Deutsche Nationalmannschaft 1982 bis 2018: Von Jubel und Ekstase zu Wut und Abneigung

„Die ersten sind schon ballaballa!“ Na, juten Morgen! Täglich grüßt das Neuköllner Murmeltier. Nachdem die Jungs in Schule und Kita gebracht wurden, geht es jeden Morgen für eine Viertelstunde zum Türkischen Bäcker. Frisch gemahlener Kaffee für einen Euro. Sehr schmackhaft! Beim herzhaften Biss in die fluffige Apfeltasche wanderten heute die Auge rasch durch eine gratis ausliegende Berliner Boulevardzeitung. Oooh mein Gott! Erst mal nen Schluck Kaffee und kurz Innehalten. „Die ersten sind schon ballaballa!“ Dazu ein paar an Peinlichkeit kaum zu überbietende Fotos. Das sind sie also, die deutschen Fußballfans. Plump und naiv wirkend, nicht groß nachdenkend. Ach wie schön, die Fahne wurde bereits am Balkon befestigt. Prima! Ist das eigentlich pure Absicht, so kurz vor der WM die Freunde des Fußballs so darzustellen? Könnte einem völlig schnuppe sein? Nee! Meine Mutter dachte früher wirklich, Fußballfans würden generell treu blöd, kindisch bemalt und mit der Plaste-Tröte in der Hand in die Stadien trotten. „Und, mein Sohn, freust du dich auch so auf die WM?“, fragte sie mich mal vor geraumer Zeit. Freuen? Mit ein paar Worten erklärte ich ihr, was für mich Fußball im Ligaalltag ausmacht. Aber ich war mir sicher, das Gesagte ging bei ihr nur rein und raus. 

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Und? Freue ich mich nun auf die kommende Weltmeisterschaft in Russland? Ja und nein. Russland als Austragungsort finde ich nicht übel. Doch Vorfreude auf die Spiele der „Mannschaft“? Nö! Ha, da ist wieder so ein Deutschland-Muffel! So ein Dauer-Nörgler, der alles schlecht macht und ständig nur am meckern ist. Dem es peinlich wäre, mit deutschen Farben durch die Straßen zu ziehen. Nochmals: Nö! So nicht, das Ganze ist einfach komplizierter. Da ich mich in all den Jahren immer wieder gefragt hatte, wie ich denn nun zur Deutschen Nationalmannschaft stehe - diese Frage ist bei einem, der quasi jeden Tag für den Fußball lebt, wahrlich berechtigt -, werde ich der Sache noch einmal auf den Grund gehen. So recht weiß ich gar nicht, worauf ich hinaus möchte. Egal, ich versuche es einfach mal und schreibe diesen Bericht von der Leber herunter. Statt beim türkischen Bäcker sitze ich nun im Tierpark in Berlin-Friedrichsfelde. Bewusst offline sein. Die Ruhe genießen. Einen schönen Blick aufs Grüne haben.

Quatschen wir nicht lange, kommen wir zu den Fakten! Meine allerersten Erinnerungen an eine Fußballweltmeisterschaft? Ich glaube es selber kaum, aber es war das Duell Argentinien vs. Brasilien bei der WM 1978. Das Spiel der Zwischenrunde ging 0:0 aus und lief mitten in der Nacht. Mein Vater hatte mich vor den Schwarz-Weiß-Fernseher gesetzt und ich verfolgte das Geschehen und hörte den Kommentator über die Telefonkonferenz. Immer wieder hatte ich recherchiert, ob es nicht ein späteres Aufeinandertreffen gewesen sein könnte, denn es machte einfach keinen Sinn, dass ich als Fünfjähriger nachts vor die Kiste gesetzt wurde, doch findet sich kein anderes 0:0 bei einem Pflichtspiel aus jener Zeit, das nach Deutschland übertragen wurde. Und es war definitiv ein torloses Remis!

