Hansa Rostock vs. St. Pauli: Freudentränen, geiles Spiel und heisere Stimme

Hansa Rostock vs. St. Pauli: Freudentränen, geiles Spiel und heisere Stimme

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Hand aufs Herz! Es gibt nichts Schöneres als ein Sieg gegen den FC St. Pauli! Das Gefühl, wenn dem selbsternannten Kiezklub aus Hamburg bereits nach vier Minuten einer eingeschenkt wird! Und das nicht irgendwie durch ein miesen, abgefälschten Mistball! Nein! Allein auf den Gästekeeper zulaufend - und dann rein mit der Kirsche! Kai Pröger - Fußballgott! Einfach phantastisch! Unvergessen einst die Worte von Uwe Fuchs irgendwann Anfang der 90er Jahre. Geiler als jeder Orgasmus! Wenn dem Erzrivalen eine hübsch verpasst wird - dann können die Hosen, sorry, die Augen schon mal feucht werden! 

Zugegeben, mir wurden die Augen bereits wenige Minuten zuvor feucht - und zwar beim „Hansa forever“ kurz vor dem Anpfiff, als tausende Hansa-Fans in gewohnter Manier die Schals hoben und lautstark mitsangen. Freiwillig wechselte ich beim gestrigen Spiel auf die Ränge. Genauer gesagt auf die Osttribüne. Ich legte das berufliche Korsett ab und wollte einmal meinen Emotionen freien Lauf lassen - mit 24.000 anderen Hansa-Fans das Spiel von den Rängen aus erleben. 

 

Und somit packten mich die Emotionen mit voller Kraft. Ich ließ gedanklich die letzten 32 Jahre Revue passieren, in denen ich zig hunderte Fußballspiele gesehen habe. Ich dachte an meine ersten Hansa-Spiele, die ich im Frühjahr 1992 in Leverkusen und Köln besucht hatte. Während vor mir und direkt neben mir mit leuchtenden Augen die Kids in ihren Shirts und Trikots mit leuchtenden Augen stolz ihre Schals hoben, musste ich an meine beiden Kinder denken, die ebenso für Hansa glühen, aber sicherheitshalber zu Hause bleiben mussten, weil Papa halt seinen Emotionen freien Lauf lassen und zudem vor und nach der Partie einen geübten Blick auf die Gästefans werfen wollte. 

Ich dachte ans Foto im Wälzer „Kaperfahrten“, auf dem der Große (damals 9) bei einem Heimspiel gegen den MSV Duisburg beim Blick auf die Südtribüne tränenerfüllte Augen hat. Weil es so schön war! Ich dachte an den Kleineren (aktuell 6), der am Frühstückstisch schon mal trocken raushauen kann, dass St. Pauli ausgerottet werden muss. Okay, okay, über die Wortwahl sprachen wir dann ein bisschen. Aber wirklich nur ein bisschen. Es glüht und brennt nun mal im Innern, wenn wir allesamt an den FC St. Pauli denken. Aus Hansa-Sicht geht es einfach nicht schlimmer, was im Rostocker Ostseestadion die Visitenkarte abgeben kann. Und das seit nun mehr 30 Jahren. 

 

Am achten Spieltag der Zweitligasaison 1992/93 kam es zum ersten Aufeinandertreffen am Millerntor. Mit 2:0 konnte der F.C. Hansa Rostock am Abend des 12. August 1992 das Duell für sich entscheiden. Jens Dowe und Heiko März ließen die mitgereisten Hansa-Fans jubeln. Sieg oder Niederlage. Dazwischen gibt es im wahrsten Sinne des Wortes nichts. Vor der gestrigen Partie gab es bereits 20 Begegnungen zwischen Hansa Rostock und dem Hamburger Stadtteilverein. 11-mal konnte Rostock, 9-mal konnte St. Pauli gewinnen. Unentschieden waren bislang klare Fehlanzeige.

Alles oder nichts. Wie beim legendären Erstligaspiel am 23. September 1995, als die Vereinslegenden Steffen Beinlich und Steffen Baumgart die beiden Treffer erzielten. St. Pauli-Torwart Klaus Thomforde kamen damals die Tränen, Uli Maslo sprang im Dreieck - einen geforderten Spielabbruch gab es jedoch nicht. Aus der späteren Strafe, das Heimspiel gegen Frankfurt in Berlin austragen zu müssen, wurde letztendlich ein Geschenk. Aber gut, diese Geschichten kennen wir alle schon. Wenden wir uns dem gestrigen Spiel zu. 

