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Krieg dem DFB?! Staat und Verband schlagen zurück! Nun sind alle Fußballfans gefragt!

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Als ich Jugendlicher war, wollte ich immer ein Don Quijote sein, der gegen die Windmühlen kämpft. Zwar schien damals in den 80ern das System in der DDR schier übermächtig, doch wollte ich nichts unversucht lassen, um die Grenzen des Möglichen auszuloten. Hierbei muss allerdings betont werden, dass unsere 10. Polytechnische Oberschule in Berlin-Mahlsdorf nicht ganz so stramm und extrem linientreu war wie die meisten anderen des Landes. Der Anteil der Schüler, die zum Konfirmandenunterricht und in die Junge Gemeinde ging, war relativ hoch. Und auch die Anzahl der Lehrerinnen und Lehrer, die auch mal ein stückweit über den Tellerrand schauten, war überdurchschnittlich hoch. Nichtsdestotrotz, wer politisch aneckte, konnte durchaus Probleme bekommen, die ernsthafter Natur waren. Die an Peinlichkeit kaum zu überbietende Geschichtslehrerin mit provokativen Fragen zu nerven - okay. Im Staatsbürgerkundeunterricht gelangweilt aus dem Fenster schauen - okay. Ein systemkritisches Gedicht verfassen, das ausversehen in die Hände der Russischlehrerin gelangte? Denkbar schlecht! Ich durfte 1988 im Direktorenzimmer antanzen, und zwei Typen mit schwarzen Lederjacken (alle Klischees wurden bedient) standen hinter dem Schreibtisch und beäugten mich arg kritisch.

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Der Kopf wurde - Dank geschickter Argumentation - noch einmal knapp aus der Schlinge gezogen. In der Folge aber legte ich es immer weiter drauf an. Ich überlegte, wie ich die Lehrer am meisten provozieren könnte, ohne konkret etwas verwerfliches auszusprechen. Ich hatte die Idee! Ich kam mit Armeekleidung in die Schule! Schwarze Leder-Treter (an BW-Stiefel kam ich nicht nicht ran) und - jetzt kommt’s! - ein kurzärmeliges Hemd der US-Army. Das Hemd kostete mich echt massig Kohle, doch hatte ich diese beim Verkauf mit Bravo-Postern (Vierseitenposter gingen schon mal für 20 Mark rüber) wieder locker drin. Im Gebälk des DDR-Systems knarrte und knirschte es bereits gewaltig, und dies war wahrscheinlich der Grund, weshalb das Tragen dieses Hemdes des imperialistischen Klassenfeindes keine spürbaren Folgen hatte. Wäre die DDR nicht im Jahre 1989 zusammengebrochen, hätte ich mir eh ein Pfeifchen anstecken können. Mein Platz im Bau war mit Sicherheit bereits reserviert. Noch ein Ding, Bertram, dann biste dran!

So aber stürzte der Eiserne Vorhang ein, und ich konnte die volle Freiheit genießen. Nun war es ja nicht so, dass ich unkritisch wurde. Ich eckte weiter an, trug nun BW-Stiefel, hochgekrempelte Jeans und kaufte mir eine sowjetische Tarnjacke. Ich wollte unangepasst bleiben, kein reiner Konsument im westlichen System werden. Wenn mir was nicht passte, sagte ich das auch. Zumal mit dem „neuen“ System während meiner Ausbildungszeit im Rheinland von 1991 bis 1994 schnell neue Erfahrungen gemacht werden durften. Fußballfans? Diese waren damals bereits mitunter Freiwild! Es wurde sich über Stasi und Volkspolizei aufgeregt, die grundlos reinschlugen Mit Polizei und Bundesgrenzschutz gab es ebenso schnell Situationen, in denen sich gefragt wurde: Ey Alter, geht’s noch?! 

Über zweieinhalb Jahrzehnte später kam der Tag, an dem ich morgens daheim am Rechner saß und das Video vom Marsch der Fans der SG Dynamo Dresden in Karlsruhe sah. Das Video wurde mir zugeschickt, ich hatte zuvor rein gar nichts davon mitbekommen, da ich mich an jenem Wochenende voll und ganz mit der SG Dynamo Schwerin und dem Kampf um die Paulshöhe beschäftigt hatte. Ich klickte auf „play“, hielt kurz inne und dachte nur: Was für ein geiler Scheiß ist das denn?! Das schaut aus wie auf dem Balkan oder in Polen! Irre! Absolut irre! Die weinroten Fußballfreunde aus Dresden hatten mal wieder eine irre Show abgezogen. Der Trommelwirbel, allesamt in Tarnfarben, der vornweg fahrende Capo, der verströmende Rauch. Mein erster Gedanke: Das US-Militär rückt an. Die Art der Tarnfarbe, die Art des Trommelns, die Mützen und natürlich nicht zuletzt der Aufdruck auf den Shirts. Es hätte vielleicht auch gepasst, im Look der Nationalen Volksarmee dem DFB den „Krieg zu erklären“, doch letztendlich wollte man nicht nur die Ost-Kiste greifen. Bekanntlich wurde in der DDR bei der NVA gern auf preußische Traditionen zurückgegriffen, da kam für die Anhängerschaft der SG Dynamo die Prise Safari-Style dann wohl doch weitaus besser.

