Eines Tages, während einer Feier in der Wohnung der Freundin meiner Frau, tauchte mit einem Mal Günter auf, gab mir seinen Personalausweis mit der Bitte, diesen am nächsten Tag zu seinen Eltern zu bringen.  Zu unserer Verblüffung sagte er “ich haue ab!” Am nächsten Tag vormittags wollte ich die Eltern aufsuchen. Ehe ich dazu kam, klingelte es an unserer Wohnungstür. Günter stand davor und holte seinen Ausweis wieder ab. Es wäre etwas dazwischengekommen und so hätte es mit dem Abhauen nicht geklappt. Er war nicht dazu zu bewegen mir zu erzählen, was sich abgespielt hatte. Wenige Wochen später brachte er mir wieder seinen Ausweis und von jener Stund an war er verschwunden. Nach einigen Tagen ließ er seine Eltern über einen Mittelsmann wissen, dass er gesund und munter Westberlin erreicht hätte, sie sollten sich um ihn keine Sorgen machen. Keiner von uns hatte eine Ahnung, wie er das geschafft hatte. Häufig besuchte dann seine Freundin Heidrun, die sich einen Bundesdeutschen Pass verschafft hatte, ihre Schwiegereltern und berichtete, dass Günter wieder studierte und gut voran käme.

Nach seiner geglückten Flucht tauchte einige Male ein Kriminalpolizist bei den Eltern auf, um zu erfragen, warum Günter denn das “DDR-Paradies” verlassen hätte. Er hätte doch nach Verbüßung seiner Strafe alle Möglichkeiten der Weiterbildung gehabt. Sein Bruder würde ja auch an der TH in Dresden studieren. Sie wurden nach einem Freund Günters gefragt, dem er das Motorrad repariert hätte. Sie gaben an, den Freund nicht zu kennen.
Dieser Freund war ich.
Günter hatte in seiner Arbeistsstelle neue Radlager in die Hinterachse meines Motorrollers eingebaut. Da ich ja kein Motorrad, sondern einen Motorroller “Berlin”  hatte, konnte dieser Freund nicht ermittelt werden. Nach all diesen Erfahrungen, die im Nachhinein für mich eine Art Fingerzeig  “Gottes” waren, haben meine Frau und ich beschlossen keinen Fluchtversuch mehr zu unternehmen.

Im Laufe der nächsten Jahre beendete Günter sein Studium mit Diplom und Promotion. Er und Heidrun heirateten und es begann für beide das Berufs- und Familienleben. Erstaunlicher Weise erhielten Günters Eltern als Rentnerehepaar die Erlaubnis,  zur Hochzeit ihres Sohnes und Heidruns nach Westberlin fahren zu können. Eine Schwierigkeit hatte sich inzwischen herausgestellt. Das Vermögen inklusive Erbe eines Republikflüchtlings wurde von der DDR grundsätzlich beschlagnahmt. Durch die Fahrt zur Hochzeit war es den Eltern möglich, sich in Westberlin von einem Rechtsanwalt beraten zu lassen, was dem entgegenzusetzen wäre. Es gab nur eine Möglichkeit: Günter musste auf sein Erbe verzichten. Gleichzeitig wurde ein Testament verfasst, das diese Verzichtserklärung wieder aufheben sollte. Wie sich nach der Wende herausstellte, war das durch einen Formulierungsfehler rechtlich nicht möglich. Es sei denn, die Brüder erzielen untereinander eine entsprechende Vereinbarung.  

Heidrun besuchte immer wieder Ihre Schwiegereltern in Ostberlin. Zuerst allein und später dann mit ihrer Tochter. Dadurch hörten wir, wie es der jungen Familie H. ging. Der Vater Max H. starb Weihnachten 1967 und die Mutter Else H. im September 1970. Das Erbe fiel komplett an den älteren Bruder Klaus. Klaus hatte nach dem Tod seines Vaters den Familienbetrieb übernommen. Allerdings konnte er den Betrieb nicht lange allein weiterführen. Er musste, wie alle anderen Privatbetriebe, die es noch in der DDR gab, eine sogenannte halbstaatliche Beteiligung akzeptieren. Somit gehörte Klaus nur noch die Hälfte des Betriebes. Kurze Zeit später wurden alle diese  Betriebe komplett verstaatlicht. Auf ihren eigenen Wunsch hin, wie die Regierung der DDR verlauten ließ. Für den Betrieb H. wurde ein anderer Geschäftsführer eingesetzt und somit gab es diesen Familienbetrieb nicht mehr.  Klaus H.heiratete kurze Zeit danach und brach alle Verbindungen zu seinem Bruder, seinen Verwandten und Freunden total ab. Soviel ich weiß, haben sich die Brüder nie wieder gesehen. Warum ist unbekannt. Durch die Mauer und die vielen Jahre, die inzwischen ins Land gingen, war auch die Beziehung zwischen Günter und uns auf wenige sporadische Informationen eingeschlafen.

