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Bullenherde treibt Pyroschwein durchs Dorf - die Kinderaugen leuchten halt woanders

„Ich hatte ´nen Traum und dieser Traum war wundervoll…“ Als über 30.000 Fans der SG Dynamo Dresden im Berliner Olympiastadion das Europacup-Lied anstimmten und die Fackeln an den verschiedenen Stellen der Gästekurve leuchteten, wurde es ein magischer Moment, der für eine angenehme Gänsehaut und etwas Feuchtigkeit in den Augenwinkeln sorgte. Die einst so häufig in den Medien zitierte südländische Atmosphäre durfte nun bei diesem DFB-Pokalspiel ausgekostet werden. Wie oft hatte ich mir in den vergangenen drei Jahrzehnten Fotos, Berichte und Filmsequenzen aus Italien, Griechenland, Polen und vom Balkan angeschaut?! Einst in „FanTreff“ und „match live“, später dann online in Magazinen und auf youtube. Wie oft dachte ich mir: Mensch, was für ein geiler Scheiß! Es sei denn, die Pyro-Ladungen flogen als Waffe in gegnerische Fanblöcke. Hm ja, ich müsste unter Schizophrenie leiden, wenn ich erkläre: Die jüngsten von Fackeln untermalten Choreos bei Legia Warszawa und Lech Poznan sahen wieder klasse aus, doch die friedlich umgesetzte Pyro-Aktion bei der deutschen Fanszene XY widerte mich zutiefst an. 

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Ich bleibe bei meiner Meinung: Ich bin für den ordnungs- und sachgemäßen Einsatz von Pyrotechnik. Eine Fackel gehört in den festen Griff und muss kontrolliert abgebrannt werden. Ein unnötiges, zu hektisches Hin- und Herschwenken am Geländer eines Oberranges erhöht bekanntlich die Gefahr, dass die brennende Fackel aus der Hand rutscht und in die unten stehende / sitzende Menge fällt. In der Vergangenheit gefielen mir mitunter die Rostocker und Magdeburger Modelle. Die Fackeln wurden mitunter im gesamten Block verteilt, ruhig heruntergebrannt und anschließend auf den Stufen (oder sogar in Metalleimern) entsorgt. Das Gesamtbild in Block U oder auf der Süd sah klasse aus, und die Kritik von den anderen Zuschauern hielt sich sehr in Grenzen.

Mir ist allerdings schon klar, dass der Einsatz von Pyrotechnik in deutschen Stadien strikt verboten ist. Ärgerlich ist jedoch, dass hierzulande von Verbands- und Behördenseite nicht mal im Ansatz ernsthaft geschaut und registriert wird, was in Skandinavien oder den Alpenstaaten durchaus möglich ist. Es besteht seit 2012 von Seiten des Verbandes und der Behörden einfach keinerlei Interesse mehr, über diese Thematik zu sprechen. Ganz im Gegenteil. Die Schraube soll fester angezogen werden. Im Härtefall soll der Entzug des Führerscheins erfolgen. Da fehlen einem echt die Worte. Erzähl das mal einem Sportsfreund von Partizan Belgrad, Bröndby IF, Wisla Krakow oder Aris Saloniki! Während in Skandinavien und im einstigen Ostblock Woche für Woche beeindruckende, farbenfrohe Aktionen zu sehen sind, geht es in Deutschland mitunter wegen eines abgebrannten Rauchtopfes in der Oberliga strafrechtlich zur Sache. Weltuntergang! An den Pranger! Anscheißen, diese sogenannten Fans! Eine Verhältnismäßigkeit ist nicht mehr gegeben. 

Neulich gab es wieder ein persönliches Schlüsselerlebnis. Unser größerer neunjähriger Sohn hatte bislang bei seinen zahllosen gesehenen Fußballspielen dreimal geweint. Also soweit ich das registriert hatte. Das erste Mal, als im Sommer 2016 der F.C. Hansa Rostock das Jubiläumspiel gegen den 1. FC Union Berlin verloren hatte (er war untröstlich, obwohl es ja sportlich um nix ging), das zweite Mal, nachdem vor einem Jahr die Sp.Vg. Blau-Weiß 90 Berlin etwas unglücklich im Landespokal gegen den BFC Dynamo verloren hatte (ich war von der Reaktion echt überrascht), und das dritte Mal, als er kürzlich sein erstes Pflichtspiel des F.C. Hansa im Rostocker Ostseestadion gesehen hatte. Er heulte wie ein Schlosshund, und die um uns sitzenden / stehenden Zuschauer auf der Haupttribüne waren arg besorgt. Der Grund der Tränen: Der Sohnemann war beim Heimspiel gegen den MSV Duisburg einfach nur zutiefst gerührt, als auf der Südtribüne die Papierrollen flogen, die Fahnen geschwenkt wurden und ein paar Fackeln leuchteten. Es sei viel schöner als er sich erträumt hatte, stammelte er nur und lehnte sich dann an meine Schultern. Für mich war dies einer DER rührendsten Momente beim Fußball in den all den zurückliegenden 30 Jahren. 

