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Sensible Soccer bis zum Abwinken: Herzhafte Bambule in Rheindorf und Schlebusch

Der Gestank von Angstschweiß stand in der Luft. Süßlicher Achselmuff, käsige Stinkefüße und der Geruch von Flaschenbier bildeten eine unangenehme Mischung. An Lüften dachte jedoch niemand. Stress war angesagt. Und was für einer! „Loooos, komm doch, loooooos! Und jetzt! Mann ey!“ Schimpfen, Stöhnen, Füßestampfen und das permanente Knacken der Joysticks waren zu vernehmen. Dazu die Hintergrundmusik des Spiels. „Ich muss kotzen, scheiß Frankfurt! Du blöde Fot**!“ - „Hi hi hi, Arschkarte, du Bulette! Musste mehr mit Effet schießen! Nächste Runde? Biste bereit?“ Ein Schluck aus der Pulle. Durchatmen. Handflächen auf den grünen Jeans abwischen. „Ich will es jetzt! Ich will AC Mailand gegen Inter! Jetzt! Jetzt kriegst du auf die Fresse! Drecks Milan!“, tönte ich. „Schon gut…“, murmelte Jan und klickte sich durchs Menü. Nun stand alles auf dem Spiel. Über die Monate hinweg hatten sich drei absolute Hassduelle zum größten Kampf entpuppt. Das Mailänder Derby sowie die Duelle FC Barcelona gegen Real Madrid und Arsenal gegen Manchester United. Rein technisch waren die Mannschaften jeweils ausgewogen. Es lag also ganz allein an uns. 

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Alles oder nichts. Auch beim zig hundertsten Match standen uns die Schweißperlen auf der Stirn. Es stand viel auf dem Spiel. Es brachte einen an den Rand des Zumutbaren, wenn der andere beim einem Hassduell jubelte, provozierte und die Säge machte. So, Freundchen, heute koche ich dich ab, nahm ich mir fest vor. Dieses scheiß Milan würde sein schwarz-blaues Wunder erleben. Ich hatte mit Inter und Real im wirklichen Fußballleben eher wenig am Hut, doch beim Sensible Soccer mussten diese Teams herhalten, um Jan fertigzumachen. Das Spiel Hertha gegen Frankfurt hätte es spielerisch einfach nicht hergegeben. Wir benötigten bei diesem Computerspiel die besten Teams, die wirklich auf Augenhöhe kickten. Es hätte ja nix genutzt, mit Glentoran, das unser Kult-Team war, gegen Milan anzutreten. 

Es war an einem Novemberabend des Jahres 1995. Das Duell AC vs. Inter konnte steigen. Gespielt wurde in einer WG-Bude in Leverkusen-Rheindorf. Nachdem ich im Sommer 1994 nach drei Jahren im Rheinland wieder nach Berlin zurückgekehrt war, fuhr ich alle naselang nach NRW, um Karsten und Jan zu besuchen. Das Fußball-Dreigestirn füllte die verlängerten Wochenenden. Der reale Kick auf Asche unter Kumpels, der Besuch diverse Bundesliga- und Regionalliga-Partien sowie der Kick am Knüppel. 

„Knüppeln“ - dies wurde der Inbegriff für das Spielen an der „Brotbox“. Jans „Amiga“ kam von der Form wie eine Brotbox daher, wurde aus dem Schrank geholt, dann vom Kabelgewirr befreit und an den auf einem Karton stehenden Fernseher gestöpselt. Diskette rein, Sensible Soccer laden, das Menü bedienen und zu den Joysticks greifen. Allein diese waren eine Wissenschaft für sich. Jan und ich waren keine filigranen Kicker. Wir waren Knüppler, die immer Vollgas gaben, alles wegtraten und den direkten Weg zum gegnerischen Tor suchten. Vernichten! Platt machen den Gegner! Und dabei ging so manch ein Joystick zu Bruch. Mal platzten Schrauben heraus, mal brach eine Feder, mal war der ganze Joystick zertrümmert - und zwar dann, wenn dieser vor Wut und Verzweiflung in die Ecke gefeuert wurde.

Weiß Gott, ich kann es bestätigen. Es ging bei unseren Duellen nicht nur um Leben oder Tod. Es ging um noch mehr! Wir hatten uns über die Jahre charakterlich und unsere Spielweisen so gut kennengelernt, dass es richtig eng zuging und wir zudem wussten, wo man ansetzen musste, um den Gegner in der Hitze des Gefechtes so richtig schön aus der Reserve zu locken. Und das war das Problem: Zwar war es hilfreich, im wahren Adrenalinrausch zu knüppeln, doch durfte man bei aufkommender Wut niemals die Übersicht verlieren und blind in einen Konter rennen. Ein beliebtes Mittel: Gleich die Abstöße abfangen, angreifen und trocken von schräg links oder rechts vollenden. 