Ein wenig konkreter sind die Erinnerungen an die WM in Spanien im Sommer 1982. Ich war neun und mit meinen Papa verfolgte ich das in Madrid ausgetragene Finale Italien gegen Deutschland. Die Italiener vergaben zuerst einen Elfmeter, gingen dann aber in der zweiten Halbzeit mit 3:0 in Führung. Mein Vater interessierte sich sonst nicht sonderlich für Fußball, doch an diesem Tag war er wirklich enttäuscht. Mehr als der 1:3-Anschlusstreffer von Breitner in der 82. Minute sollte nicht mehr gelingen. „Kann man halt nichts machen“, erklärte mir mein Papa, als er sah, dass auch ich ganz bedröppelt dreinschaute. 

Voll dabei waren wir bei der WM 1986. „Wir“ - das bedeutet die meisten Klassenkameraden und ich. Über die Deutsche Nationalmannschaft und die exotischen Teams jeden Tag im Klassenraum und auf dem Schulhof der 10. Polytechnischen Oberschule zu palavern, das hatte was. Da konnten die mitunter stramm roten Lehrer nur blöde kieken. Es konnte ja wohl nicht verboten sein über eine Fußball-Weltmeisterschaft zu diskutieren! Dass die Nationalmannschaft der DDR nicht dabei war, nun denn, dafür konnte ja keiner was. Interessant wäre es gewesen, wenn die DDR-Auswahl wirklich in Mexiko teilgenommen hätte. Schwerlich hätte ich mich für Hammer, Zirkel und Ährenkranz bei einer WM begeistern können. Ja, Heimat schon. Wir fühlten uns alle mehr oder weniger in unserem Umfeld am Rande von Ost-Berlin pudelwohl. Aber das System? Die Bonzen? Wir Schüler begehrten ständig auf und testeten die Grenzen immer wieder aufs Neue aus. Für Rummenigge und Völler konnten wir uns indes alle begeistern. Fast alle. Nachdem die DFB-Auswahl gegen Argentinien mit 2:3 verloren hatte - der Siegtreffer von Burruchaga in der 84. Minute war wie ein Stich ins Herz -, kam Schulfreund Marcus am nächsten Morgen mit einer selbst gemalten argentinischen Papierfahne in die Schule. Während wir alle lange Gesichter machten, wedelte er fröhlich mit dem hellblau-weißen Papier. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte meine erste Fußballrandale in meinem Leben angezettelt. Irgendein Kumpel warf jedoch später die Fahne in einen Mülleimer - und gut war!

1990! Wir waren in der DDR der letzte Jahrgang, der das Abschlusszeugnis der 10. Klasse an der POS erhielt. Die Grenzen waren offen, die harte Deutsche Mark wurde eingeführt. Wir kurvten mit Mopeds durch die Nacht, borgten uns in Videotheken, die wie Pilze aus dem Boden sprossen, Pornos und Actionfilme aus und veranstalteten gemeinsame Videonächte. Die totale Freiheit. Und dann die Fußball-Weltmeisterschaft 1990! Die Deutsche Nationalmannschaft rauschte wie ein D-Zug durch das Turnier. Jedes Spiel wusste zu gefallen. Und dazu die Spieler. Kohler, Brehme, Buchwald. Häßler. Völler. Reuter. Fast alle Spieler hatten Charisma und keine Star-Allüren. Bei Matthäus war ich mir damals schon nicht ganz sicher, aber seine Tore waren geil, einfach nur geil! Klar, auch diese Spieler waren bereits Millionäre, doch wirkten sie erstaunlich bodenständig. Im Achtelfinale wurde die Niederlande mit 2:1 bezwungen. Völler wurde angespuckt, ich rastete vor dem Fernseher aus. An das Spiel gegen die CSFR kann ich mich kaum erinnern, wir waren gerade in der Wildnis auf der Abschlussklassenfahrt, doch umso mehr hatte sich das Halbfinale gegen England eingebrannt!