Im Dezember 1980 erhielt ich plötzlich einen Anruf von der Künstleragentur der DDR. Ich sollte in den nächsten Tagen zur Agentur kommen, für mich würde eine Einladung für eine Konzertreise im Februar 1981 in die BRD vorliegen. Ich fiel aus allen Wolken. Mit allem hätte ich gerechnet, aber nicht damit. In der Agentur teilte man mir mit, dass für mich eine Einladung zu fünf Orgelkonzerten nach Gütersloh und Umgebung vorläge. Ob ich bereit wäre, die Einladung anzunehmen. Natürlich nahm ich diese Einladung, die mir wie ein hoher Lottogewinn vorkam, an. Durch mein Studium an der Hochschule für Musik in Charlottenburg und meiner Tätigkeit als Kirchenmusiker in einer Berliner Kirchengemeinde hatten meine Frau und ich einen großen Freundeskreis in Ost und West.  Einer dieser Freunde, Hermann K., hatte es geschafft, für mich diese Einladung nach Gütersloh zu organisieren. Dafür bin ich ihm solange ich lebe sehr dankbar. Zu der Zeit wusste ich nicht, dass unser Freund Günter H. mit seiner Familie gar nicht sehr weit von Gütersloh entfernt lebte.

Die Agentur hatte mir einen Dauerreisepass ausgestellt. Das bedeutete, ich konnte ohne einen neuen Antrag stellen zu müssen, immer wieder zu Konzerten in die BRD eingeladen werden. Ein guter Freund, Willi B. aus Norddeutschland, dem ich dafür sehr viel zu danken habe, hat mir nach und nach immer wieder Einladungen zu Konzerten in die BRD vermittelt. 1986 war ich wieder in Gütersloh. Inzwischen hatte ich, ich weiß nicht mehr von wem, von der Existenz der Familie H. In der Nähe von Gütersloh erfahren. Die Telefonnummer fand ich im Telefonbuch. Nach einem kurzen Anruf holte mich Günter H. in Gütersloh ab.  
Günter und ich trafen uns, als ob wir uns erst eine Woche zuvor getrennt hätten. Zuerst zeigte er mir den Betrieb, für den er als Direktor die Verantwortung hatte. Danach lernte ich das Haus der Familie und die jüngere Tochter kennen. Die ältere Tochter, die ich schon als Kind aus Berlin kannte, war zum Schüleraustausch in Amerika. Heidrun, seine Frau hätte ich gerne gesehen. Leider war sie in diesen Tagen zu einer Tagung in Süddeutschland. So fuhren wir nach Bielefeld in eine kleine gemütliche  Studentenkneipe, um uns über die vergangenen Jahre zu unterhalten. Endlich erfuhr ich, wie Günters Flucht aus der DDR im Jahre 1963 stattgefunden hatte.  

Günter berichtete, dass eine Gruppe von Fluchthelfern seine Flucht damals organisiert hatte  Er musste ihnen versprechen, aus Sicherheitsgründen nie über das Zustandekommen der Flucht zu reden. Inzwischen waren über 23 Jahre vergangen. Die Zeiten hatten sich verändert. So erzählte mir Günter, dass er damals telefonisch informiert wurde, sich um 11:00 Uhr an einem bestimmten Ort in der Karl-Marx-Allee einzufinden. Dort bekam er von einem ihm unbekannten Mann einen  ausländischen Pass mit der Maßgabe ausgehändigt, alle Daten auswendig zu lernen. Um 15:00 Uhr würde er dann im Treptower Park abgeholt werden. Als er  am vereinbarten Treffpunkt  ankam, traf er auf noch drei junge Männer, die ebenfalls die DDR verlassen wollten. Sie wurden zu einem schwarzen Mercedes mit Diplomatenkennzeichen gebracht. Schnell stiegen sie ein und der Wagen fuhr umgehend los.

