Rostock vs. St. Pauli: Wenn der Ausgleichs-Torschrei bereits auf den Lippen liegt…

Rostock vs. St. Pauli: Wenn der Ausgleichs-Torschrei bereits auf den Lippen liegt…

Alles, aber bitte kein „Papa, mir ist langweilig!“. Selten hatte ich eine Tour an die Küste samt Stadionbesuch dermaßen akribisch vorbereitet wie die am vergangenen Samstag. Nichts sollte schief gehen, nichts sollte einer unvergesslichen gemeinsamen Tour ins Rostocker Ostseestadion in die Quere kommen. Keine Zugverspätung, keine schlechte Laune, keine vergessene Kleinigkeit - und schon mal gar nicht etwaige aufkommende Langeweile! Das, was mir als Kind in den 80ern leider verwehrt blieb, sollte nun in die Realität umgesetzt werden. Und zwar nicht auf einem der vielen Sportplätze in Berlin-Brandenburg, sondern endlich gemeinsam in einem richtigen proppenvollen Stadion - dem Ostseestadion!

Nachdem der größere Sohn im Sommer 2016 das erste Mal im Ostseestadion war - damals war das Jubiläumsspiel gegen den 1. FC Union Berlin seine Premiere - sollte es nun für den Jüngeren soweit sein. Dominik war damals sechs, Felix ist nun sieben Jahre alt - ein prima Einstiegsalter für das Duell F.C. Hansa Rostock vs. FC St. Pauli. Nachdem mich der Sohnemann immer wieder mit hübschen, im Hort angefertigten Zeichnungen beglückt hatte - ein Kreuz durch St. Pauli, weil es nicht richtig ist, und ein Häkchen für Hansa, weil es richtig ist -, wählte ich ganz bewusst dieses Duell aus. Wie gesagt, es sollte ja keine Langeweile aufkommen. Es ist schließlich ein Unterschied, ob man am Rande eines Sportplatzes XY rumflitzen und Stöcker sammeln kann oder man mehr oder weniger ruhig auf einem Tribünensitz verweilen muss. Oder besser gesagt, darf! 

Wohin es gehen würde noch weit vor dem Morgengrauen, wurde ihm nicht gesagt. Ein größerer Ausflug stünde an. Dass wir Hansa-Mützen trugen, fiel nicht weiter auf, da dies im Winterhalbjahr im Alltag sehr oft der Fall ist. Die Schals wurden indes im Beutel ganz unten verstaut. Zwischen einer ganzen Ladung Capri-Sonnen, geschmierten Toastscheiben, Kaubonbons und einer Rolle Kekse. Aus dem Plan, sich eine Fahrt mit dem IC zu gönnen, wurde jedoch nichts. Vielmehr musste aufgrund der Bauarbeiten mit U- und S-Bahn bis Oranienburg gefahren werden, um dort den bereit stehenden RE5 zu entern. Der Kleine staunte, dass es an jenem Morgen noch länger dunkel blieb als es im Alltag auf dem Weg zu Hort und Schule der Fall ist. Wie gesagt, nix sollte dazwischen kommen. Von daher wurde lieber ein Zug früher genommen. Eine Signalstörung, eine klemmende Tür oder irgendwelche Blödel, die auf den Gleisen spielen, hätten uns gerade noch gefehlt.

In Rostock angekommen, stieg auf dem Nachbarbahnsteig gerade die Rot-Sport-Fraktion aus vom Hamburger Stadtteilklub aus. Noch ahnte der Kleine nix, erst als am Vietnamesen-Imbiss am Steintor eine Cola getrunken wurde - zuvor gab es das obligatorische Gruppenfoto an einem der beiden Greifen -, wurde die Katze aus dem Sack gelassen. Sprich, die Schals wurden aus dem blauen Beutel mit dem Leuchtturm drauf geholt. Ein, zwei, drei - dabei! Zweimal Seide - der aus dem dicken Stoff mit Fußball drauf für den Kleinen. Den hatte sein großer Bruder bereits beim besagten Spiel im Jahr 2016 mit dabei. Das freudige Lächeln der Kinder ließ jetzt bereits meine Augen feucht werden. Wie stolz der Kleine seinen Schal umlegte und strahlte - unbezahlbar! Mit dem Großen schloss ich aus Spaß eine 10-Euro-Wette ab. Es werden Freudentränen fließen - 100pro! Bei allen! Gebongt! (Apropos, ich hatte die Wette gewonnen...)