Wohl denn! AC Milan gegen Inter stand mal wieder an. Die Taktik eingestellt (5-2-3 war gar nicht mal so übel), ein letzter Blick auf die angezeigten Sterne hinter den aufgestellten Spielern - und schon konnte es losgehen. Putzig stiefelten die beiden Mannschaften auf den grünen Rasen. Ein kurzer Pfiff - Sport frei! Achtsamkeit ab der allerersten Sekunde war gefordert. Allzu oft wurde man von einem schnellen Pass nach vorn überrascht, wo sich einer der beiden Außenstürmer in Position brachte. Herrlich! Die simplen Fangesänge im Hintergrund und dazu das dumpfe Ballgeräusch beim Abspiel. Das Raunen, was wie ein „Oooh“ klang, wenn eine Tormöglichkeit ausgelassen wurde. Es konnte süchtig machen. Aber was heißt „konnte“? Es wurde eine Sucht. Egal, ob allein die ganze Nacht am Amiga (kein Wunder, dass der Computer übersetzt „Freundin“ hieß) oder zu zweit stundenlang gegeneinander. Beides hatte gefetzt, beides war die tiefste Erfüllung. Vorausgesetzt, es flutschte einigermaßen.

Mit Inter gegen den AC Milan konnte ich schon mal Probleme bekommen. Milan war saustark aufgestellt, und Jan wusste die Vorzüge dieses Teams zu nutzen. Da half nur die brutalste Form des Knüppelns. So gelang es schon mal, einen gegnerischen Spieler tatsächlich breitzutreten. „Meine Fresse, was für Geholze. Dieses Piss-Inter weiß sich nicht anders zu helfen!“, meckerte Jan. „Schnauze, deine kack Mannschaft hat es nicht anders verdient! Heute wirst du richtig abkacken!“ Und als dann tatsächlich der Ball im Netz lag und aus den Fernsehlautsprechern der Torjubel ertönte, gab es kein Halten mehr! Schenkelklopfen, auf den Tisch hauen, auf der Stelle springen, die Säge machen, geballte Fäuste - das volle Programm! Ein Urschrei hallte durch Leverkusen-Rheindorf.

Begonnen hatte alles im Herbst 1991 im Ausbildungswohnheim in Leverkusen-Schlebusch. In den dortigen Räumlichkeiten fand zusammen, was zusammen gehörte. Manch einer aus dem Osten wurde in den Nachwende-Wirren nach Leverkusen gestrudelt, um beim dort ansässigen Chemiekonzern eine Ausbildung zum Chemikanten, Schlosser oder Elektroniker zu machen. Bereits nach ein, zwei Wochen durften die ersten Ost-Berliner ihre sieben Klamotten nehmen und in einer anderes Wohnheim nach Dormagen ziehen. In Schlebusch galten strenge Regeln, doch wer wollte diese schon einhalten? Heimlich wurde abends die Bacardi-Mischung gemacht und auf den Tischen getanzt, bis, ja bis die beiden Alten - sprich die Wohnheim-Eltern - in der Tür standen. Die Alte zeterte wie wild, und ich kippte ihr beim Vorbeigehen - natürlich „ganz ausversehen“ - einen Schluck Rum-Cola auf ihren weißen Kittel.

Ich war auch ein Kandidat für einen Umzug, doch noch konnte ich mich halten, wenngleich wir nur auf Krawall gebürstet waren und ständig Blödsinn im Kopf hatten. Im Gemeinschaftsraum befüllten wir Kondome mit Duschgel, auf dem Flur spielten wir Basketball, ich färbte meine Haare hellblond, im nahen Wald ballerten wir mit zuvor gekauften Schreckschussknarren herum, zu dritt auf der Simson ging es nachts durch die Straßen, um hier und dort eine Leuchtkugel abzufeuern. Ja, wir waren hübsch bekloppte Ossis wie es im Buche steht. Den Jan mal ausgenommen. Er zeigte sein heißblütiges Temperament nur, wenn Karten gezockt und vor allem, als die ersten Computer erworben und die ersten Versionen von Sensible Soccer eingelegt wurden.

Im Jahr 1992 brachte „Renegade" die erste Version der Fußballsimulation Sensible Soccer auf den Markt. Anfangs nur für für den Amiga und den Atari ST, später dann auch für den für PC und verschiedene Videospielkonsolen. Wann genau Karsten, Jan und ich das erste Mal gemeinsam dieses Spiel zockten, kann ich nicht genau sagen. Fakt ist, dass es Ende 1993 / Anfang 1994 langsam aber sicher richtig zur Sache ging. Zu jenem Zeitpunkt erreichte die Stimmung im Wohnheim eh ihren Siedepunkt, und nachdem ich beim Toben eine Zimmertür eingetreten hatte und wir wieder einmal auf den Fluren herum gegrölt hatten, kam der Moment, dass mein Kopf rollen sollte. Ich hatte ganze 24 Stunden, um meine Sachen zu packen und ein neues Zimmer zu suchen. Zwar fand ich fix eine neue Bleibe in einem Wohnheim im Zentrum der Stadt, doch das Problem war: Wir wollten weiterhin gemeinsam Fußball zocken.