Ich saß in meinem Zimmer vor dem eigenen kleinen sw-Fernseher und fieberte mit. Ich betete, ich trampelte auf den Boden und wischte die feuchten Hände an der Hose ab. Meine Fresse, war das spannend! Und dann das Elfmeterschießen. Komm, Deutschland! Und ja, die Engländer wurden mit 4:3 bezwungen. Ein Urschrei im Garten in Waldesruh vor den Toren Berlins. Ich drehte komplett durch vor Freude. Ich war außer Rand und Band. Es war quasi der innere Weckruf. Fußball! Fußball und ich - das passt zusammen! Das Finale wollte ich nicht allein im Häuschen schauen. Ich ging zu einem Freund, der in Mahlsdorf wohnte, und im dortigen Wohnzimmer verfolgten wir als kleine Truppe das Spiel gegen Argentinien. Nachdem Andi Brehme in der 85. Minute den Elfmeter zum 1:0 verwandelt hatte, gab es kein Halten mehr. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Wir machten uns auf den Weg. Es bestanden einfach keine Zweifel am Sieg. Wir rannten zur Straßenbahn, fuhren mit dieser nach Köpenick, und von dort aus ging es weiter mit der S-Bahn zum Kurfürstendamm, Richtig abfeiern! Unvergessen auch die eine quer fliegende Leuchtkugel, die in der großen Lichtraster-Werbefläche des alten Ku´damm-Eck (1998 abgerissen) ein Brandloch verursachte.

Innere Lasten fielen ab. Das dritte gesehene Finale wurde endlich gewonnen. Dazu die allgemeine Situation. Ich dachte an unsere verhassten Staatsbürgerkundeunterricht- und Geschichtslehrerinnen. Was mussten die gekotzt haben. Der „Klassenfeind“ siegte nun quasi für ganz Deutschland. Es war wie im Rausch. Ich dachte daran, was für Probleme ich in der DDR bekommen hätte. Wie sehr ich mit meiner großen Klappe und meinem Freiheitsdrang angeeckt wäre. In der 9. Klasse stand die Stasi bereits einmal wegen mir im Direktorenzimmer. Ich war mit einem blauen Auge davon gekommen. Egal jetzt! Offene Grenzen! Freiheit! Erwachsen werden! Fußball!

Nachdem ich im September 1991 für drei Jahre ins Rheinland zog, ging bei mir in Sachen Fußball so richtig die Post ab. Das gegen England gespürte Gefühl wollte ich nun öfters erleben, und sei es nur als außenstehender Betrachter, als ich Anfang der 1990er zum Beispiel das Duell 1. FC Köln vs. Borussia Mönchengladbach besuchte. Diese Emotionen, diese Wallungen, diese Brisanz, diese Leidenschaft - es packte mich immer wieder. 

Umso ernüchternder war für mich die Europameisterschaft 1992 in Schweden. Die Leidenschaft auf dem Rasen blieb weitgehend aus. Eher träge kämpfte sich die Deutsche Nationalmannschaft durch das kleine Turnier (nur zwei Gruppen à vier Mannschaften). Dröge spielten auch Frankreich und England. Es war aus meiner Sicht unfassbar, dass man sich nicht richtig den Arsch aufreißen wollte. Mit Karsten fuhr ich damals nach Köln, um in einer Kneipe das Finale Deutschland vs. Dänemark zu sehen. Es war gar nicht so einfach, eine geeignete Pinte zu finden, doch irgendwo am Ring wurden wir fündig. Der klare Außenseiter Dänemark, der kurzfristig für Jugoslawien eingesprungen war, gewann völlig verdient mit 2:0. John Jensen machte nach etwas über einer Viertelstunde den ersten Treffer klar, Kim Vilfort konnte in der 78. Minute nachlegen. Karsten und ich waren pappsatt. Noch nen Kölsch? Nö! Vom Trainer Berti Vogts hielten wir eh nicht viel, die gezeigte Leistung gab uns den Rest.

