Stillgestanden! Geschichte wurde geschrieben! Hansa Rostock gewinnt 4:1 in Dresden!

Stillgestanden! Geschichte wurde geschrieben! Hansa Rostock gewinnt 4:1 in Dresden!

„Achtung! Stillgestanden!“ Samstag, 21. Mai 1983. Wie damals üblich gab es auch am Samstagvormittag Schulunterricht. Deutsch, Mathe, Heimatkunde und Sport. Ich ging damals in Ost-Berlin in die 3. Klasse der 10. POS „Helene Weigel“, und in der Unterstufe war beim Turnen / Sport die Kleiderordnung noch recht streng. Kurze grüne Hose und dazu ein ärmelloses weinrotes Shirt (wie nannte man das eigentlich?). Später wurde das Ganze nicht mehr so streng gesehen, und jeder nahm seine Klamotten der Wahl im muffigen Turnbeutel zum Sportunterricht mit. „Zur Meldung für den Sportunterricht bei Herrn Kustack die Augen links!“ Ein Schüler machte die Meldung und nannte die abwesenden Klassenkameraden. Im Anschluss übernahm der Lehrer: „Klasse 3a stillgestanden! Die Augen geradeaus! - Klasse 3a rührt euch!“ Das Wetter war dem Frühling angemessen, und nach einer Runde um das Schulgelände durften die Jungs auf dem grauen Ascheplatz eine Runde Fußball bolzen.

Am Nachmittag wollten ein, zwei Kumpels mit ihren Eltern zum BFC gehen, der gegen den FC Karl-Marx-Stadt antrat. Die Jungs, die es mit Union hielten, kamen an jenem 21. Mai 1983 nicht in den Genuss eines Heimspiel in der Alten Försterei, die Eisernen traten um 15 Uhr beim 1. FC Lok Leipzig an. Zeitgleich empfing im Dynamostadion die SG Dynamo Dresden den F.C. Hansa Rostock. Ich hatte damals vom DDR-Oberligafußball keinen Blassen, und ich werde an jenem Samstagnachmittag in den Wäldern bei Heidemühle und Münchehofe vor den Toren Ost-Berlins rumgeturnt sein. Jedoch dürfte es die Zeit gewesen sein, als ich das berühmte Kinderbuch „Eine Reise nach Sundevit“ von Benno Pludra gelesen hatte. Ich fraß dieses Buch regelrecht auf und malte mir in Gedanken das Dorf Möwenort und den Leuchtturm aus. Wie Tim wollte auch ich mit dem Fahrrad gen Küste radeln, dem warmen Gegenwind trotzen und die Pflaumen- und Apfelbäume am Rande der buckligen Straße vorbeiziehen sehen. 

 

Sundevit! Das war für mich der Inbegriff für Sehnsucht. Und während ich am Nachmittag des 21. Mai 1983 durch die Wälder und über die Felder zog und von späteren Expeditionen ans Meer träumte, schrieb 250 Kilometer weiter südlich der F.C. Hansa Rostock Geschichte. 21.000 Zuschauer wurden damals Zeuge, wie Axel Schulz nach exakt einer Viertelstunde das 1:0 für die Männer mit der Kogge auf der Brust erzielte. Nur zwei Minuten später konnte Ralf Minge für die SGD ausgleichen, doch weitere vier Minuten später brachte Christian Radtke den FCH wieder in Front. In der 67. und 74. Minuten konnten Andreas Zachhuber und Frank Rillich nachlegen. Mit 4:1 konnte Hansa das Duell der Tabellennachbarn für sich entscheiden. Es war der erste Rostocker Sieg in Dresden seit dem 16. März 1968, als Gerd Kostmann in der 86. Minute den Treffer des Tages erzielen konnte. Wer hätte im Frühjahr 1983 ahnen können, dass es 39 lange Jahre dauern würde, bis Rostock in Dresden den nächsten Sieg einfahren würde?!

