Union Berlin vs. Hansa Rostock: Versteckte Pfade, ein Rekordflitzer, nervöse Polizisten

Union Berlin vs. Hansa Rostock: Versteckte Pfade, ein Rekordflitzer, nervöse Polizisten

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Ein Leben lebt von Anekdoten. Drehen wir gedanklich die Zeit um 34 Jahre zurück. Sommer 1988. Bei den Fotochemischen Werken in Berlin-Köpenick, die zu ORWO gehörten, machte ich meine zweiwöchige Ferienarbeit, um ein bisschen Kohle zu verdienen, die später in Amiga-Schallplatten, Bravo-4-Seitenposter und in Fressorgien beim Bäcker oder der nächsten HO-Kaufhalle investiert werden konnte. Im Alter von 15 arbeitete ich unten im Rotlichtkeller, wo die bereits verpackten Röntgenfilme auf einem Fließband aus einem dunklen Loch herauskamen und auf einen Rollwagen gestapelt werden mussten.

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Was für eine Arbeit! Die Augen mussten sich zuerst ein paar Minuten an das rötliche Schummerlicht gewöhnen, erst dann war es möglich die Tätigkeit in den Katakomben zu starten. Wie das so war mit der Technik in der DDR, pfiff diese teils auf dem letzten Loch. An einem Nachmittag versagte eine Lichtschranke, der Nachschub stoppte nicht, und auch teils seitlich aufgerissene flache Röntgenfilm-Päckchen wurden ohne Ende aus dem Loch gespuckt. Ich kam nicht mehr hinterher, der Wagen war bereits überfüllt und die ersten Röntgenfilme fielen auf den Boden. Ey, halt! Stop! Ich brüllte. Niemand hörte mich. Erst nach einigen Minuten kam eine Meisterin herbei, nölte herum und bat mich nach oben ihr Büro. Was das für ein Chaos gewesen sei, wurde ich gefragt. Meine Antwort brach aus mir heraus: „Wat kann ich denn dafür, dass in diesem scheiß Sozialismus nix funktioniert??!!“ 

Folgen hatte das Ganze nicht. Mein Vater, der als Elektromonteur arbeitete, reparierte kurze Zeit später wieder einmal die Lichtschranken und den Notfallschalter und klopfte mir lachend auf die Schultern. Locker bleiben, immer locker bleiben! Hätte ich damals gedacht, dass ich genau dort am Haupteingang des einstigen FCW-Werksgeländes über 34 Jahre später aus dem Bus aussteigen würde, um zu einen spontanen Sammelplatz der Fans des F.C. Hansa Rostock zu gelangen?! Wohl kaum. Verrückt, dass gestern „mein“ 8er Bus (heute Linie 108) nach Waldesruh, der Bellevuepark und das einstige Werksgelände eine Rolle spielen sollten.

Das Testspiel 1. FC Union Berlin vs. F.C. Hansa Rostock stand am gestrigen Nachmittag auf dem Programm, und das Gästekartenkontingent war innerhalb von 12 Minuten ausverkauft. Schnell stand fest, dass Rostock mit ordentlicher Kapelle nach Berlin-Köpenick reisen würde. Über diverse Kanäle war indes zu vernehmen, dass Union mobil machen und sich am Hauptmann von Köpenick treffen würde. Man wolle versuchen, die Rostocker nicht zum Stadion zu lassen. Zudem war zu hören, dass der aktive Kern der Fanszene des 1. FC Union Berlin nicht ins Stadion wolle, sondern nur draußen sein Glück versuchen würde.

Gut gestärkt nach einigen Brötchen und ein, zwei Bier ging es mit leicht mulmigem Gefühl mit zwei Bussen gen Köpenick. Vorbei am S-Bahnhof Köpenick und an der Haltestelle „Alte Erpe“ gelangten wir zum Bellevuepark, der sich direkt gegenüber des besagten einstigen Werksgeländes befindet. Wie oft bin ich dort als Kind mit meiner Mutter durch den Park gelaufen, um mein Papa von der Schicht abzuholen?! Häufig war seine große Umhängetasche gerammelt voll mit Gläsern und kleinen Päckchen. Als Schichtarbeiter bekam man gratis Essen, und was übrig blieb, wurde in Schraubgläser und Papier gepackt. Joghurt, Bullenleber (kein Witz!), Milch und andere Süßspeisen.