Die Sonne färbte den Horizont zaghaft rot, als ich um 4:30 Uhr aus der Koje sprang, eine schwarze Jacke überzog und zur U-Bahn stiefelte. Überpünktlich fuhr ich nach Oranienburg, wo aufgrund von Bauarbeiten der Regionalexpress nach Rostock einsetzte. Zwei Riegel und einen Oranienburger Kaffee später ging es in bester Gesellschaft mit der Bahn gen Küste. Bei lauter Musik verging die Zeit wie im Fluge, um halb zehn konnte am Rostocker Hauptbahnhof schließlich ein Stück Kuchen reingehauen und ein Dosenbier runtergekippt werden. Das Gelände vor dem Hintereingang wurde inspiziert, gegen elf sollten die St. Pauli-Fans mit einem Entlastungszug eintreffen. 

 

Die Aufregung hielt sich allerdings in Grenzen. Die Ankunft des Zuges erinnerte ein wenig an eine Kaffeefahrt, eher gemächlich purzelten die in Weiß gekleideten Gästefans aus den Waggons, und die Pfandflaschensammler gingen fix ihrer Arbeit nach. Ein Großteil der auf dem Bahnsteig stehenden Polizisten ließen ihre Helme unten, problemlos wurden die Hamburger Zugfahrer zum Sammelplatz vor dem Bahnhof gebracht. An den angekündigten Fanmarsch war wahrlich nicht zu denken. Bereitwillig stieg der erste Schub Gästefans in die Busse ein, und recht rasch wurden die ersten zwei Vehikel gen Ostseestadion gekutscht. Da gab es in den letzten 30 Jahren wahrlich schon ganz andere Ankünfte von Gästemobs.

 

Ebenso nach nicht ganz voller Kapelle schaute es im Gästeblock aus. Die erkennbaren Lücken am Rande des Gästeblocks wurde im späteren Verlauf der Partie auf der Südtribüne mit einem Spruchband kommentiert: „Trotzdem sich jeder zweite Zeckenverein für Euch bückt, gingen 500 Karten an uns zurück!“ Optisch sollte sich der Gästeblock auch nicht großartig abheben. Sowohl bei den Gäste-, als auch bei den Heimfans wurden zahlreiche weiße T-Shirts getragen. „Einmal Arschloch, immer Arschloch“, hieß es auf der Rückseite der auf Heimseite verkauften Motto-Shirts. Dazu das zerbrochene Wappen des FC St. Pauli. 

 

Nachdem eine Viertelstunde vor Spielbeginn der Onkelz-Song „Auf gute Freunde“ die Zuschauer auf den Rängen verzückte und zum Mitsingen animierte, wurde wie eingangs erwähnt mit dem „Hansa forever“ die Betriebstemperatur erreicht. Während es im Gästeblock ein wenig kokelte, wurde auf der Südtribüne eine große Blockfahne hochgezogen. „F.C. Hansa Rostock - wir kriegen nie genug!“ Zwei, drei Minuten blieb die Fahne über den Köpfen - und somit hätte man dort fast den frühen Führungstreffer verpasst. Es wurde ein Spielbeginn wie aus dem perfekten Drehbuch. Die Gäste kriegten nix auf die Ketten, und Hansa war von Beginn an voll bei der Sache. In der eigenen Hälfte eroberte Dennis Dressel den Ball und schickte daraufhin Kai Pröger auf die Reise. Routiniert schob dieser den Ball vorbei an Dennis Smarsch rechts unten in die Maschen. 1:0 für Hansa - der anschließende Jubelorkan war gewiss bis zum Teepott in Warnemünde zu vernehmen.