DFB, Nationalmannschaft, große Turniere. Die Sache hatte bereits einen Knacks bekommen. Zudem spürte ich, dass ich eben nicht in der Bundesrepublik aufgewachsen bin, sondern in der DDR. Die tiefe emotionale Verbindung gab es nicht. Der emotionale Ausbruch im Juli 1990 war vor allem situationsbedingt. Es war schon komisch. Das Land, in dem man seine gesamte Kindheit und Jugend gelebt hatte, gab es nicht mehr. Stasi, SED und das ganze politische Gedöns - ich habe es als Jugendlicher gehasst. Trotzdem: Die DDR war Heimat. Das Ganze war auch nicht weiter wild, da es im Vereinsfußball recht gut aufgefangen werden konnte. Der Osten lebte schließlich weiter.

Für die WM 1994 hatte ich mir extra einen großen Farbfernseher gekauft. Im Zimmer des Wohnheims in Leverkusen-Mitte schaute ich mir fast jedes Spiel an. Meist allein. Ich wollte nicht gestört werden und die Spielzüge der verschiedenen Länder studieren. Beim 1:2 der deutschen Auswahl gegen Bulgarien winkte ich nur ab. Ach du meine Güte. Ausgerechnet Bundesligaspieler Jordan Letschkov machte in der 78. Minute mit dem Kopf den 2:1-Siegtreffer! Das Aus im Viertelfinale! Berti Vogts?! Er blieb dennoch Bundestrainer? Ich fiel ins Essen. Dazu der gezeigte Stinkefinger von Effenberg beim Gruppenspiel gegen Südkorea. Effe wurde (auch wenn er nach dem Stinkefinger ausgeschlossen wurde) - nicht nur für mich - zum Sinnbild des abgehobenen Profifußballs. Ihr Fans seid unzufrieden? Mir doch mumpe! Das Thema Deutsche Nationalmannschaft war bei mir quasi durch. 

Interessantes geschah während der Europameisterschaft 1996 in England. Ich war gerade sieben Wochen kreuz und quer in Brasilien unterwegs, und aus der Ferne fühlte sich das Ganze wieder viel besser an. Das Finale gegen die Tschechische Republik sah ich bei einer Familie in Goiânia in der Nähe der Hauptstadt Brasilia. So weit von der Heimat entfernt lösten sich dann doch ein paar Tränchen in den Augenwinkeln. Die Tränen rollten die Wangen herunter, und die beiden Zwillingstöchter der Familie lächelten süß. Als Brasilianerinnen kannten sie es zu genau, wie es ist, für das Heimatland Tränen zu vergießen. Mal vor Freude, mal vor Trauer. 

Die WM 1998 verfolgte ich nur am Rande. Wir bastelten gerade zu viert in einer alten Scheune an zwei Segelbooten, mit denen es einmal um die Welt gehen sollte. Während Arne das eine Boot lackierte, rührte ich den Lack an und schaute mit einem Auge ein Spiel der Brasilianer. Die 0:3-Niederlage der Deutschen gegen die Kroaten hatten wir zusammen im Garten verfolgt. 0:3?! Gegen Kroatien?! Schon wieder bei einer WM im Viertelfinale Schluss?! Zwei Jahre später hatte ich eine kroatische Freundin, und einige Kumpels fanden aus Spaß noch ein paar nette Worte. Der Stachel saß aufgrund des robusten Auftretens von Davor Suker & Co. recht tief. 

