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Familiäre Atmosphäre bei Blau-Weiß 90 Berlin und Erinnerungen an 1991/92

Diese Wehmut vergisst man nie. Wie oft hatte ich in meinem Doppelzimmer im Ausbildungswohnheim in Leverkusen-Schlebusch in der Saison 1991/92 den Statistikteil der Sportbild studiert?! Immer wieder Mittwochs kam die Erinnerung… Nach der turbulenten Wendezeit und einem chaotischen ersten Lehrjahr in Ost-Berlin ging ich Anfang September 1991 nach Leverkusen, um im großen Chemiewerk meine Ausbildung fortzusetzen. Ich war frische 18 Jahre alt, unternehmungslustig, reisefreudig, offen für alles und fühlte mich im Rheinland pudelwohl. Ich bediente mich auf Anhieb vom reich gedeckten Fußballtisch und kostete mich voll durch. Ich fand rasch Freunde und Kumpels und ließ kaum eine Gelegenheit aus, richtig Spaß zu haben und an der Uhr zu drehen.

In ruhigen Stunden nagte dann jedoch das Heimweh in mir. Es fühlte sich komisch an, dass das Heimatland nicht mehr existierte. Bei aller Freude über das vereinte Berlin und das vereinte Deutschland gab es auch Momente, in denen ich mich arg orientierungslos fühlte. In der Ferne fehlten mir die Freunde von der Polytechnischen Oberschule, es fehlte ein stückweit die Geborgenheit, es fehlte das Heimatgefühl. Im November bei 2 Grad plus und permanentem Nieselregen im 208er Bus zu sitzen und in der Ferne das riesige leuchtende Bayerkreuz und die aufsteigenden Dämpfe zu sehen, fühlte sich morgens um sechs dann doch mitunter sehr schräg und verstörend an. 

Beim besagten Blick in die Sportzeitung schaute ich, was der Fußball in der Heimatstadt machte und wie der Stand der Dinge war. Ich saugte jegliche Informationen auf und ließ das Kopfkino rattern. Ich versuchte mir vorzustellen, wie die Spiele des FC Berlin (BFC Dynamo) und des 1. FC Union Berlin in den Oberligastaffeln Nord und Mitte wohl abliefen. Auswärts bei FSV PCK Schwedt, Hafen Rostock, Motor Eberswalde und Bergmann-Borsig Berlin. Daheim gegen Thale 04, FSV Velten 1990, Anhalt Dessau und NSC Marathon 02. Verrückt, dass die Weinroten (nun aber auch Rot-Weiß und mit einem Brandenburger Tor auf der Brust) und die Eisernen nicht mal gemeinsam in einer Staffel spielten. In Kicker und Sportbild waren die Oberligen ja auch nicht wirklich präsent, es blieb beim Blick auf die nüchternen Tabellen und beim Kopfkino.

Etwas mehr Infos bekam man logischerweise aus der 2. Bundesliga, wenngleich diese vor knapp drei Jahrzehnten bei weitem nicht den Stellenwert hatte wie in der Gegenwart. Wat machen eigentlich die Ickes? Immer wieder wurde ich in der Ausbildungsklasse von all den Effzeh- und Bayer-Fans ausgefragt. Wie heißt die einzige europäische Hauptstadt, die keinen Erstligisten hat? Ha ha, sehr lustig! Hertha BSC war nach einem einjährigen Abenteuer gleich wieder runter, zudem war da noch die Sp.Vg. Blau-Weiß 90 Berlin, die immerhin 1986/87 auch ein Stelldichein im Fußballoberhaus gab. Ich schaute, was beide Vereine machten. Ich war zu jener Zeit offen für alles und wollte einfach nur, dass meine nun vereinte Heimatstadt kein Trauerbild abgab. Bei Hertha BSC hatte ich bereits drei-, viermal vorbeigeschaut, zu Blau-Weiß 90 hatte ich es indes noch nicht geschafft.