Wenn er groß ist, will er auch auf der Süd stehen, aber auch Blau-Weiß 90 Berlin und den FC Polonia Berlin weiterhin lautstark unterstützen. Am besten mit ein paar Fackeln im Gepäck. Ich sagte erst einmal gar nichts dazu. Oft genug hatte ich ihm bereits erklärt, dass das Ganze durchaus dufte aussieht, jedoch auch gefährlich sein kann (Silvester gibt es ja jährlich oft genug intensive Gespräche) und vor allem verboten sei. Das mit dem Verbot leuchtete ihm jedoch nicht so ganz ein. Wurde nicht bei Polonia Berlin gegen Tennis Borussia Berlin und gegen S.D. Croatia Berlin jeweils völlig entspannt gezündet?! Puh, ja, schon, aber… Ganz klar, es wird nicht einfach werden mit seiner großen Leidenschaft für Fußball und Fankultur.

Werde bloß nicht Fan von RasenBallsport Leipzig, dachte ich mir insgeheim. Wird er eh nicht. Aber halt nur rein theoretisch gedacht. Beim Auswärtsspiel in Paderborn wagten es doch tatsächlich ein paar RB-Anhänger im unteren Bereich des Gästeblocks ein paar Fackeln anzuzünden. Premiere bei RasenBallsport Leipzig - das gab es noch nie zuvor (mal abgesehen vom roten Rauch im DFB-Pokalfinale). Es war allerdings nur eine Frage der Zeit, bis ein paar dortige Fans auch einmal die Grenzen ausloten möchten und es all den anderen Fanszenen gleichtun würden. Allerdings: Das Ganze ist ziemlich dumm gelaufen, denn im Nachfeld begann das große Treiben und die Hetzjagd in den sozialen Medien. RasenBallsport Leipzig ist halt nicht der 1. FC Magdeburg, Borussia Dortmund, der F.C. Hansa Rostock, Eintracht Frankfurt oder die SG Dynamo Dresden. Rückendeckung von den anderen Fans darf man bei RB Leipzig wohl kaum erwarten, wenn man sich wagt, zur Pyrotechnik zu greifen.

Vom Auftritt der Leipziger in Paderborn gibt es im Netz ein Video zu bestaunen. Während in anderen Fanblöcken die leuchtenden Fackeln auch innerliche Hitze erzeugen und das letzte Quäntchen aus den Fans herauskitzeln und zum brachialen Support antreiben, gab es im Fall der Leipziger nur Bewegung an der Stelle, wo die Fackeln brannten. Die restlichen Fans standen still, staunten nur oder beschwerten sich. Da konnte der Capo unten herumhampeln wie er wollte, im Fall RB wurde es allzu eindeutig, dass dort niemand Bock auf Pyrotechnik hat. Ein echter Rohrkrepierer, ein Schuss in den Ofen sozusagen. Mir tun die Jungs sogar irgendwie leid, die versuchten, das Ganze mal anzutesten. Meine Güte, wir waren doch alle mal jung und wild. Oder etwa nicht?! Sie werden jetzt hart zu knabbern haben und ausgeschlossen werden aus der großen Bullenherde.

Am 4. Dezember 2019 gab es auf der Facebook-Seite von RasenBallsport Leipzig ein Vereinsstatement zu den Pyro-Vorfällen. In diesem ist die Rede davon, dass man dabei sei die Täter zu identifizieren. Das dürfte sicherlich auch nicht allzu schwierig sein. Wortwörtlich heißt es: „Wir als Klub stehen nach wie vor konsequent für eine familienfreundliche, diskriminierungs-, gewalt- und pyrofreie Fankultur ein. Bitte unterstützt uns daher weiterhin in diesem Bestreben und tretet gemeinsam mit uns für den Erhalt dieser Fankultur ein.“

Dafür gab es 1.951 Likes, 63 Herzchen, 46 lachende Gesichter, vier weinende Gesichter, ein staunendes Gesicht und nur sieben wütende Gesichter. In Prozentzahlen würde sich das wie ein Wahlergebnis bei einer DDR-Volkskammerwahl lesen. Geht man auf das Profil eines Users, das ein weinendes Gesicht abgab, so bekommt man ein Pyro-Foto und ein Profilbild mit vier weiblichen RB-Fans zu sehen. Hochgehalten wird ein Schal mit der Aufschrift „Voller Sehnsucht - voller Träume“. Verrückt, dass das Ganze nur ein User lustig fand. Und dieser eine User schickte eine DDR-Fahne virtuell in die weite Welt hinaus, um zu zeigen, was einst seine Heimat war.