Viel Wasser flossen die Elbe und die Warnow hinunter. Inzwischen durfte ich feststellen, dass es dieses geliebte Sundevit nur in der Fiktion gab, doch wurden die Ostseeküste und die gesamte Region immer mehr zu großen Liebe. Apropos Liebe. Bekanntlich gab es einst zwischen den Anhängern von Dynamo Dresden und Hansa Rostock ein recht gutes Verhältnis, doch wurde dieses am 4. November 1988 getrübt. Der F.C. Hansa musste sich am Freitagabend mit 0:5 geschlagen geben, im Gegenzug erbeuteten einige Hansa-Fans diverse Dynamo-Utensilien. Allerdings konnten Anfang und Mitte der 1990er durchaus einzelne Dresdener bzw. Rostocker im Gästeblock gesichtet werden, wenn Dynamo bzw. Hansa auswärts in der 1. Bundesliga antraten. Ein Stückweit hielt der Osten zusammen. Später waren die Begegnungen zunehmend von gepflegtem Hass geprägt. 

 

Trotz abgrundtiefer Abneigung gibt es dann aber doch immer wieder Momente, in denen man dem Gegner nicht das Allerschlechteste wünscht. Steigt der andere auf, kann schon mal stillschweigend innerlich der Kopf genickt werden. Gut für die Region, gut für den Osten. Respekt. Und so soll es auch einige Dynamo-Fans gegeben haben, die sich am 23. Mai 2015 innerlich gefreut haben, dass Hansa Rostock nicht absteigen musste. Nach der 1:2-Niederlage in Dresden konnte Hansa aus eigener Kraft nicht mehr die Klasse in der 3. Liga halten, doch hatte sich in der Ferne der FC Rot-Weiß Erfurt, für den es um nichts mehr ging, gerade gemacht und die SpVgg Unterhaching mit 1:0 bezwungen. Das Gefühl im Innenraum werde ich niemals vergessen. Blanke Angst. Der stete bange Blick aufs Handy. Was macht Erfurt? Welch eine Erlösung, als der Klassenerhalt geschafft war! Ein Freund und ich legten mal gleich eine Woche Urlaub im polnischen Riesengebirge nach. Hoch die Kannen!

Hoch emotional wurde es auch am 19. März 2016. Zweimal konnte die SGD in Führung gehen, zweimal konnte Hansa ausgleichen. Welch ein brachialer Jubel, nachdem Maximilian Ahlschwede in der 90. Minuten das Tor zum 2:2 -Ausgleich klarmachen konnte. Die Videos vom damaligen Jubel kursierten aktuell wieder in den sozialen Netzwerken. Geballte Faust und Freudentränen in den Augen. War das irre!

 

In jüngerer Vergangenheit waren die Spiele gegen die SG Dynamo Dresden meist arg ernüchternd.  Zweimal musste man sich im heimischen Ostseestadion mit 1:3 geschlagen geben, auswärts gab es am 4. April 2021 immerhin ein torloses Remis als Achtungserfolg. Es wurde einfach mal Zeit, wieder Geschichte zu schreiben. Nicht nur ein Achtungserfolg! Drei Punkte mussten her! Wann, wenn nicht jetzt?! Die Neuzugänge ließen die blau-weiß-rote Anhängerschaft durchaus positiv in die nahe Zukunft blicken. Nils Gustav Georg Fröling kam von Kalmar FF zu Hansa, aus Donezk wurde der junge ukrainische Nationalspieler Danylo Sikan ausgeborgt. Ich hatte mich mal gleich aus dem Fenster gelehnt und in einer Dresden-Facebook-Gruppe angekündigt, dass Sikan die SGD weghauen würde. 