Beim nächsten Heimatausflug nach Berlin müsse es endlich mal klappen, sagte ich mir. Jedoch wurde es dann doch wieder eine Kumpeltour in die angesagten Klubs in Mitte und Prenzelberg oder ein Abstecher zu den Eisbären in Berlin-Hohenschönhausen. Blau-Weiß 90 würde ja nicht wegrennen, das ließe sich jederzeit nachholen. Und vielleicht, ja vielleicht, würden die Blau-Weißen den Sprung nach oben schaffen. Am 14. September 1991 gewannen die Berliner mit 1:0 gegen den FC Bayer 05 Uerdingen und blieben somit in der Nordstaffel oben dran. Ein wenig irritierte mich jedoch die Zuschauerzahl. Ganze 2.005 zahlende Fußballfreunde verloren sich im Berliner Olympiastadion. Aber okay, später musste ich feststellen, dass bei Hertha auch mitunter nur 3.500 Zuschauer ins weite Runde kamen, wenn es mal wieder richtig bitter lief und Mainz 05 an einem Mittwochabend bei Nieselregen zu Gast war.

Ich behielt die Sp.Vg. Blau-Weiß 90 im Auge. Enttäuscht zeigte ich mich, als das wichtige Auswärtsspiel beim SV Meppen mit 1:2 vergeigt wurde. Meppen! Gummistiefel! Neee, oder?! Jambo hatte die Berliner in der 50. Minute vor 5.000 Zuschauern im Hindenburgstadion in Führung gebracht, Bujan erzielte in der 77. Minute den Ausgleichstreffer für die Emsländer. Und dann auch noch das! In der 88. Minute schoss Dlugajczyk das 2:1 für Meppen! Das war es dann wohl mit dem Aufstieg. Der Rückstand auf Tabellenführer Bayer 05 Uerdingen betrug bereits fünf Punkte. Man bedenke, dass es damals noch die Zweipunkteregelung gab! Am 21. Spieltag waren es dann bereits zehn Punkte Rückstand. Nun ging es allein um den Klassenerhalt. Während Hertha BSC es noch packte, in der folgenden Aufstiegsrunde der Staffel Nord mitzuspielen, musste Blau-Weiß 90 mit der Abstiegsrunde vorliebnehmen. Stahl Brandenburg und Fortuna Köln waren ganz unten die direkten Konkurrenten. Das müsste doch aber klappen, oder nicht?! 

Nach Punkten hätte es das auch. Zwar startete Fortuna Köln einen finalen Spurt und ließ plötzlich Stahl Brandenburg hinter sich, doch bei Blau-Weiß 90 drückte arg der finanzielle Schuh. Bitter! Das letzte Zweitligaspiel konnten die Blau-Weißen mit 1:0 bei Fortuna Köln im Südstadion gewinnen. Rainer Rauffmann erzielte am 17. Mai 1992 vor 800 Zuschauern in der 57. Minute den Treffer des Tages.  So, nun ran an die anstehende Relegation! Pustekuchen! Fortuna Köln rückte nach und konnte diese erfolgreich gegen den TSV 1860 München und den TSV Havelse bestreiten. Bei der Sp.Vg. Blau-Weiß 90 Berlin gingen indes die Lichter aus. Der DFB verweigerte dem Verein die Lizenz für die kommende Zweitligasaison 1992/93. Der Grund: Der Schuldenstand von über einer Million DM. 

Blau-Weiß 90 Berlin hatte es nach der Wende sehr schwer, sich zu behaupten. Eine Gerüstbaufirma, die sowohl Hertha als auch Blau-Weiß 90 finanziell unterstützte, setzte fortan mehr auf die Alte Dame. Zudem sanken bei Blau-Weiß die Zuschauerzahlen rapide. Kamen vor dem Fall der Berliner Mauer noch 6.820 Zuschauer im Schnitt zu den Heimspielen in der 2. Bundesliga, so lag die Zahl in der Saison 1991/92 nur noch bei 2.355. Verpufft war der positive Effekt, als Blau-Weiß 90 mit dem Aufstieg in die erste Liga am Ende der Saison 1985/86 für Furore gesorgt hatte. „Wir sind heiß auf Blau-Weiß…“ hieß der damalige Hit. 