Mit Schlafsack schlich ich mich heimlich in Schlebusch ins Wohnheim und verschanzte mich in Jans Zimmer. „Brotkiste“ an, Joysticks bereit - auf geht´s! Wir knüppelten die halbe Nacht, lautstarken Jubel wussten wir dieses Mal zu unterbinden. Wir spielten abwechselnd gegen den Computer und laberten dabei über dieses und jenes. Irgendein Idiot muss uns allerdings verpfiffen haben, denn am frühen Morgen stand die Alte vor der Tür. Nun hieß es auch für Jan: Sachen packen und ein rascher Umzug. Gut so, denn nun wohnte er im Neubaublock nur zwei Etagen über mir. Knüppeln bis der Arzt kommt!

Die Hochphase gab es dann, als wenig später die Version „Sensible World of Soccer 95-96“ auf den Markt kam. Was für ein Quantensprung! Bei wikipedia ist zu lesen, dass Chris Chapman, der Hauptprogrammierer, einst erklärte, dass dies die Version war, welche sie eigentlich machen wollten. Es gab nun eine größere Auswahl, bessere taktische Möglichkeiten, coolere Gesänge. Für mich war diese Version das Nonplusultra. Was liebte ich die kleinen tippelnden Spieler und die Schlichtheit dieses Spiels! Genial! 

Immer wieder fuhr ich zu jener Zeit für ein paar Tage rüber zu Jan, der inzwischen mit einem Kumpel in Rheindorf eine eigen Butze hatte. Der Kasten Kölsch stand bereit, der Fernseher stand hinter dem Schreibtisch auf einem Karton, ein Nachschub an Joysticks wurde besorgt. Jan fand das ultimative Modell, das selbst derbstes Knüppeln und Zerren standhielt. Er war aus transparentem Plastik, Knüppel und Knöpfe waren in Braun und Orange gehalten. Aber auch dieser ging eines Tages kaputt. Dann wurde in einem Karton gewühlt und aus dem Kabelsalat ein herkömmlicher schwarz-roter Joystick hervorgezerrt. Kam es mal zu einem Elfmeterschießen, wurde rasch ein anderes Modell eingestöpselt. Und zwar jenes, mit dem man mit dem kugelförmigen Knüppel klar definiert nach rechts oder links oben drücken konnte. Perfekt, um in den meisten Fällen sicher einzulochen. Es sei denn, man hatte es mit Milan-Keeper Sebastiano Rossi zu tun. „Verdammte Scheiße noch mal! Ich habe die Schnauze voll, kannste echt knicken! Dieser Mist hier hakt doch voll!“

Durchatmen. Der Griff zum Kölsch-Kasten. Ein Blick durch das Fenster auf die durch die Nacht fahrende Regionalbahn. Hilft ja nix. „Was spielen wir jetzt? Wunschliga? Wen nimmste?“

Nachdem ich ab 1997 mit drei Freunden im Berliner Umland verstärkt an zwei Segelbooten bastelte, ließ die Zeit das Zocken am Amiga nicht mehr zu. Eines Tages gab Jans Amiga eh den Geist auf. Das war´s dann. Lebe wohl! Später - nach dem Segelprojekt - konnte ich mit den neueren Versionen von Sensible Soccer nix mehr anfangen. Ganz zu schweigen mit all den anderen auf den Markt gekommenen Fußballanimationen. Eine andere Art der Fortsetzung unserer persönlichen Fußball-Bambule gab es im Herbst 2000 bei der Fahrt mit der Transsibirischen und Transmongolischen Eisenbahn. Während der fünf Wochen spielten Jan und ich die gesamte Bundesliga-Saison aus - und zwar mit mit Rommé. Zur Eskalation kam es dann nach einem hitzigen Gefecht in einer vergitterten Erdgeschosswohnung in Ulaanbaatar…

Apropos, wer „Sensible Soccer“ im Netz sucht, wird leicht fündig:

Fotos: Marco Bertram, K. Hoeft

> Randale totale im mongolischen Hostel: BL-Saison 2000/01 mit Rommé durchgespielt

Artikel wurde veröffentlicht am
18 Oktober 2018

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  • Europapokal

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Bambule :-*
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Tränen gelacht... Mal wieder so herrlich
CL
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Fußballterror & Randale :-D
Generation eSport der 1990er.
E
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