. „Mir doch schnuppe! Fahr doch nach Hause, wenn dir was nicht passt!“ Ich war geladen. An ein entspanntes Bier in einer der Berliner Kneipen oder Klubs war nicht zu denken. Sicherlich werden wir noch was getrunken haben, so genau habe ich das nicht mehr in Erinnerung, hängen blieb indes der Fußweg von der Straßenbahnhaltestelle bis zur Übernachtungsmöglichkeit bei Nico. Ich meckerte in einer Tour und ließ all meinen Emotionen freien Lauf. Auf gut Deutsch gesagt: Ich kotzte mich verbal richtig aus. Danach war Funkstille. Bis zum Frühstückskaffee. 

Anmerkung: Das Buch "Zwischen den Welten" mit vielen Anekdoten aus den 90ern ist mit Widmung beim Autor erhältlich: www.marco-bertram.de

Fotos: Marco Bertram, K. Hoeft, Schädel Lev

Stadionname:
  • Olympiastadion Berlin
Artikel wurde veröffentlicht am
13 Juni 2023
Spielergebnis:
0:1
Zuschauerzahl:
75.000

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DFB-Pokal

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Das Wetter war wirklich grässlich...
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