Logisch, dass ich sofort an mein 30 Jahre zuvor getragenes US-Army-Hemd denken musste. Ich wollte einst als kleiner Stift dem DDR-System den Krieg erklären, nun waren es rund 2.000 Fußballfans, die dem DFB symbolisch den Krieg erklären wollten. Beim gesungenen „Ost-, Ost-, Ostdeutschland!“ im Gästeblock des Karlsruher Wildparkstadions spulte ich dann immer wieder zurück. Wenn das keine Ansage war! Ich zog meinen Hut vor der zum größten Teil jüngeren Generation, die an jenem Maitag in Karlsruhe aufmarschiert war. Ihr hattet die von Olli Kahn einmal zitierten Eier. Sicher, über die geworfenen Böller ließ sich streiten, aber den Rest des Auftritts fand ich persönlich erste Sahne. Seit Jahren stockten die Gespräche zwischen aktiven Fanszenen und Verband. Immer weiter wurden die Rechte der Fußballfans beschnitten, immer mehr wurden vor allem Gästefans drangsaliert. Zudem drehte sich die Schraube der extremen Kommerzialisierung immer weiter. Von den Skandalen von DFB, UEFA und FIFA ganz zu schweigen. Hätten nicht die Fußballfans massiv für den Erhalt der Stehplätze gekämpft, würde es heute wohl keine Stehkurven mehr geben. Nur Dank der massiven Proteste der Fans wurde von Montagsspielen ein stückweit Abstand genommen. Und da es mitunter ein einfacher Gesang und ein gezeigtes Spruchband in der Kurve nicht tut, schien der martialische Auftritt der SGD-Fans in Karlsruhe gerade recht. 

Es war klar, dem Verband würde auf gut Deutsch gesagt „der Arsch auf Grundeis“ gehen. Würde solch ein Auftritt erst einmal Schule machen, könnte das ganze Konstrukt Profifußball kräftig ins Wanken geraten. Nach diesem Auftritt war klar, Staat und Verband würden im Rahmen des Möglichen mit voller Härte zurückschlagen. Dass es zahlreiche Beteiligte allerdings so hart treffen würde, damit hatte ich persönlich nicht gerechnet. Logisch, dass ich an meine eigene Jugend denken musste. Was für Folgen hätte das Tragen des US-Army-Hemdes haben können? Ich wägte ab und rechnete im Ernstfall mit der Abgabe des Hemdes vor dem versammelten Kollektiv, mit einem Tadel, mit einer Verwarnung vom Direktor auf einem Fahnenappell. Was hätte ich allerdings gemacht, wenn plötzlich die VoPo vorgefahren wäre und ich mich bei einem Jugendrichter wiedergesehen hätte? Ich, ja ich wollte doch nur ein bisschen anecken… Pech gehabt! Drei Jahre Jugendwerkhof! Das Leben wäre futsch gewesen.

Nach dem jetzigen ersten Urteil in Karlsruhe muss zwar keiner der am Marsch Beteiligten in den Knast, doch die ausgesprochenen Bewährungsstrafen wiegen schwer genug. Hinzu kommen Geldstrafen in empfindlicher Höhe. Strafbar wurde das Tragen der militärisch anmutenden Kleidung aufgrund des Spruchbandes „Krieg dem DFB!“, da dadurch dem Ganzen eine politische Botschaft verliehen wurde. Demzufolge war das Tragen als solches nicht strafbar. Bemerkenswert:  Kein einziger Angeklagter wurde wegen des Werfens von Böllern oder wegen des Blocksturms verurteilt. Es ging einzig und allein um der Uniformierung in Kombination mit der Kampfansage in Form des Spruchbandes. Besonders hart traf es die (teils vermeintlichen) Organisatoren dieses Aufmarsches. Diejenigen, die die Shirts besorgten, hatten quasi die Arschkarte. Und da Lehmi nun mal vorn auf der nach Karlsruhe gebrachten „Kübelpappe“ saß, hatte er die allergrößte Arschkarte. 

Was es bedeutet, eine Geldstrafe von 10.000 Euro bzw. eine Bewährungsstrafe zu bekommen, dürfte jedem einleuchten. Nicht jeder ist sein eigener Chef, sondern darf bei solch einem öffentlichkeitswirksamen Verfahren bei seinem Arbeitgeber antanzen und Rede und Antwort stehen. Nicht jeder wird eine Frau / eine Partnerin (ich gehe jetzt einfach mal davon aus, dass fast alle Beschuldigten männlich waren) haben, die Verständnis für solch einen Prozess und dessen Folgen hat. 10.000 Euro? Was könnte man nicht alles mit diesem Geld anfangen? Solch eine Strafe kann, wenn keine Polster vorhanden sind, die Existenz ruinieren. 

