„Also so was haben wir hier noch nie erlebt!“, lauteten die Worte eines entsetzten Vereinsmitarbeiters. Gut möglich, schließlich spielt der SC Staaken 1919 seine allererste Oberligasaison, und demzufolge waren die Rostocker zuvor noch nie zu Gast in Staaken, das am westlichen Stadtrand Berlins liegt. Keine Frage, auch auf den Auswärtstouren der Amateure des F.C. Hansa Rostock kann es schon mal bunt, laut und äußerst lebhaft werden. So wurden in der jüngeren Vergangenheit manche Touren legendär. Die Sextourismus-Sause nach Frankfurt/Oder (mit Abstecher nach Slubice), als ein Fan nackt und völlig schmerzfrei im Stadion der Freundschaft auf der Zaunkrone saß, die Auswärtsfahrt nach Strausberg, als auf der gegenüberliegenden Wiese mächtig Pyrotechnik angezündet wurde und daraufhin sogar polizeiliche Einsatzkräfte aus Berlin angefordert wurden (mit dem Bier in der Hand blieben die meisten Hansa-Fans stabil), und nicht zu vergessen die Wasserschlacht beim Sommerkick bei Hürtürkel auf dem Sportplatz am Hertzbergplatz in Berlin-Neukölln, als sich kreischend und lachend die herangeschleppten Eimer gegenseitig übergegossen wurden. Die angereisten Hansa-Fans hatten stets ihren Spaß, mit weniger Freude betrachteten jeweils die Gastgeber das lebhafte Treiben, wobei man im Großen und Ganzen damals beim 1. FC Frankfurt - im Gegensatz zu Strausberg und Hürtürkel - ziemlich gelassen blieb.
Hansa Rostock II zu Gast in Staaken: Eine Flasche Chardonnay und turbulente Szenen am 1. Advent
HotAm gestrigen Nachmittag stand nun das Auswärtsspiel des F.C. Hansa Rostock II beim Aufsteiger SC Staaken 1919 an. Bereits beim Aussteigen aus der Regionalbahn war klar, dass die Mannschaft mit lautstarker Unterstützung rechnen durfte. Und als 45 Minuten vor Anpfiff das Vereinsheim betreten wurde, ließen es die Ersten bereits mächtig laufen. Einer lag in der Ecke und machte ein Nickerchen, vor ihm eine Tasse Tee. Das wird schon! Ein anderer kippte mal eben einen ganzen Plastikbecher voll Schnaps in den Rachen. Wenig später machte er sich am Ausgang böse lang, stand aber später wieder mit auf den Rängen. Die Grundstimmung: Feucht fröhlich, aber keineswegs aggressiv. Es war 1. Advent, Hansa hatte am Freitag 2:0 in Halle gewonnen - das musste gefeiert werden. Auf dem Fernseher liefen die soeben angepfiffenen Zweitligaspiele als Konferenz. Union führte recht rasch 1:0 in Bochum, die SG Dynamo Dresden machte gegen Aue von Beginn an richtig Alarm. Schnacken über Fußball, noch ein Pils, dann hinaus in die Kälte.
Draußen auf der kleinen Tribüne wurden die Fachgespräche weiter geführt. Und klar, der Alkohol floss in Strömen. Und das in jeglicher Form. Leckeres Bier vom Fass, zwischendurch einen guten Korn, und als Krönung machte einer eine Flasche Chardonnay auf. Saufen mit Stil. Große Erheiterung. Weiter ging es mit Schnupftabak. Wer will, wer will, wer hat noch nicht?! Kein Wunder, dass der spätere Nachmittag und der frühe Abend im Geiste ein kleines bisschen verschwommen wirken. Das Spiel wurde aus dem Augenwinkel beobachtet, der Smalltalk am Rande des Kunstrasenplatzes nahm einen voll in Beschlag. Und das, was mit einem halben Auge erfasst wurde, ließ jetzt nicht gerade den Puls ansteigen. Bis zur Pause zumindest.