Der zuständige Grenzübergang für Diplomaten und Ausländer war der Checkpoint Charlie in der Friedrichstraße. Der Fahrer sammelte alle Ausweise wieder ein. Er allein hatte die Übergangsformalitäten zu erledigen. Diplomaten redeten nicht mit DDR-Soldaten. Die ostdeutschen Grenzorgane durften keine Diplomaten  kontrollieren. Dazu waren nur die Sowjets  auf Grund des Vier-Mächte-Status zuständig. Im Wagen verständigte sie der Fahrer, dass sie an der Grenze kein Wort reden sollten. Auch nicht, was sehr ungewöhnlich wäre, wenn sie persönlich angesprochen würden. Am Grenzübergang angekommen, hielt der Wagen am ersten Schlagbaum an.

Alles geschah, wie vom Fahrer vorausgesagt.  Doch so glatt ging es dann doch nicht ab. Als der Fahrer den Wagen wieder starten wollte, sprang dieser, trotz mehrerer Versuche, nicht an. Die Flüchtenden mussten aussteigen und das Auto, einen teuren Mercedes, zum Vergnügen der Grenzsoldaten über die Grenze schieben. Wir sind, so erzählte Günter, gut über die Grenze gekommen.  Er meinte, selbst heute, wenn er daran denkt, würden ihm noch Schauer über den Rücken laufen. Es kann sich wohl kaum jemand vorstellen, in welcher Verfassung sie in der “Freiheit” ankamen. Von mir auf die damalige Untersuchungshaft und sein Schuldeingeständnis angesprochen, meinte Günter: Nach mehreren Wochen Einzelhaft in einer sehr kleinen Zelle, ohne irgend etwas zu erfahren und am Tage nur auf einem Hocker ohne Rückenlehne sitzen zu müssen, bist du  soweit und sagst alles. Bei den Vernehmungen wurden nur die blödsinnigsten Fragen gestellt. Was mit dir wird, erfährst du nicht. Ich habe versucht mit Gymnastik und mit von mir selbst gestellten Denkaufgaben durchzuhalten. Doch die wochenlange Einsamkeit in meist absoluter Stille, der stark schmerzende Rücken durch das lange Sitzen auf dem  Hocker ohne Lehne ist so zermürbend, dass man früher oder später aufgibt. Dazu noch ein Rechtsanwalt, der es sicher gut meint und dir zu einem Geständnis rät, gestehst du eben alles, auch wenn es nicht stimmt. Verurteilt wirst du ohnehin. Schon, um ein Exempel zu statuieren. Günter erwähnte noch, dass er zusammen mit seiner Frau den Traum zu tauchen noch verwirklichen und intensiv betreiben konnte.

1989 im November war die Mauer plötzlich verschwunden und wir haben uns dann öfter wiedergesehen. Von 1963 bis 1994 ist  Günter nie in Berlin oder einem anderen Staat hinter dem eisernen Vorhang gewesen. Sein Betrieb hatte gute Geschäftsbeziehungen zur Sowjetunion. Zu Geschäftsverhandlungen wurde er von den Russen oft nach West- und Ostberlin oder Budapest eingeladen. Diese Einladungen hat er nie angenommen. Amüsiert haben die Russen ihm immer versichert, wenn sie Geschäftspartner einladen, dann garantieren sie, dass der  Partner auch wieder nach Hause kommt. Sonst würde doch niemand aus dem Westen mit ihnen mehr Geschäfte abschließen. Er hat ihnen trotzdem nicht vertraut. 2002 beendete er sein Berufsleben. Nach drei Jahren Ruhestand ist Günter letztendlich an einem Krebsleiden im Jahre 2005 verstorben.

Die Straße am Friedhof in Pankow ist wieder in Ordnung gebracht worden. Der Eisenzaun am Bahngelände wurde durch einen modernen Gitterzaun ersetzt. Nur die Friedhofsmauer ist an der zurückversetzten Stelle geblieben…

 

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