Ich durfte kürzlich Lehmi bei seiner überaus genialen Lesung in Tangerhütte persönlich kennenlernen, und nach ein paar Bier hatte ich ihm später am Tisch erklärt, dass das Anschauen des Videos vom Marsch in Karlsruhe für mich einer der großartigsten Momente in meinem Fußballleben war. Denn mir war klar, welche Risiken jeder einzelne der 2.000 SGD-Fans vor zweieinhalb Jahren einging. Zwar leben wir nicht mehr in der DDR, doch nach solch einer Kampfansage hat auch das jetzige System passende Mittel bereit, um einen klein zu kriegen. Dass der Verband all seine Anwälte einschaltete, ist verständlich. Allerdings ist es schon ein Hammer, dass drei Mit-Organisatoren der „Football Army Dynamo“ auch wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung verurteilt wurden. Jeder, der sich die kursierenden Videos anschaute, durfte sehen, dass der ehemalige Capo Lehmi vom vorweg fahrenden Trabbi keineswegs irgendwelche Gegenstände warf oder die Masse hinter sich zu etwaigen Straftaten anheizte. 

Das Urteil öffnet weitere Türen, denn solch eine „gemeinschaftliche Körperverletzung“ könnte in Zukunft manch einen Vorsänger, Capo oder Trommler treffen, wenn aus einem Fanmarsch heraus Gegenstände auf Ordner und Polizisten geworfen werden. Sind die einzelnen Täter nicht auszumachen, sind halt die Führungskräfte der jeweiligen Fanszene dran. Dass im Fall der Dresdner nicht in Berufung gegangen wird, ist verständlich. Das Risiko, auch in weiterer Instanz zu verlieren und sich dann komplett zu verschulden, ist schlichtweg zu hoch. Die angehäufte Summe ist jetzt bereits beachtlich, und es können noch weitere Strafen hinzu kommen.

Nun sind nicht nur alle Anhänger der SG Dynamo Dresden, sondern sämtliche Fußballfans gefragt. Haut jeder, der etwas von aktiver Fankultur hält, einen Fünfer in die Kasse, sind die Betroffenen eine Menge Sorgen los. Es seien ja nur Sachsen und diese interessieren einen nicht? Sollen die ihre eigene Suppe auslöffeln. Jedem seine Meinung. Meine ist dies nicht! Die Anhängerschaft des F.C. Hansa Rostock schrammte wahrscheinlich mit dem militärischen Auftritt in Zwickau noch haarscharf an solch einem Prozess vorbei, die Dynamo-Fans hatte es nun getroffen. Und das wegen der klaren Botschaft „Krieg dem DFB!“. 

Der Marsch in Karlsruhe (nicht jeder musste solch einen martialischen Auftritt dufte finden) hatte auf jeden Fall etwas Gutes. Er stieß in Deutschland eine Welle des Protests an. Der Protest in den Fankurven wurde immer lauter, immer intensiver. Dieser Protest konnte einfach nicht mehr ignoriert werden. Es bewegte sich was, wenngleich auch nur ein bisschen. Das Zeichen in Richtung DFL und DFB war eindeutig: Überspannt nicht den Bogen, überdreht nicht die Schraube! Noch haben die Fanszenen genügend Power, um eine kraftvolle Protestbewegung auf die Beine zu stellen. 

Was jeder nun tun kann? Eine Summe X an das Solidaritätskomitee Dynamo (Soko Dynamo) spenden. Jeder Euro kann helfen. Was ich tun kann? Diesen Bericht schreiben und auf dieses Spendenkonto aufmerksam machen. Zudem könnte ich eine Lesung anbieten, bei der für die Betroffenen gesammelt werden kann. In Berlin, in Dresden oder anderswo. Falls Interesse besteht, einfach melden! Ich stehe bereit, denn ich weiß aus eigener Erfahrung wie es ist, wenn Typen in Lederjacken einen an den Kragen wollen und das Damoklesschwert bereits über einem baumelt…

Nachtrag: Soeben wurde bekanntgegeben, dass die Crowdfunding-Aktion vom Anbieter gesperrt wurde. Genutzt werden soll das reguläre Spendenkonto, dass auf der Soso Dynamo Website angegeben ist!

Fotos: Ruhestörer, Marco Bertram, Felix

> zur offiziellen Seite der Soko Dynamo

> Bericht zum dynamischen Camouflage-Alarm von 16. Mai 2017

> Interview zum Thema Ost-Fußball mit Marco auf „Football was my first love“

 

Inhalt über Klub(s):
Artikel wurde veröffentlicht am
11 Oktober 2019

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2. Bundesliga

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Solidarität und Zusammenhalt
Geld ist unterwegs! Gruß aus Rostock! Stabil bleiben Ihr Sachsen
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Gerechtigkeit!
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Geschmacklos
Meine Eltern haben den Krieg noch erlebt. Dieses martialische Auftreten war total daneben und verharmlost Krieg. Absolut verletztend
T
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Respekt
T
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OO
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Total verrückt alles.
G
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