In dieser setzte eine kleine Völkerwanderung in Richtung Vereinsheim ein. Alle hinein in die warme Stube, und die Damen hinter dem Tresen hatten gut zu tun. Bier für die Hansa-Fans, Schnäpschen mit Zuckerwürfel im Gläschen für die Heimzuschauer. Und da auch die Rostocker Reisegesellschaft in der Pause nicht nur beim Bier bleiben wollte, wurden die berühmten Fläschchen mit Kräuterlikör geordert. Austrinken und dann die Nummer auf dem Flaschenboden prüfen. Wer die niedrigste hat, muss die Runde bezahlen. Unentschieden. Ein Stechen zu zweit. 45:46! Das gibt es doch gar nicht! Am Ende legten dann doch alle das nötige Kleingeld zusammen.
Ein Blick auf die Uhr - ab an die frische Luft! Der nächste Becher stand schon bereit. Leichter Schneefall setzte ein, auf dem Kunstrasen brachte Hansa II nicht allzu viel zustande. Staaken wusste dies zu nutzen und erzielte in der 71. Minute den Treffer zum 1:0. Die Spieler zeigten ihre Freude und feierten vor der Rostocker Reisegesellschaft ab. Langsam kam das Blut in Wallung. Mit lautstarkem „Hansa Amateure!“ feuerten die rund 40 bis 50 Hansa-Fans ihre Mannschaft an. Nur vier Minuten später legte Fabian Engel mit der Rückennummer 20 nach. Logisch, es kann jeder Spieler jubeln wie er möchte, doch Provokationen vor einer stabilen Rostocker Truppe ist vielleicht nicht wirklich das Optimum. Es wurde hitzig, und die Nummer 20 befand sich nun im Fokus der Hansa-Fans. Die Grundstimmung war nicht mehr die beste, die entspannte Atmosphäre am Advent war ein klitzekleines bisschen futsch.
Vier Minuten vor Schluss machte Robert Grube den Anschlusstreffer für Hansa II klar, und es keimte die Hoffnung auf, dass vielleicht noch der Ausgleich bejubelt werden könnte. Die letzten Minuten verrannen, und den Ausgleich sollte es nicht mehr geben. Aufgrund der Provokationen wollten nach Abpfiff einige Hansa-Fans die Staakener Spieler - insbesondere die Nummer 20 - sich mal kurz zur Brust nehmen. Es fanden sich jedoch genug Leute, die schlichten konnten. Allen voran der Torwarttrainer des SC Staaken 1919, der das Problem mit moderaten Worten großartig lösen konnte. Ein paar deutliche Worte bekam die Nummer 20 später noch von den eigenen Leuten zu hören.
Was soll´s?! Alle wieder ins Warme! Im Nachbarraum des Vereinsheims begann die Pressekonferenz, und ein paar Hansa-Fans hatten es geschafft sich reinzuschieben. Spielanalyse der Trainer, am langen Tisch wurde bereits aufgedeckt. Die Spieler des SC Staaken bekamen zu futtern, und Verbalgefechte nach der PK blieben nicht aus. Rudelbildung in Basler-Manier. Diskussionen. Großes Lob an Staaken! Es wurde die Ruhe bewahrt. Es konnte alles geschlichtet werden, die Polizei wurde nicht gerufen, einige Hansa-Fans tranken später noch zwei Stunden lang am Tresen gemütlich ein paar weitere Bier. Irgendjemand klopfte mir später auf die Schulter. Muss man doch alles nicht so ernst nehmen. Und ja, richtig. Nach dem Trubel wieder runterfahren, bei einem frisch Gezapften alles bekaspern. Was wäre der Fußball ohne Emotionen? Fußball ohne Emotionen wäre quasi tot. So lauteten meine letzten Worte des Abends, bevor ich im Dunkeln allein in Richtung Bahnhof stapfte…
Fotos: Marco Bertram
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