Mit Erich Ribbeck als Trainer ging es im Juni 2000 zur EM nach Belgien und Holland. Oh meine Güte, das wurde wahrlich bitter. Das Aus in der Vorrunde! Zwei Niederlagen (0:1 gegen England und 0:3 gegen Portugal - wir erinnern uns an Sérgio Conceição…) und ein dünnes Remis gegen Rumänien. Da platzte manch einem nicht nur der Kragen, sondern quasi gleich das Ei! Die berühmte Bratwurst-Elf wurde in einer Boulevardzeitung abgedruckt. Hohn und Spott wurde ausgekübelt. Es rumpelte richtig. Franz Beckenbauer sprach von „Rumpelfüßlern“. Mir persönlich in Erinnerung blieben ein paar Äußerungen des damaligen Pressesprechers des DFB hängen, der kitten wollte, was eigentlich nicht mehr zu kitten war. Nach diesem schrecklichen Gesamtpaket hatte ich mich nun wirklich gedanklich von der Deutschen Nationalmannschaft verabschiedet. Vereinsfußball - ja, das war eher mein Ding.

Nachdem 2002 und 2004 einfach locker mit Kumpels die WM und EM verfolgt wurde, kam dann 2006 die Weltmeisterschaft im eigenen Land. Was soll ich sagen? Ich war anfangs sehr skeptisch, zumal im Ligaalltag kurz zuvor bereits merklich die Sicherheitsschraube angezogen wurde. Allerdings packte auch mich das WM-Fieber. Diese Leichtigkeit auf den Straßen und Plätzen Berlins! Ich fühlte mich an den Sommer 1995 erinnert, als Christo und Jeanne-Claude den Reichstag mit silbernem Stoff verhüllt hatten, ich bei diesem Projekt vor Ort als „Monitor“ tätig war und hunderttausende Besucher in die Stadt strömten und ein fröhliches Fest feierten. Ähnlich locker und beschwingt ging es auch im Sommer 2006 zu. Das führte sogar soweit, dass ich mir auch eine schwarz-rot-goldene Kette umhängen ließ. Generell hieß es aber für Karsten und mich: Feiern mit jedem, der kam. Mit den Brasilianern, mit den Kroaten, mit den Schweden, mit den Engländern. Die Welt kam zusammen - und wir waren mitten drin.

Und dann? Meine persönliche Versöhnung? Pustekuchen! Danach ging es nur noch bergab. Es bröckelte immer mehr. Je mehr ich mich privat und beruflich beim Fußball reinhängte, desto größer wurden meine inneren Widerstände was FIFA, UEFA, DFB und die gesamte Kommerzialisierung betrifft. Der Fußballalltag, die erlebten Repressalien. Die Kommerzschraube, die gedreht wurde, bis es knirschte und knackte. Das DFL-Papier 2012. Die nicht ehrlich geführten Diskussionen um den kontrollierten Einsatz von Pyrotechnik, die aufgezogenen medialen Kampagnen gegen aktive Fußballfans. 

Und klar, dazu das neu geschnürte Gesamtpaket in Sachen Deutsche Nationalmannschaft. Fanclub gesponsert von einem Limo-Konzern. Kindliche Werbung mit Schokocreme, die ich unseren Kindern eher nicht zum Frühstück anbieten würde. „Die Mannschaft“. „Schland“. Eine Menge Kitsch. Nun das triste Schwarz, Weiß, Grau. Das mit der Brechstange erzwungene neue Image dieser „Mannschaft“. Die vom Verband (über den Fanclub) selbst koordinierten Choreographien. Für mich blieb einfach kein Aspekt mehr übrig, um ehrliche Gefühle, die wirklich vom Herzen kommen, spüren zu können. Und um Bier zu trinken, zu fachsimpeln, blöd zu quatschen und unter Leuten zu sein - dafür brauche ich nun mal kein Großereignis. Das kann ich jedes Wochenende haben. Während viele der WM entgegenfiebern, um sich mal richtig ausleben zu können, brauchen andere eher mal die Sommerpause nach hoch intensiven Monaten im Liga- und Pokalalltag. 