Gänsehaut! Am 23. August 1986 fuhren die Blau-Weißen vor 33.000 Zuschauern gegen Borussia Mönchengladbach den ersten Saisonsieg ein! Nach 1:2-Rückstand erzielte „Kalle“ Riedle in der 81. und in der 90. Minute noch zwei Treffer! Tja, und der Stadtrivale Hertha BSC spielte in jener Saison nur in der Oberliga. Davon hatte ich als 13-Jähriger Ost-Berliner nicht soooo viel mitbekommen. Okay, dass Blau-Weiß 90 damals in der 1. Bundesliga gespielt hatte, war mir schon bewusst. Unvergessen die trocken aufgesagten Bundesligaergebnisse am Ende der Tagesschau. Waldhof Mannheim und der FC 08 Homburg hatten sich eingebrannt. Ebenso dieses Uerdingen. Faszinierend fand ich, dass gleich dreimal irgendwas mit Bayer / Bayern aufgesagt wurde. Und wenn wir schon dabei sind: Nach dem dritten Spieltag der Saison 1986/87 war der TSV Bayer 04 Leverkusen auf Rang eins zu finden!

Zurück in den Mai 1992. Schockiert las ich die Nachricht, dass Blau-Weiß 90 nicht nur die Lizenz verlor, sondern gleich Konkurs ging. Konkurs? Was war das? Wie jetzt? Der Verein wird aufgelöst? Wegen etwas mehr als einer Million Mark? Ich verstand die Welt nicht mehr. Genau diese Summe verdiente allein ein Jorginho in der Folgesaison beim FC Bayern München. Wie konnte es möglich sein, dass in der Großstadt Berlin solch ein Traditionsverein pleite ging? Berlin war doch nicht Homburg! Oder Remscheid. Eine Zeile in der Sportbild hatte sich am meisten eingeprägt. „Es erfolgt die Löschung im Vereinsregister“. Ich konnte und wollte es nicht verstehen, wie ein im Jahre 1890 gegründeter Verein plötzlich komplett verschwinden soll. Scheiß DFB, dachte ich damals schon. Hätte der Verein die Lizenz und somit eine weitere Chance bekommen, hätte er vielleicht noch die Kurve gekriegt. Aber so?! 

Mit Interesse vernahm ich, dass in der Folge sogleich der SV Blau-Weiss Berlin ins Leben gerufen wurde und in der Kreisliga C startete. Ich zählte die Ligen durch. Los jetzt hier! Zieht durch! In sieben, acht Jahren seid ihr wieder oben! Sieben, acht Jahre, wie bitter. Zum Jahrtausendwechsel also. Vorausgesetzt, es würde jedes Jahr ein Aufstieg klappen. Letztendlich ging es anfangs flott voran, doch irgendwann stagnierte das Ganze in der Landesliga. Bis es weiter nach oben in die Berlin-Liga und die NOFV-Oberliga gehen sollte, musste noch ein Weilchen gewartet werden. Und doch sind immer noch ein paar Fans dabei, die damals zu Beginn der 1990er Jahre die Zweitligazeiten miterlebt hatten. Zum Teil sogar die Bundesligasaison 1886/87. Irre, dachte ich immer wieder, als ich in jüngerer Vergangenheit öfters beim nun wieder Sp.Vg. Blau-Weiß 90 Berlin heißenden Verein vorbeigeschaut hatte. 

Für mich schloss sich der Kreis. Ich hatte es verpasst, damals ein Spiel der alten Sp.Vg. Blau-Weiß 90 mit eigenen Augen zu sehen, doch hatte ich die Zweitligasaison 1991/92 überaus interessiert verfolgt. Jene Saison war mein persönlicher Start in ein sehr lebhaftes Fußballleben. Dass der größere Sohn nun sogar eine Ecke seines Herzens an Blau-Weiß 90 vergeben hatte, macht mich wirklich stolz. Wie sagt man so schön? Die Vereine kommen zu einem - und es muss von Herzen kommen. Hansa Rostock, FC Polonia Berlin und Blau-Weiß 90 Berlin - das ist doch was!