Nach einer Runde zum Stadthafen und zur Roten Erde ging es schließlich gen Ostseestadion, wo es auf dem Vorplatz bereits hier und dort aus einigen Töpfen qualmte. Vier Schüsse auf eine Torwand, ein Foto mit der Möwe, ein Foto mit Rauchtopf - dann konnte es ins Stadion gehen. Der Große wurde zum Eingang der Nordtribüne, wo er seinen Sitzplatz hatte, gebracht. Aufregung wie bei der Klassenfahrt oder wie beim Check-in auf einem Flughafen. Die Treppe hoch und noch einmal winken. Wir hatten indes zwei Sitzplatzkarten auf der Osttribüne ergattern können und standen ein paar Minuten in der Schlange. Und tatsächlich kam ganz leise ein „Papa, mir ist langweilig!“ Gut, das konnte ich verstehen. Warten ist für Kinder immer blöde. Mit einem Mal kam Tempo rein und ruckizucki waren wir dann drin.

Wirklich 1a ist, dass man Knabbereien und Getränke in Tetrapacks mit hineinnehmen darf. Das erleichtert die Sache mit einem kleinen Kind ungemein. Tatsächlich blieben wir die nächsten zweieinhalb Stunden auf unseren Sitzen - vor lauter Aufregung blieb sogar die Caprisonne im Beutel. Die Kaubonbons waren indes der Renner, da mit ihnen ein wenig die helle Aufregung begrenzt werden konnte. Beim „Hansa forever“ wurde vom Kleinen der Schal hoch, höher, am höchsten gehalten - und das mit unglaublichen Stolz. 

Etwas konfus begann indes die Partie als solches. Nachdem es gegen halb zehn noch kurzeitig geregnet hatte, schien nun die Sonne mit erstaunlicher Kraft. Sie stand schräg über der Südtribüne, sodass die Plattenbau-Choreo gar nicht im vollen Maße begutachtet werden konnte. Aufsteigender Rauch und noch wuselnde Zuschauer, die hier und dort mit Bier und Wurst ihre Plätze suchten, erschwerten von der Osttribüne aus den Blick aufs Geschehen. Klare Sicht war immerhin, als der Schiedsrichter in der neunten Minute auf den Punkt zeigte. Elfmeter für den F.C. Hansa Rostock! Besser konnte es nicht laufen! Rein das Ding - und niemand konnte einem mehr das Gefühl nehmen, die Führung gegen St. Pauli zu genießen. Egal, wie kacke der Tag gegen den Tabellenführer noch laufen würde - der Jubel würde bei beiden Jungs unvergessen bleiben.

Ich stellte den Siebjährigen neben mir auf den Sitz und legte den Arm um seine Schultern. José Francisco Dos Santos Júnior lief an und schob souverän unten rechts ein. 1:0 für Hansa - und das Stadion stand Kopf. Geilomat! Besser konnte es wirklich nicht laufen! „Schei** St. Pauli! Schei** St. Pauli!“ hallte es zig tausendfach von den Rängen, und ich war mir sicher, dass mein Großer auf der Nordtribüne auch vor Freude völlig abging. Aber gut, meine beiden Kinder bekamen am Samstag alle - teils grausamen - Facetten des Fußballs zu sehen. Einen Totalausfall von der 15. bis zur 23. Minute, der einen wirklich sprachlos machte. Aus der Distanz zog Manolis Saliakas nach einer Viertelstunde einfach mal ab, der Ball schlug links ein und Hansa-Keeper Kolke konnte nur regungslos schauen. Bitter! Aber meine Fresse, ja, zugegeben, das war schon ein schönes Tor. Nur leider eins von St. Pauli.

Gerade noch erklärte ich Felix, dass alles halb so wild sei, da schlug es erneut im Rostocker Gehäuse ein. Hereingabe von der rechten Seite und Marcel Hartel machte das 2:1 für die Hamburger in der 19. Spielminute. Was für ein hässliches Ohnmachtsgefühl. Unten vor der Osttribüne tobten sich die St. Pauli-Spieler samt Ersatzbank vor Freude aus, und ich musste mich innerlich ganz schön am Riemen reißen. Ist man im Innenraum, so hat man auch in solch bitteren Momenten zu tun und fertigt weitere Aufnahmen an. Als Zuschauer auf den Rängen zu sitzen, ist für mich eher selten Alltag - und die Gegentreffer waren wirklich schwer zu ertragen. An diesem Nachmittag fühlten sie sich gleich dreifach scheiße an. Ja, ich muss tatsächlich „scheiße“ schreiben. 

Und es wurde (vorerst) noch beschissener! Ich muss es einfach mal so unjournalistisch ausdrücken. Nur vier Minuten später machte nämlich der FC St. Pauli einen dritten Treffer und im Gästeblock wurde mit etlichen roten Fackeln eine erneute Party gefeiert. Oladapo Afolayan zog von der Strafraumgrenze ab, knapp am linken Pfosten rollte das Leder ins Tor. Unfassbar! Hansa drohte eine richtige Klatsche. Eine Demütigung sondergleichen. Mir wurde in der Magengegend schon richtig übel - diese Gefeiere dort unten ging mir richtig auf den Zünder. Boah, und wenn ich all die Kommentare auf TikTok und Instagram nach der Partie dachte. Bitte nur kein 1:6 oder solch ein Mist! Bitte, bitte wenigstens Schadensbegrenzung!