Während 2010 die Deutschen gegen Argentinien spielten, ging ich mit unserem Baby lieber am Ufer eines Sees spazieren, die „Kuhle Wampe“ als Ziel. Das Geböllere in der Ferne nach jedem deutschen Treffer berührte mich kaum noch. Jede Fackel, jeder Gesang bei einem Amateurspiel löst inzwischen bei mir hundertmal mehr Emotionen aus. „Den Rest“ gab mir persönlich dann wohl die EM in Polen im Sommer 2012. Während Karsten und ich vom Auftritt der irischen und kroatischen Fans in Poznan voll geflasht wurden, ergab der Anblick beim Halbfinale Italien vs. Deutschland einen eher traurigen Anblick. Mit Philipp düste ich im Eurocity nach Warschau. Einfach mal schauen, was los sein wird. Beim Aussteigen purzelten vielleicht zehn erkennbare deutsche Fans auf dem Bahnsteig herum. Das polnische Fernsehen hatte bereits Kameras aufgebaut. Es wurde wohl der große schwarz-rot-goldene Fan-Ansturm erwartet. Eine Journalistin griff sich ganz schnell drei bemalte Fans, um wenigstens einen einzigen O-Ton zu haben. In der Innenstadt sah es nicht viel besser aus, und auch vor dem Stadion wurde schnell klar, was für ein Publikum das Halbfinale besuchen würde. Von Ausnahmen natürlich mal abgesehen. Der Rest: Zahlungswillig. Aus aller Welt. Reines Entertainment. Ja, soll jeder machen wie es ihm beliebt, mein Ding ist das nicht!

Ja, ich bin das bockige Ost-Kind. Aufgewachsen in Ost-Berlin. Schon immer ne große Klappe gehabt. Immer quer gedacht. Ich lasse mir keine Vorschriften machen, mich nicht in Schubladen packen, mich nicht vereinnahmen, mich nicht für blöd verkaufen. Nun sei aber mal gut mit der Diskussion um Özil und Gündogan, die „Mannschaft“ soll wieder beklatscht werden? Wer möchte, bitte sehr! Ich nicht. Und schon gar nicht nach Anweisung von oben. Das ist doch echt lächerlich! Das hatten wir im Osten schon mal! Und davon mal ganz abgesehen: In letzter Zeit ist viel zu Bruch gegangen in unserem Land. Das stimmt sehr traurig. Die hart geführten Diskussionen führten in unserem Land zu heftigen Verwerfungen. Manches ist nicht mehr zu kitten. Wer glaubt da diesen albernen Bildern in der heutigen Zeitungsausgabe? „Die ersten sind schon ballaballa!“ Hach ja, sehr lustig! 

Aber auch ich möchte emotionalen Halt finden, den Anker werfen. Heimatgefühle spüren. Ehrliche Emotionen ausleben. Der unterklassige Fußball und auch der Amateurfußball in den ganz unteren Ligen - dieser hatte es mir zuletzt immer mehr angetan. Das Zurückfinden zu regionalen Identitäten. Das kann es womöglich sein. Ich habe seit 1990 die halbe Welt gesehen. Ich höre auf mein Herz. Ich fühle mich inzwischen am wohlsten in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin-Brandenburg. Eine WM? Eine „Mannschaft“? Kann jeder abfeiern. Ich kann das verstehen. Für mich gilt indes: Ein Greif, ein Bär - was will ich mehr?!

Davon ganz abgesehen: Wenn zig tausende Brasilianer, Isländer, Russen, Engländer, Kroaten oder Polen frenetisch jubelnd ihre Hymne singen werden, wird auch mich das gewiss nicht kalt lassen…

Fotos: Marco Bertram, Arvid Langschwager (Rostock), K. Hoeft, Arne Amberg

Artikel wurde veröffentlicht am
14 Juni 2018

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O
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Schaue ich seit Jahren schon nicht mehr. WM, EM, Championsleague, kann mir alles gestohlen bleiben!
A
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G
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S
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In diesem Sinne "Er, Sie, Du,Es,Wir" sind Weltmeister.

Die Schland / WM Verweigerer sind zum Glück in der Minderheit. Prost Ihr Säcke
G
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G
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Wieder mal ein echter Hammer von Euch!!
E
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