Die Aufregung stieg, und um mich mental vorzubereiten, schaute ich mir im Netz alte Videos an. So ist auf YouTube eine hübsche Zusammenfassung vom Duell SG Dynamo vs. F.C. Hansa vom 31. August 1985 zu finden. In der 41. Minute zeigte Schiedsrichter Hans-Jürgen Bußhardt nach einem Foul auf den Elfmeterpunkt, und hinter den ORWO-, Germed- und Pneumant-Werbebanden jubelten die Dynamo-Fans. Reinhard Häfner trat an und machte das 1:0 für Dresden. Kurz nach der Pause machte der noch junge Ulf Kirsten mit dem Kopf das 2:0. In der 52. Minute hatte Rainer Jarohs die passende Antwort parat, erzielte nach klasse Einzelleistung den 1:2-Anschlusstreffer, und der zu hörende Jubel deutet darauf hin, dass recht viele Hansa-Fans vor Ort waren. Axel Schulz hatte den Ausgleich bereits auf dem Fuß, doch Dynamo-Keeper Bernd Jakubowski war auf dem Posten. Hinter der Neukloster-Zaunfahne hatten die Hansa-Fans bereits zum Torjubel angesetzt. In der 72. Minute durften jedoch erneut die Dynamo-Fans wieder jubeln, Ralf Minge hatte das 3:1 mit dem Kopf gemacht. 

Die Schlussphase hatte es in sich. In der 81. Minute nahm Juri Schlünz aus beachtlicher Distanz Maß und brachte den Ball platziert links unten unter. Der Zeigefinger ging nach oben - da ging noch was. Hansa musste öffnen, im Gegenzug machte Ralf Minge wieder mit dem Kopf das 4:2. Aufgeben? Aber nicht doch! In der 88. Minute spielte Gernot Alms rüber zu Rainer Jarohs, und dieser schob zum 3:4 aus Sicht der Rostocker ein. Der Ausgleichstreffer wollte jedoch nicht mehr fallen, der Großteil der 25.000 Zuschauer feierte den Heimsieg und Rang eins nach dem dritten Spieltag vor dem BFC Dynamo und dem 1. FC Lok Leipzig.

 

Nun aber zur Gegenwart! Gefangen in der häuslichen Quarantäne blieb mir nur der Blick aufs Handy. Keine Sause mit den Amateuren nach Ludwigsfelde, keine Fahrt nach Sachsen und auch kein gemeinschaftliches Gucken in der Kneipe des Vertrauens. Hansa-App an und abwarten. Wobei nicht lange gewartet werden musste. Noch bevor in der App der erste Treffer gemeldet wurde, klingelte es 13:36 Uhr bei WhatsApp. „Okidoki. 1:0“. - Ich fragte nach: „Wer 1:0?“ - „Rostock vs Dresden 2:0“, hieß es um 13:39 Uhr. Irre! In der sechsten Minute machte John Verhoek nach geiler Hereingabe per Kopfball das 1:0, nur vier Minuten später war Neuzugang Nils Fröling zur Stelle und machte aus kurzer Distanz mit dem Kopf das 2:0 für Rostock klar. 

 

Und das Spiel ging weiter. Mein Kumpel Andi blieb die allererste Informationsquelle. 13:42 Uhr: „3:0. Alter“. 13:48 Uhr: „0:4. Hahahaha. Übel. *Swinkersmilie*“. Zu krass! Mit kleiner Verzögerung brachte die Hansa-App die Meldungen zu den nächsten beiden Treffern. In der 13. Minute konnte Fröling im Nachsetzen das 3:0 klarmachen, weitere fünf Minuten später war nochmals John Verhoek zur Stelle und machte ebenso einen weiteren Kopfballtreffer. 4:0 für den F.C. Hansa Rostock nach 18 Minuten. Noch nie zuvor lag Dynamo Dresden in einem Pflichtspiel nach 18 Minuten mit 0:4 zurück. Es tauchte allerdings die Frage auf, ob Dresden schon mal mit 4:0 geführt hatte. Und ja, am 5. September 1981 führte Dynamo Dresden gegen die BSG Chemie Buna Schkopau nach exakt 18 Minuten mit 4:0. Der damalige Endstand lautete 10:1. Die jüngst verstorbene SGD-Vereinslegende Dixie Dörner steuerte damals das Tor zum Stand von 8:0 bei. 