Das Spiel beruhigte sich etwas, St. Pauli kam vereinzelt zu weiteren guten Möglichkeiten, doch nun war Kolke hellwach und verhinderte Schlimmeres. Los, kommt, in Halbzeit müsste doch noch etwas gehen! Irgendwie der Anschluss - und dann würde noch einmal richtig Leben in die Bude kommen! Gesagt, getan! Nachdem die Gäste das 4:1 auf dem Fuß hatten, aber glücklicherweise nur das linke Außennetz trafen, wurde Hansa in der Schlussphase zunehmend stärker. In der 80. Minute wurde erneut auf den Punkt gezeigt. War es in der neunten Minute ein doppeltes Handspiel, so war es dieses Mal ein Foul, das zum zweiten Strafstoß des Tages führte. José Francisco Dos Santos Júnior übernahm erneut die Verantwortung, und der Brasilianer verwandelte auch diesen Elfer! Die Hütte bebte - nur noch 2:3! Los jetzt hier!

Und es ging los! Perea brachte den Ball genial rein und der bisherige zweimalige Torschütze setzte völlig freistehend zum Kopfball an! Das wird es - das musste es sein! Der Torschrei lag bereits auf den Lippen! Gleich schlägt der Ball knapp unter der Latte ein - und die rund 25.000 Hansa-Fans würde abgehen wie Schmidts Katze! Ich würde die Fäuste ballen, meinen kleineren Sohn umarmen und anschließend auf den Arm hochnehmen. Aber nein! Der Ball sauste über die Latte hinweg. Weiter! Noch blieb Zeit! Nächste Chance! Wieder der Torschrei auf den Lippen! Kevin Schumacher zog ab - und wir alle sahen den Ball bereits rechts unten einschlagen! Ein Kreischen um mich herum. Entsetzte Gesichter. Die Arme wurden über die Köpfe zusammengeschlagen. Man drehte sich um und schaute die Sitznachbarn, die inzwischen alle standen, erschrocken an. Das hätte es doch sein müssen! Der Ball trudelte jedoch am Pfosten vorbei. Verdammte Axt! 

Es blieb leider Gottes beim 2:3, doch war ich unendlich dankbar über die irre spannende Schlussphase, die über die Niederlage etwas hinweg tröstete. Es hätte ja auch ein beschämendes, langweiliges 0:4 werden können, so aber erlebten meine Kinder ein am Ende doch sehr aufregendes Spiel mit, das sie mit Sicherheit niemals vergessen werden. Nachdem sich am Stein vor der Nordtribüne getroffen wurde, ging es mit einem Bus zum Hauptbahnhof. Der lässige Busfahrer ließ es sich später nicht nehmen, den aussteigenden Hansa-Fans ein schönes Wochenende zu wünschen und ein „Schei** St. Pauli!“ nachzulegen. Ein Lächeln auf den Gesichtern der Kids. Ein Lächeln bei uns allen.

Entspannt ging es im Regio zurück nach Oranienburg, und beim Umsteigen in die S-Bahn durfte bestaunt werden, wie viele Hansa-Fans in Berlin-Brandenburg ansässig sind. Auf der Fahrt gen Innenstadt fühlte sich das Ganze immer noch wie eine Fußball-Sonderfahrt an. Wahrlich mit allerletzter Kraft erreichte der kleinere Sohn die heimische Wohnung. Abendbrot? Nein! Nur noch ins Bett! Glücklich wurde sich nach einer 15-stündigen Tour ausgestreckt - mit einem Lächeln wurde eingeschlafen. Noch einmal wurden bei mir vor Rührung die Augen feucht. Vielen Dank an Heiko und Ronny, die uns diese Sause in Form der Tickets ermöglicht haben! 

Fotos: Marco Bertram, Aumi

> zur turus-Fotostrecke: F.C. Hansa Rostock 

Stadionname:
  • Ostseestadion
Artikel wurde veröffentlicht am
27 November 2023
Spielergebnis:
2:3
Zuschauerzahl:
27.100
Gästefans
2500

Ligen

Inhalt über Liga
2. Bundesliga

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Braunes Rostock
Kein Wort des Autors zu der widerlichen Choreo der Rostocker mit dem klaren rechten Bezug zum Sonnenblumennhaus? Wie traurig und armselig, das mit keinem Wort zu erwähnen.... Aber von Hansa Fans zu erwarten, sich gegen rechten Hass zu positionieren, ist wohl einfach zu viel verlangt...traurig und beschämend, welche Fans dieser Verein anzieht.
GR
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G
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Guter Beginn, dann ein totaler Einbruch, am Ende unvermutet die Chance auf einen Punktgewinn. Jetzt gilt es in Karlsruhe und gegen Schalke!
E
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T
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