Und da jüngere Brüder ihren größeren Brüdern nacheifern wollen, steckte ich am vergangenen Samstag den dreijährigen Mini in seine Kombi und nahm ihn mit zum Heimspiel der Blau-Weißen. Gespielt wurde aufgrund der Sperrung der Rasenplätze nicht im Volkspark Mariendorf, sondern auf dem Kunstrasenplatz an der Rathausstraße. Zwar gab der Verein dies sehr wohl bekannt, doch an anderen Stellen wurde der Volkspark angegeben, so dass der eine oder andere vor verschlossenen Toren stand und dann wohl direkt nach Hause dampfte. Davon ganz abgesehen hatte es was, mal wieder ein Spiel in der Rathausstraße zu sehen. Der Mini erkundete sogleich den gesamten Platz, an der Luke konnte sich mit Glühwein und gratis Weihnachtsgebäck versorgt werden. 

Familiäre Atmosphäre par excellence. Quasi jeder kannte jeden. Shakehands und Smalltalks am Flatterbändchen. Thema waren vor allem die möglichen Aufsteiger in die Regionalliga Nordost. Der FC Hertha 03 Zehlendorf wird nicht für die Regionalliga melden, so hörte man. Und Tennis Borussia Berlin? Gerüchte machen die Runde. Einige Spieler werden wohl im Winter gehen. Man munkelte, dass ein paar von ihnen auch zaghaft bei Blau-Weiß 90 angefragt hatten. Aber wie sollen diese bezahlt werden? Der TSG Neustrelitz sei wohl auch die Regionalliga eine Nummer zu groß. Bleibt noch der F.C. Hansa Rostock II. Mit 5:1 gewannen die Hansa Amateure am Sonntag in Neustrelitz. Möglicher Aufstieg? Dann müsste wieder im Ostseestadion gespielt werden. Halten wir mal die Ohren offen. 

Sportlich ließ es auch die Sp.Vg. Blau-Weiß 90 Berlin am vergangenen Wochenende krachen. Gegen den Tabellennachbarn Torgelower FC Greif ließen die Mariendorfer nichts anbrennen. Man spürte, dass sich die Mannschaft auf dem kleineren Kunstrasenplatz pudelwohl fühlte. Und ja, auf dem Platz standen nur Spieler, die wirklich Bock hatten, sich für den Verein zu zerreißen. Es hatte gepasst, die Zuschauer bekamen was zu sehen. Guilherme Henrique Lopes de Oliveira erzielte drei Treffer - und zwar in der 17., 57. und 85. Minute. Zwischenzeitlich steuerte auch Nii Bruce Weber nach exakt einer Stunde ein Törchen bei. 

Nach Abpfiff kamen ein paar Spieler rüber zu den Fans. Fast wollte man sich schon schöne Weihnachten wünschen. Irgendwie war einem so, dass es nun in die Weihnachtsferien gehen würde, doch noch steht ein Spiel auf dem Programm. Am kommenden Sonntag geht es ins Stadion am Hölzchen zum 1. FC Lok Stendal. Die Qual der Wahl, der größere Sohnemann wird sich entscheiden müssen: Die Hansa Amateure beim CFC Hertha 06, das Heimspiel des FC Polonia Berlin oder eine Sause mit den Blau-Weißen nach Stendal. Wir werden sehen…

Fotos: Marco Bertram, Michael

> zur turus-Fotostrecke: Sp.Vg. Blau-Weiß 90 Berlin

 

Artikel wurde veröffentlicht am
09 Dezember 2019
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Kommentare
gnadenlose Abwicklung früher
Heute gibts insolvenzverfahren,früher eben nicht.Damals waren viele Clubs verschuldet und BW hatte keine Bürgschaften parat. Dafür durften wir ab 1992/93 Berlin und viele neue Orte besuchen und kennenlernen.Wernsdorf,Niederlehme und den Buntzelberg zb.War doch irgendwie ganz witzig,aber dennoch unnötig.Man kann ja froh sein wie es heute wieder ist,andere Tradi-Clubs wie Spandauer SV und Wacker 04 ehemaligen zweitligisten sind leider völlig verschwunden
A(
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C
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G
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U
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kompliment
wieder wirklich toll geschrieben!
"Faszinierend fand ich, dass gleich dreimal irgendwas mit Bayer / Bayern aufgesagt wurde" spricht mir vollends aus der erinnerung!
"Der Verein wird aufgelöst?"
ich war damals auch geschockt! ein jahr später dann die lizenzverweigerungen gegen chemie und union, als bub für mich nicht zu verstehen gewesen.
danke fürs verschriftlichen!
grüße aus leipzig!
T
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