 

Nach der wenig erbaulichen Leistung in Darmstadt trauten die Hansa-Fans ihren Augen kaum. Hansa machte St. Pauli rund, und nur wenige Minuten nach der 1:0-Führung setzte Sébastian Thill den Ball an den linken Pfosten. Attacke! Rostock blieb am Drücker! Nach einer Viertelstunde kam das Glanzstück der gestrigen Partie. Thill spielte Pröger an, dieser flankte von der rechten Außenbahn zu John Verhoek - und dieser setzte per Fallrückzieher mustergültig das Leder zum 2:0 in die Maschen. Das war fast zu schön um wahr zu sein. Alter Schwede! Da wurden die Augen erneut ganz feucht. Direkt neben mir wurde im Block 9 / 9A gut Alarm gemacht, die erwähnten Kids standen wie die Großen mit gebannten Augen an den Geländern, und unten auf dem Rasen machte Kai Pröger fast seine zweite Bude. Von schräg links verzog er und der Schuss ging über das Gehäuse. Neben mir verschluckte sich ein älterer Mann vor lauter Freude fast an seinem Bierchen.

 

Es fühlte sich an wie in einem englischen Stadion der 90er Jahre. Kurz hinsetzen - dann wieder bei der nächsten guten Aktion aufstehen und die Fäuste ballen. „Scheiß St. Pauli! Scheiß St. Pauli!“ Boah, das Herz hatte gut zu pumpen. Und auch in der zweiten Halbzeit ließ Hansa Rostock nix anbrennen und war dem 3:0 eindeutig näher als die Gäste dem Anschlusstreffer. Auf der Südtribüne wurden nun die Spruchbänder präsentiert, die in den sozialen Netzwerken für reichlich Diskussionen sorgten. Der Aufschrei war groß und auch der DFB ermittelt wieder einmal. „Der Verein ohne Titel. Das wird sich nie ändern. Statt Stern auf dem Trikot nur Meisterinnen im Gendern.“ „Euer Genderscheiß interessiert in Wolgast keine Sau! Hier gibt es nur Jungs, Mädchen, Mann und Frau!“ Angespielt wurde hierbei das auf den Trikots getragene Gender-Sternchen beim letzten Heimspiel des FC St. Pauli. Zwei Hansa-Fans legten am Rande der Südtribüne mit einem „Schwule bekommen keinen Nachwuchs!“ nach. Vor allem dieses spontan besprühte Spruchband schien eher eine Einzelaktion gewesen zu sein.

 

Nun wurde ich am heutigen Tag bereits mit Nachrichten bombardiert - und manch ein Freund und Feind war bereits gespannt, was ich wohl zu den Spruchbändern sagen würde. Was wohl? Ich nutze in der deutschen Sprache keine Gender-Sternchen - und werde dies nie tun. Zum Gendersternchen auf dem Trikot, der im Frühjahr freiwilligen 2G-Regel am Millerntor und zum gesamten FC St. Pauli fehlen mir sowieso die Worte. Lasst sie einfach machen. Hauptsache sie werden auf dem Rasen sportlich geschlagen! Sehr unglücklich indes war das Aufhängen des Lichtenhagen-Banners mit der Sonnenblume am Rande der Süd zum Gästeblock hin. Ich mag Provokationen - ich mag es auch mal derb, doch ist die Lichtenhagen-Thematik schlichtweg zu traurig, zu heiß und zu brisant. Allerdings fehlt mir der Einblick, wie alt diese Fahne ist, mit welcher Intention diese dort aufgehängt wurde und wer überhaupt auf der Südtribüne davon wusste. 

 

In der medialen Debatte leider völlig unter ging indes das Verhalten mancher St. Pauli-Fans zum Ende der Partie hin. Mit einem lautstarken „Nazischweine!“ brachte der Gästeblock, nachdem die Niederlage ziemlich sicher schien, Schwung ins Ganze und brachte vor allem zahlreiche Hansa-Fans auf der Osttribüne in Wallung. Völlig sinnfrei wurden am Ende der Partie mehrmals Leuchtkugeln in Richtung Südtribüne geschossen. Hierbei soll niemand meinen, dass diese allesamt in der Luft oder irgendwo am Dach verpufften. Mindestens eine schlug nahe des Capo-Podests ein. Auf der Südtribüne hielt man indes - auch wenn es manch einem sicherlich verdammt schwer fiel - die Füße still und wollte sich nicht provozieren lassen. 