Die andere Frage, die sich mir stellte: Findet sich unter dem Beitrag nicht irgendein Pyro-Befürworter, der ein Wort für die „Täter“ einlegte. Kontroverse Diskussionen gibt es schließlich überall. Nicht jeder Dynamo-, FCM- oder Hansa-Fan findet es knorke, wenn es zum x-ten Mal brennt und qualmt. Vor allem geht es meist ums liebe Geld, weniger um die Sicherheit. Welchen Spieler man nicht für die hohen DFB-Strafen holen könnte, ist immer wieder zu lesen. Um die Finanzen kann es indes bei RasenBallsport Leipzig eher nicht gehen. Dort gibt es jedoch einen öffentlichen Tenor: So was wollen wir hier nicht! 

Und wenn ich mich so durch scrolle, fällt mir ein Kommentar des Users in die Augen, der den Beitrag mit einem lachenden Gesicht bewertet hatte. Mit moderaten Tönen versuchte er zu erklären, dass Pyro irgendwie dazugehöre und schön anzusehen sei. Man könne ja einen separaten Bereich öffnen, damit nicht inmitten von Familien mit Kindern gezündet wird. 42 Kommentare gab es dafür. „Tut es sehr weh?“, fragte jemand. „Das hat absolut nix mit Fußball zu tun“, erklärte ein anderer. Zustimmung für seine Worte fand er kaum.

Scrollt man weiter, so ist fast nur Zustimmung zum Statement zu lesen. „RB Leipzig wird das sicher richtig machen. Davon bin ich überzeugt. Das macht den Verein nämlich sehr sympathisch. Was man von vielen Vereinen und deren Fans nicht sagen kann“, schrieb ein User. An anderer Stelle wurden auch die Großveranstaltungen in den USA herangezogen. Na schau an. Familienfreundlich, Popcorn und Klatschpappe. Fußball als reines Entertainment. Ich persönlich bin doch etwas baff, wie gut das bislang bei RasenBallsport Leipzig geklappt hat. Schließlich liegt doch Leipzig im wilden, unbequemen Sachsen. Nun denn, richtig froh sei ein weiblicher Fan über die klaren Worte der Geschäftsführung. Sie hatte nämlich schon überlegt, nicht mehr ins Stadion zu gehen oder auswärts zu fahren. Als dann auch noch ein Max darunter wortwörtlich erklärte „Wir gehen auch erst wieder zu RB, wenn’s wieder sicher ist.“ überlegte ich dann doch, ob nicht eine Portion Fake und irgendwelche Robots im Spiel sind.

Ich dachte, ich kenne die Fußballwelt ein wenig, doch ich musste nun sehen, dass sich die Welt bei RasenBallsport Leipzig wirklich ein stückweit anders dreht. Allerdings wurde bei den beiden zuletzt genannten Kommentaren auch im Fall RB der Bogen etwas überspannt. Über Max und und die „Fußballmutti“ wurde sich dann doch arg lustig gemacht. In diesem Diskussionsstrang entwickelte sich dann ein reger Austausch, den man auch von anderen Vereinen gewohnt ist. Und ich dachte schon… Im Großen und Ganzen bleibt es jedoch dabei: Das Konzept der absolut konformen Fankultur ging in Leipzig auf. Und Pyrotechnik wird man dort so schnell nicht wieder sehen - da bin ich mir ganz sicher. Alles andere wäre ja Kamikaze vom Feinsten… 

Fotos: Dominik (Zeichnung), Marco Bertram, Arnaud Schonder, Los Misenas

 

Artikel wurde veröffentlicht am
10 Dezember 2019

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RB hat das Publikum, das es sich immer wünschte. Operettenpublikum erster Güte. Pupt einer in der Reihe vor einem, gibt es auf die Mütze!
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"Mutti" und Max können sich beruhigen. So schnell wird kein Feuerchen entfacht werden in der Bullenkurve.
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Ich musste die Kommentare echt mal lesen dort. Verrückt.
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Ich brech weg. Ich gehe erst wieder zu RB, wenn es sicher ist... ?
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