 

Mit 1:10 wollte sich Dresden gegen Rostock allerdings nicht geschlagen geben. Das war so oder so bereits alles bitter genug. Rostock nahm etwas Tempo raus, und Dresden kam etwas besser in die Partie. In der 33. Minute prüfte Oliver Batista Meier den Hansa-Schlussmann Markus Kolke mit einem satten Schuss, kurz nach der Pause setzte der eingewechselte Sebastian Mai einen Kopfball an den Querbalken. Dresden machte nun Druck, und in der 63. Minute haute Julius Kade aus beachtlicher Distanz den Ball zum 1:4 in die Maschen. Ein Blick auf die Uhr in den heimischen vier Wänden. Eine halbe Stunde noch. Jetzt nur nicht blamieren und die satte Führung verspielen. 

 

Andi per WhatsApp und die Hansa-App hatten allerdings keine weiteren Tor zu vermelden. Es blieb beim 4:1 für den F.C. Hansa Rostock, und die rund 500 Hansa-Fans im Gästeblock und die einzelnen Hansa-Fans im Heimbereich wussten den historischen Auswärtssieg zu feiern. Welch eine Erlösung! Was für drei wichtige Punkte! Hansa zog mit Hannover 96 und Dynamo Dresden gleich und kletterte auf Rang 12. Mit solch einem Sieg kann nun mit breiter Brust am Freitagabend im Ostseestadion gegen den SV Werder Bremen angetreten werden. Nach meiner Quarantäne ruft es regelrecht nach einer Auswärtssause am 20. Februar nach Darmstadt! Vielleicht geht es aber auch am gleichen Tag mit den beiden Kindern zum Oberliga-Duell Hertha Zehlendorf vs. Hansa Rostock Amateure. :-)

 

Blau-weiß-rote Liebesgrüße aus Moskau: Yuri nahm den 512-seitigen Wälzer „Kaperfahrten - Mit der Kogge durch stürmische See“ mit auf den Roten Platz. Ein Zeichen der Völkerfreundschaft quasi. Geschichte wurde geschrieben - Geschichte wird geschrieben. Nachdem Ende 2020 das Buch auf den Markt kam, starten nun die Vorbereitungen für Kaperfahrten II, das im Spätherbst dieses Jahres erscheinen dürfte. Der Aufstieg, die laufende Saison 2021/22 und der 4:1-Sieg in Dresden - all dies wird hinein kommen. Wer noch Interesse am ersten Teil hat, sollte fix zugreifen. Infos und Bestellmöglichkeit auf www.marco-bertram.de

Fotos: Heiko Baumann, Stephan, Aumi, Ulf Lange, Marco Bertram, Yuri

> zur turus-Fotostrecke: F.C. Hansa Rostock

Artikel wurde veröffentlicht am
07 Februar 2022
Spielergebnis:
1:4
Zuschauerzahl:
10.000
Gästefans
500

Ligen

Inhalt über Liga
3. Liga

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3 Punkte gegen Bremen
Jetzt mit einem Sieg gegen Werder nachlegen!
G
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Wann kommt eigentlich Teil 2 von Kaperfahrten?
T
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A
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G
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Eine wunderschöner Rückblick ins Jahr 1983.
Das waren die guten alten Zeiten in der Oberliga und ich war damals ein Fan von FC Carl Zeiss Jena in einer Klasse mit ausschließlich Rot Weiß Erfurt Fan’s.?
Mit den Umzug nach Rostock im Jahre 1989 war schnell klar, nur der FCH ! Ich bin ein stolzes Hansa Mitglied! ?
I
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HA
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Wahnsinns-Show
Was für eine erbärmliche Vorstellung seitens Dresden, Rostock wie im Rausch. AHUUUUUU!
R
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