Eine Bullenleber kauften wir gestern bei Kaufland nicht ein, doch das eine oder andere Getränk wurde noch vernascht. Auf dem Parkplatz vor Kaufland trafen die Fahrzeuge von der Küste ein, und nach und nach fand sich ein ordentlicher Mob Hansa-Fans zusammen. Die Polizei traf erstaunlich gemächlich ein, von etwaigen Unionern war noch nichts zu sehen. Ein Angriff aus der gegenüber liegenden Ruine oder dem Bellevuepark? Vorstellbar war alles. Nach einer Durchsage der Polizei, dass Fahrzeuge, die nicht zu Käufern bei Kaufland gehörten, abgeschleppt werden würden, ging es als Fanmarsch gen Stadion. Vorbei an der kleinen Fußballkneipe, in der Torsten Mattuschka durchs Fenster schaute. 

Auf der Bahnhofsstraße wurde kurz ein Fangesang angestimmt, doch von Union-Fans war weit und breit nichts zu sehen. Problemlos ging es weiter bis zur Tankstelle, an der sich drei junge Berliner Hansa-Fans über ein Foto freuten. Im Anschluss erfolgte wieder einmal das lange Warten auf dem Weg an der Wuhle. Das Ganze könnte wahrlich schneller gehen - ein Einlass blieb verschlossen, doch immerhin wurde die Partie 15 Minuten später angepfiffen. Innerhalb weniger Minuten wurde der Toilettencontainer dekoriert, und oben im Gästeblock wurde es auf der äußeren Seite ziemlich eng. Die gesamte Hintertorseite wurde als Pufferzone freigelassen, doch der Gästeblock wurde beim gestrigen Spiel ein wenig zu klein gelassen. Während es sich auf der äußeren Seite ziemlich quetschte, schaute man auf der inneren Seite auf Plexiglas und Metallstützen. Aber gut, da es nur ein Testspiel war, stand der Spaß eh im Vordergrund.

Auf Waldseite wurde ein Eisern-Union-Banner befestigt, unten am Gästeblock hing die workless-class-Zaunfahne. Auf drei Tapeten präsentierten die Rostocker zudem folgende Botschaft: „Kultclub Union? Pro Eintrittskarte statt print @ home“. Der Sinn des recht kleinen Gästeblocks erschloss sich nicht ganz, fanden sich stattdessen hunderte Hansa-Fans im Heimbereich ein.  

Aber gut, wollen wir nicht nur meckern. Die Kulisse war mit knapp 12.000 Zuschauern für ein Testspiel um 16 Uhr unter der Woche mehr als ordentlich, und Bier und Glühwein schienen auch zu schmecken. Es war erstaunlich, wie groß am gestrigen Nachmittag während der Partie das Gelaufe war. Immer wieder bekleckerten sich hindurchschiebende Fans mit Glühwein, manch ein Becher war bei der Ankunft am Platz der Wahl nur noch halb voll. Ich persönlich verzichtete während des Spiels auf etwaige Speisen und Getränke und beließ es in der Pause bei einer lauwarmen Käsebrezel für 3,50.

Sportlich war die erste Halbzeit recht ausgeglichen, doch hochkarätige Möglichkeiten gab es nicht allzu viele zu sehen. In der 23. Minute hatte Union-Spieler Sven Michel zu einer guten Chance, kurz vor der Pause hatten Ridge Munsy und Simon Rhein eine gute Tormöglichkeit im Doppelpack. In der zweiten Hälfte wurde Union - beide Teams hatten ordentlich durchgewechselt - besser und kam folgerichtig in der 56. Minute durch Sheraldo Becker mit 1:0 in Führung. Nur vier Minuten später konnte Becker zum 2:0 nachlegen. Gelutschter Drops? Nicht ganz. Luca Horn hatte den 1:2-Anschlusstreffer auf dem Fuß, doch zeigte Union-Keeper Jakob Busk eine klasse Parade. Am Ende blieb es beim 2:0 für die Eisernen.

