Stadionrebellen – der Versuch einer Buchkritik

Stadionrebellen – der Versuch einer Buchkritik

 
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Bücher von und über Ultras gab es in den letzten Jahren zuhauf. Protagonisten, Journalisten, selbsternannte Experten und Fanforscher pressten ihre Meinung und ihre Erfahrungen zwischen zwei Buchdeckel und hofften immer dann, wenn das Thema Ultrá und/oder Fussballfans in den Medien hochkochte, auf reichlich Verkäufe und Einnahmen. Dazu die vor Pauschalisierungen und Vorurteilen strotzenden Artikel in Zeitungen und Magazinen, welche oftmals nicht annähernd die Realität widerspiegelten. Es gab also in den letzten Jahren viel zum Thema „Ultras“ zu lesen, zu sehen und zu hören. Viele der gedruckten Werke sind auch bei mir im Regal gelandet, überzeugt haben letztendlich nur wenige. 

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„Cani Sciolti“ von Domenico Mungo und „Tifare Contro“ von Giovanni Francesio gehören dazu. Beide mit einer Aufarbeitung der italienischen Ultrageschichte in unterschiedlichem Stil. „Ultras in Italien – Passione e Mentalita“ von Josef Gruber, als Text- und Bildband mit Einblicken in die Kurven Italiens um die Jahrtausendwende und schließlich der auf englisch erschienene Bildband „Ultras“ von Roberto Russo und Martin King. Bildgewaltig und ohne lange Erklärungen. Das also meine Top 4, bevor mit „Stadionrebellen“ ein neues Standardwerk, und diesen Titel kann ich an dieser Stelle ohne weiteres vergeben, auf den Markt kam.

Nach den ersten Ankündigungen sowohl im Blog „altravita“ als auch auf den sozialen Kanälen von „Erlebnis Fussball“ war ich angefixt. Neuer Stoff über eine Subkultur, der ich in meiner Jugend selbst verfallen war und mit der ich auch heute im gesetzten Alter noch sympathisiere. Ein Buch über die Väter (und Mütter) des flächendeckenden organisierten Supports in Europa. (Ja, in Ex-Jugoslawien gab es mit der „Torcida Split“ schon viel früher eine organisierte Gruppe. Anm. d. Autors). Der Untertitel „Eine Geschichte der italienischen Ultrabewegung“ verspricht viel und hält es nach 281 Seiten auch.

Die Vorgeschichte der organisierten Fans wird beleuchtet. Anfang des letzten Jahrhunderts, als Fußball noch nicht das Spektakel für die Massen, sondern eher ein Teil des in Italien sehr ausgeprägten Lokalpatriotismus war. Berichtet wird von ersten gewalttätigen Auseinandersetzungen in Genoa und Turin, in Livorno und Mailand. Oftmals richteten sich die Aggressionen der Zuschauer gegen die gegnerischen Spieler und Schiedsrichter, nur selten gab es Ausschreitungen mit anderen Anhängern. In die zweite Dekade des letzten Jahrhunderts fällt auch der erste (dokumentierte) Todesfall in Verbindung mit einem Fußballspiel. Es geschah in Viareggio, das Opfer war Augusto Morganti, der Täter war ein Polizist. Es klingt wie eine Blaupause dessen was in Italien seitdem immer wieder passiert. Fans sterben durch die Hand des Staates. Bekanntestes Beispiel dafür sicherlich Gabriele Sandri am 11. September 2007.

Es ist eine Stärke des Autors, dass den Opfern der Gewalt, egal ob durch Polizei, rivalisierenden Fangruppen oder innerhalb der eigenen Szene, viel Platz eingeräumt wird. So macht Pierluigi Spagnola das Buch auch zu einem Monument der Erinnerung an all jene die ihr Leben für ihre Leidenschaft gaben.

Über 50 Jahre Geschichte einer Bewegung zu erzählen, zu dokumentieren, und teilweise zu bewerten ist eine Mammutaufgabe. Das schafft Spagnolo aber ohne weiteres, auch wenn manche Texte doch etwas langatmig wirken und dann gern auch ins sozialwissenschaftliche abgleiten. Man sollte das Buch also nicht nur nebenbei lesen, sondern sich wirklich darauf einlassen. Die Zusammenhänge zwischen radikaler Studentenbewegung und ersten organisierten Ultragruppen beispielsweise oder die Auswirkung neuer, im Eiltempo erlassener Gesetze auf die Szenen im ganzen Land erschließen sich erst beim zweiten Lesen der teils sehr verschachtelten Sätze. An dieser Stelle übrigens ein großes Lob an Übersetzer Kai Tippmann, der in über 270 Fußnoten viele Ergänzungen und Erklärungen liefert.

Viele relevante Gruppen werden erwähnt. Darunter längst verblichene wie die ursprüngliche „Fossa de Leoni“ aus Mailand, die „Brigate Gialloblù“ aus Verona, „CUCS“ aus Rom und, und, und. Beim Lesen hatte ich teilweise an manchen Stellen ein Gefühl wie in den späten 90ern, wenn ich eine neue Ausgabe des „SuperTifo“ in den Händen hielt. Der Blick in eine scheinbar erschlossene, aber doch relativ unbekannte Welt. Stark sind die Einblicke in die verschiedenen Kurven von Genua bis Palermo. Welche Gruppe hatte wann das Sagen, warum wurden sie abgelöst oder aufgelöst? Welche Rolle spielt die Politik in den Kurven? Wer mit wem und warum? Was wurde aus legendären Anführen wie „Pompa“ aus Florenz? 

Nahezu jede Frage zu den letzten 50 Jahren Ultra in Italien wird beantwortet. Dem Vorwurf, dass die Gruppen zuerst sich selbst und dann erst Stadt und Verein lieben wird genauso nachgegangen wie der Veränderung des Fußballs durch Pay-TV, schärfere Gesetze und die Macht der Moneten. Viele Gruppen gingen gerade an den beiden letztgenannten Faktoren kaputt. Und das bereits vor Einführung der „Tessera del Tifoso“. Gerade die Entwicklung der letzten Jahre beschreibt Spagnolo sehr genau. Die Veränderung des Typus Ultrá, bedingt durch immer mehr Repressionen und Einschränkungen. Italien war bis in die frühen 2000er Jahre ein Sehnsuchtsort für deutsche Ultras. 

Diese Zeiten sind inzwischen vorbei. Zu lange war die Heimat der Ultras in den letzten Jahren nur noch ein Schatten seiner selbst. Die Ultras sind noch da, anders als früher, teilweise zurückhaltender. Oder auf anderen Feldern aktiv. Wie dem „Calcio Popolare“. Mitgliedergeführte Vereine, in Italien eine eher unbekannte Seltenheit, werden immer beliebter und haben ihren Ursprung in den Kurven und Sozialzentren der Städte. Von Vereinen wie „Centro Storico Lebowski“ oder „Ideale Bari“ wird in Zukunft noch zu hören sein.

Am Ende wirft Spagnolo noch einen Blick auf die subkulturbegleitenden Auswüchse in Musik, Film. „Stadionrebellen“ ist der gelungene Versuch die Materie Ultrá als Ganzes zu erklären. Ob der Leser es auch im Ganzen verstehen wird?

Fotos: Marco Bertram, Frank Langkabel, Wochenendpöbler, Claude Rapp

Artikel wurde veröffentlicht am
23 Juni 2020

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