 

Zu lautstarken Pöbeleien kam es nach Abpfiff noch an der Pufferzone zwischen Gästeblock und Osttribüne, doch gab es nichts Außergewöhnliches zu vermelden. Man zeigte sich gegenseitig, wie „verdammt lieb“ man sich hat - und das war’s dann auch schon. Ohne nennenswerte Ausschreitungen ging der Tag vorüber. Erstaunlich war indes, wie auf dem Vorplatz des Rostocker Hauptbahnhofs zur Altstadt hin ein einzelner St. Paulianer schmerzfrei zu einem Imbiss tingelte und somit den „Gitarrenkoffer“ (Stichwort Desperado) öffnen ließ. Ein Wunder, dass er wenig später den Weg zurück zum Bahnsteig fand. Ausgelaugt, aber glücklich traf die Berliner Hansa-Fraktion am Abend wieder in der Hauptstadt ein und ließ den Tag bei zwei, drei Bierchen und Kirschlikör gesellig ausklingen. 

 

Noch wat? Noch wat! Band II von „Kaperfahrten“ ist bereits in Arbeit und geht zeitlich noch weiter zurück als Band I. Wer mich bei der Arbeit unterstützen möchte, der kann dies in Form des Kaufs eines meiner Bücher gerne tun. Wer „Kaperfahrten - Mit der Kogge durch stürmische See“ bereits sein Eigen nennt, dem würde ich unter anderen meinen Fußballroman über Vorwärts Berlin / Frankfurt (Oder) empfehlen: www.marco-bertram.de/buecher. Dank sagen möchte ich an dieser Stelle all den Hansa-Fans, mit denen ich - auch bei den Hansa Amateruen - unterwegs bin und mit denen ich eine verdammt geile Zeit verbringe. Immer mehr wird mir klar, dass ich endlich nach so vielen Jahren meinen Heimathafen erreicht habe. Ahu!

Apropos, meine Stimme ist heute total im Arsch ... *Zwinkersmiley*

Fotos: Marco Bertram, Heiko Neubert (1992 und 1993)

> zur turus-Fotostrecke: F.C. Hansa Rostock

> zur turus-Fotostrecke: FC St. Pauli

 

Artikel wurde veröffentlicht am
23 August 2022
Spielergebnis:
2:0
Zuschauerzahl:
26.000
Gästefans
2000

Ligen

Inhalt über Liga
2. Bundesliga

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G
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Auch meinen Senf...
...würde ich gern dazu geben.
Zunächst gefällt mir der Spieltagsbericht des Autors sehr. Umfässt er doch die erwähnenswerten Ereignisse gut.

So oder so bleibt Hansa - Pauli immer ein Spiel bei dem es im Grunde mindestens nebensächlich nicht nur um Fußball geht. Nicht zuletzt sorgen alle Beteiligten dafür. Was die jeweiligen Anhänger von ihrem Verein erwarten, ist gerade bei dieser Partie maximal unterschiedlich und das ist ok so. Wie langweilig wäre das alles, wenn wir alle einer Meinung wären.

Und trotzdem: bleibt für mich als wirklich fader Beigeschmack das Lichtenhagenbanner. Völlig unabhängig davon, wie alt oder mit welchem Stellenwert ein Banner oder Zaunfahne aufgehangen wird. Dadurch, dass es aufgehängt wird, wird eine Aussage erzielt. Deswegen hängt beispielsweise Hammer und Sichel bei fast jeder wichtigen Westfahrt im Gästesektor. Und auch das Lichtenhagenbanner wurde aufgehängt, um eine Wirkung zu erzielen. Wie vom Autor richtig geschrieben mit einer zu hohen Brisanz und Aktualität.

Trotzdessen war's sportlich super wichtig und natürlich geil anzusehen.

Grüße gehen raus.
O
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Moin Leute,

Ich versteh aber nicht, warum die gestrige Leistung im Wildpark so unterirdisch war...
O
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ernsthaft
wer die Onkelz als Stadionmusik nutzt...
DK
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Der gestörte "Gast" ist wieder zu Gast hier auf großer Bühne. Was für ein dämlicher Troll. Vergiss dich!
J
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Dass BFC Biffze Bertram auch die braune Kogge unterstützt, ist kein Wunder... Die Queer Feindlichen und Homophoben Plakate im Hansa Block ist natürlich keine kritische Erwähnung wert. Warum denn auch? BFC und Hansa Fan, da sind solche Nebensächlichkeiten doch egal....zum Kotzen diese Verharmlosung....
G
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G
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Tiptop
G
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