Vladivostok

Quer durch Sibirien: Von Vladivostok nach Tschita

 
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altDas trübe Küstenwetter von Vladivostok wich bereits nach wenigen Kilometern einem prachtvollen, kontinental geprägten Klima, das Hitze und Sonne mit sich brachte. Ich lag auf meiner unteren Liege und schrieb ein paar Zeilen in mein Tagebuch. Die Hitze stand im Abteil, und die ständige Ruckelei machte träge. Es schaukelte wie auf einem Boot bei gemächlichen Wellengang. Weiter, immer weiter rollten die Waggons der Transsib über die Schwellen hinweg. Hinter der westlich gelegenen Bergkette lag das Reich der Mitte. Es war eigenartig, China nicht in östlicher, sondern in westlicher Richtung ausmachen zu können. Der Zug rollte durch die Amurregion, auf die China seit langer Zeit Anspruch erhebt, und um die bereits einige Male bewaffnete Konflikte aufgeflammt sind.

Zwischen den Gesprächen mit den Leuten in unserem Waggon, dem waghalsigen Fotografieren aus dem Fenster heraus und dem Schreiben von Notizen in ein kleines Heftchen schlief ich oder las im von zu Hause mitgebrachten »Transsibirien Express« von Konsalik.
Bei Kilometer 8975 erreichten wir am Nachmittag Schmakowka. Dort gab es Mineralwasser. Kinder kamen zu den Waggons und verkauften Wasserflaschen für zwei Rubel. Man erklärte mir, dass das Wasser berühmt und gesund sein soll. Für einen Moment herrschte Leben im Zug.

altWeitere Abwechslung gab es auf den nächsten Stopps. 30 Minuten in Ruschno um 12:09 Uhr und 22 Minuten in Guderowo um 13:46 Uhr nach Moskauer Zeit. In unserem Abteil kam es wieder zu interessanten Gesprächen. Thema waren der Bundesnachrichtendienst, der Verfassungsschutz und der russische CFB.
Weiter ging es in Richtung Chabarowsk, das wir mitten in der Nacht um 2:33 Uhr Ortszeit erreichten. Die Prowodníca wischte die Haltestangen auf dem Gang ab und zog mit aller Kraft den langen roten Teppich gerade.
Hinter Chabarowsk rollte der Zug über den in der Dunkelheit eingetauchten Amur. Die 2600 Meter lange Metallbrücke gab ihre typischen, geheimnisvollen Geräusche von sich, und in der Ferne leuchteten die Lichter der Stadt.
Am nächsten Morgen erfolgte ein Lokwechsel, denn die kommenden Kilometer waren nicht elektrifiziert. Eine alte, verrußte Diesellok wurde vor die dunkelgrünen Waggons gehängt. Beim Blick aus dem geöffneten Fenster musste man höllisch aufpassen, kein heißes Rußstückchen in die Augen zu bekommen.
Langsam rollte der Zug über eine Anhöhe. Unten im Tal lag Obluce, eine 1909 gegründete Stadt im Jüdischen Autonomen Gebiet in einer der kältesten Gegenden Sibiriens entlang der Strecke der Transsib. Es folgten zwei Tunnel, die einst in das harte Gestein des Permafrostes gesprengt und gehauen wurden.

altIm Abteil forderte uns währenddessen Tatjana rigoros aus, Käse und Brot zu essen. Stunden später kam wieder die drückende Hitze auf. Belogorsk näherte sich. 1400 Kilometer lagen hinter uns, 2700 vor uns. Auf dem Bahnsteig von Belogorsk, wo Lenin als silbergraue Statue noch immer grüßte, konnten wir uns eine halbe Stunde lang die Beine vertreten.
Am Nachmittag lief eine dicke, gutmütige mit einem Wägelchen an unserem Abteil vorbei und bot Bier, getrocknete Krabben und Fertignudeln an. Piwo, Piwo? Jan und ich ließen uns überreden, kauften zwei Bier und übten anschließend mit Tatjana Russsisch. Das Bier löste die Zunge, und schon sprudelten die Sätze nur so heraus ...
Das Buch von Konsalik hatte ich bereits durchgelesen. Es war einigermaßen spannend, doch ich war mir sicher, dass er niemals mit der Transsib unterwegs war. Manche seiner Beschreibungen erschienen doch mehr als absurd.