Unterhaltsam war es so oder so. Ein einzelner Hansa-Fan schwenkte einen Blinker, mehrmals stieg Rauch auf, und immer wieder wurden Gesänge angestimmt. Für die größte Begeisterung des Abends sorgte allerdings ein Flitzer, der in meisterlicher Manier eine große Runde dreht und sage und schreibe nacheinander gleich vier Ordner zum Ausrutschen brachte. An der Eckfahne zwischen Haupttribüne und Waldseite gab sich der Flitzer geschlagen und beendete seine Aktion mit einem Jubel in Ronaldo-Manier. Applaus für den Flitzer, Pfiffe für die Ordner, die ihn nun recht robust abführten.

Während vor der Partie beim Fanmarsch vor allem eine Hundertschaft aus Mecklenburg-Vorpommern eingesetzt wurde, die ihre Aufgabe völlig entspannt erledigte, kamen nach dem Spiel auch Berliner Polizisten zum Einsatz. Diese waren teils alles andere als entspannt. Mit großer Polizeibegleitung wurden die Hansa-Fans zurück zum Parkplatz gebracht, ein Fan wurde festgenommen, was zu ersten Wortgefechten führte. Mit den Worten „Ihr seid hier in unserer Stadt!“ wurden einzelne Rostocker weggeschubst. Mit der Androhung auf Platzverweis sollte das Ganze schneller über die Bühne gehen. Wenig später wurde nahe des Parkplatzes ein Rostocker äußerst unsanft zu Boden gebracht. Erst auf die Motorhaube, dann minutenlang auf den kalten Boden. Als sich weitere Rostocker näherten, bildete die Polizei eine Kette.

Nach und nach fuhren die Autos zurück gen Küste. Zurück blieben die Hansa-Fans, die in Berlin-Brandenburg ihren Wohnsitz haben. Ein Blick in den dunklen Bellevuepark. Erstaunlich, dass nicht einmal mit den Säbeln gerasselt wurde. Paar Polenböller, ein paar Fackeln. Die Autofahrer bekamen Union Berlin am gestrigen Nachmittag und Abend nicht zu sehen. Wie es bei den Zugfahrern aussah, entzieht sich meiner Kenntnis. Mit Bus, U-Bahn und Straßenbahn ging es problemlos nach Hause, die dunkle Silhouette der einstigen Fotochemischen Werke hinter uns lassend …

Fotos: Marco Bertram

> zur turus-Fotostrecke: F.C. Hansa Rostock

Anmerkung: Im Frühjahr / Frühsommer 2023 wird Band II von "Kaperfahrten" auf den Markt kommen. Gleiches Format - gleiche Dicke. Zeitlich wird es teilweise weiter zurückgehen und es wird mehr Interviews geben. Mit drin sein werden auch die Aufstiegssaison und die besten Spiele der beiden zurückliegenden Zweitliga-Spielzeiten. Noch liegen ein paar Wälzer von Band I "Kaperfahrten - Mit der Kogge durch stürmische See" auf Lager. Greift zu! Weihnachten kommt ja bald...

> Infos & Kaufmöglichkeit des Hansa-Wälzers "Kaperfahrten - Mit der Kogge durch stürmische See"

 

Artikel wurde veröffentlicht am
15 Dezember 2022
Spielergebnis:
2:0
Zuschauerzahl:
12.000

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Schrotties
U.N.V.S.U.
K
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Kommt das auch in Kaperfahrten II rein?
R
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G
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G
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Moin
Wieder immer sehr gut zu lesen. Danke.
G
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Klassenerhalt für den FCH. Das zählt - und nix anderes. Es war nur ein Testspiel. Wichtig ist, daß Verhoek wieder fit wird.
G
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G
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Ick fand den Rostocker Auftritt für die Menge der Leute dünne. Aber, „Chapeau“ für die Anzahl der away Fahrer! Auf Berliner Seite gab es auch ne interne Ansage, aber was am Ende dabei rüber kam, war mehr als schlecht, was den Support anging!
Man kann aber davon ausgehen, das der Hauptteil der Unioner die da waren, „Allesgeher“ und Leute mit Kindern, die sonst keine Karten bekommen, im Stadion waren.
HE
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Warum wurde so früh angepfiffen?
Warum wurde der Gästeblock verkleinert?
G
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