Am Abend gab es gegen 20 Uhr ein heftiges Gewitter. Blitze zuckten, und es herrschte eine geheimnisvolle Spannung. Der Zug hielt auf offener Strecke mitten in der Taiga, und die Leute standen an den Fenstern und verfolgten das Naturschauspiel.
Nieselregen setzte ein und benetzte beim Fotografieren die Linse der Kamera. Ich versuchte einen Blitz abzulichten, doch es gelang mir nicht, und ich zog das Fenster wieder nach oben. Die Prowodníca beobachtete mich bereits mit ernstem Blick vom anderen Ende des Ganges aus.
Am Morgen darauf machten wir in aller Frühe im Städtchen Mogotcha Halt. Beim kurzen Streifzug um das Bahnhofsgelände fotografierte ich einen Obdachlosen, der an einem schiefen Telegrafenmast lag. Ein kugelförmiger Bus entfernte sich auf einer nahen Straße und zog eine Staubwolke hinter sich her. Ein paar triste Wohnblocks reihten sich aneinander. Dazwischen ein paar verkümmerte Bäume und Strommasten. Das war’s. Trostloser konnte ein Fleck auf unserer Erde im fahlen Morgenlicht nicht aussehen.

Mogotcha liegt im »Goldenen Tal«. Der Name bezieht sich allein auf die einstigen Goldfunde. Die Gegend, in der dieser Ort liegt, zählt zu den klimatisch härtesten unserer Erde. Nicht selten rutscht dort das Quecksilber im Winter unter die minus 50 Gradmarke.
Inzwischen lief im Zug alles ruhiger und gemächlicher ab. Auch ich hatte meine innere Ruhe gefunden. All der Alltagsstress aus Deutschland schien wie fortgeblasen. Alles war so angenehm ruhig und still. Keinerlei Hektik.
Am Nachmittag fuhr unser Zug im Bahnhof von Cernyschevsk-Zabajkalskij ein. Die Gegend um diese Kleinstadt war die ärmste, die ich während meiner Fahrten mit der Transsibirischen Eisenbahn sah.
Genauso karg und traurig wie die Holzhütten sahen die kahlen, mit Geröll überhäuften Berge aus, die sich ringsherum entlangzogen. Dies war eine der Gegenden, in die viele Kriegs- und Strafgefangene verbannt wurden und in Lagern arbeiten mussten.

altAuf dem Bahnhof von Cernyschevsk-Zabajkalskij bettelten kleine, barfüßige Jungen inmitten des Markttreiben. Ich gab einem von ihnen 10 Rubel und beobachtete Jan, wie er für unsere Abteilbelegschaft selbstgemachtes Vanilleeis kaufte. Im Hintergrund rief unsere Prowodníca in ihrer graublauen Uniform an der Waggontür kernig zur Pflicht. Es war Zeit, und Augenblicke später verließ unser Zug wieder den Trubel von Cernyschevsk-Zabajkalskij.
Am frühen Abend erreichten wir Schilka. Dort gab es Sivanda, das göttliche Getränk. Wieder ein berühmtes, sibirisches Mineralwasser. Kurzerhand schnappte ich meine Kamera und eilte zur Waggontür, doch unsere Prowodníca schüttelte den Kopf und lachte. Bei kurzen Dreiminutenstopps kannte sie kein Erbarmen und hielt die Tür verschlossen.

Die Stadt Tschita erreichten wir gegen 22 Uhr Ortszeit. Ich versuchte Aufnahmen von der Stadt im Dämmerlicht zu machen, doch die Kamera streikte. Ich dachte an die vielen Kriegsgefangenen, die einst in diese Region verschleppt wurden. Ich legte mich auf mein Bett, in meiner Magengegend keimte ein flaues Gefühl auf. Das Bier, der mit Tatjana getrunkene Kaffee und die Gedanken an die Arbeitslager Sibiriens zeigten ihre Wirkung. Zudem wurde mir beim ständigen Heraussuchen der Vokabeln im Wörterbuch schwindlig vor Augen. Die Schrift war extrem klein, und das Schaukeln des Zuges ließ mich an mein Segelabenteuer ein paar Jahre zuvor denken, bei dem ich auf stürmischer Nordsee in arge Seenot geriet...

Fotos: Marco Bertram

> zur turus-Fotostrecke: Transsibirische Eisenbahn

> Transsib-Fotos des Autors auf www.saudade-fotos.net

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