An einem Nachmittag im Oktober fuhren wir zu dem von mir ausgewählten Friedhof, um die Grenze in Augenschein zu nehmen. Es war ein großer unübersichtlicher Friedhof mit vielen hohen Bäumen und sehr vielen Sträuchern, Hecken und Thujagewächsen. Wir näherten uns, jeder mit einer Gießkanne voll Wasser in der Hand, soweit wie möglich der südlichen Friedhofsmauer.  Eifrig gossen wir irgendein dicht an der Mauer liegendes Grab und sahen uns dabei den Grenzverlauf genau an. Dabei stellten wir fest, dass außer einem leerstehenden Haus, das schon zu Westberlin gehörte und dem Verwaltungsgebäude des Friedhofes auf Ostberliner Seite, weit und breit keine Häuser standen. Die Straßenbeleuchtung bestand aus Sparlampen, die kein helles Licht verbreiteten. Daraufhin  beschlossen wir, es hier zu versuchen. Unsere Gruppe, die die DDR verlassen wollte, war inzwischen auf acht Personen angewachsen.

An einem Tag in der letzten Oktoberwoche trafen wir uns nachts in Pankow an der nördlichen Seite des Friedhofes. In kurzen Abständen überstieg einer nach dem anderen den halbhohen Gitterzaun. Vorsichtig bewegten wir uns auf die Grenze zu. An der Friedhofshalle hielten wir an. Günter und ich gingen äußerst behutsam bis an die Friedhofsmauer, die die Grenze bildete. Hinter der Friedhofsmauer lag die Straße, die wir überqueren mußten. Es war diesig und stockdunkel. Das Licht der Straßenbeleuchtung verlor sich im Nebel. Für unser Vorhaben ideale Verhältnisse. Zirka zehn Minuten lang beobachteten wir die Straße ohne irgendeine Bewegung zu bemerken. Dann schlichen wir zurück, um die anderen zu holen und unser Glück zu versuchen.
In den letzten Minuten waren unter den Wartenden große Bedenken über das Gelingen dieses Unternehmens entstanden. Die einen wollten, die anderen wollten plötzlich nicht mehr. Um uns nicht der Gefahr der Entdeckung auszusetzen, gaben wir das Vorhaben kurzer Hand auf und verließen, zum Glück unbemerkt, den Friedhof auf dieselbe Weise, wie wir ihn betreten hatten.  Günter und ich waren uns danach einig, bei der großen Zahl der Beteiligten, hätte unser Vorhaben nie gelingen können. Trotzdem ließ uns der Gedanke, dass unsere Flucht  an der ausgesuchten Stelle glücken könnte, nicht los. Nach einigem Nachdenken waren wir uns einig, es nach gründlicher Vorbereitung noch einmal zu versuchen. Eine Unsicherheit war noch vorhanden. Die Gleisanlagen in Westberlin gehörten in die Zuständigkeit Ostberlins. Angeblich beobachteten ausgesuchte Polizisten die Bahngleise. Wir sahen das als das kleinere kalkulierbare Übel. Das Westberliner Bahngelände war zur Straße hin durch einen zirka zwei Meter hohen massiven Metallzaun begrenzt. Ein Holzzaun wäre für unser Unternehmen günstiger gewesen. Dann hätten die Holzlatten gelöst werden können. So wollten wir unterschiedlich großen Seilschlingen, die wir selber geknüpft hatten, über die Spitzen des Zaunes auf die obere Querstrebe legen und auf diese Weise den Zaun wie auf einer Strickleiter übersteigen.

Die Seilschlingen, ein kräftiger Seitenschneider und eine Taschenlampe wurden in eine Ledertasche verstaut und für den Ernstfall bereitgestellt. Mitte November war es dann soweit. Ein neuer Versuch sollte  gewagt werden. Günter H. und sein Bruder Klaus fuhren mit dem Motorrad, meine Frau und ich mit unserem Motorroller Berlin nach Pankow. In einer Seitenstraße am Bürgerpark stellten wir unsere Fahrzeuge ab. Danach gingen wir die Heinrich-Mann-Straße an der völlig dunklen chinesischen Botschaft entlang, bis zur Rückseite des Friedhofes. Wie drei Wochen zuvor überstiegen wir an derselben Stelle den Friedhofszaun. Leider gab es keinen Nebel, dafür einen total bedeckten Himmel. Auf dem Friedhof war es stockdunkel. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich unserer Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Um nicht gesehen zu werden, hatten wir uns mit dunkler Hose und dunklem Anorak mit Kapuze, die wir ins Gesicht ziehen konnten, bekleidet. Leise, ohne miteinander zu reden, liefen wir vorsichtig zwischen den Gräbern über den Friedhof. Diesmal hielten wir uns etwas weiter rechts, überquerten den Hauptweg und suchten als Versteck eine möglichst zugewachsene Stelle.
Ein Grab, mit Thuja überwachsen, war bald gefunden. Hier wurden meine Frau und Klaus samt Ledertasche unter den Thujazweigen versteckt. Günter und ich schlichen dann äußerst vorsichtig bis an eine Stelle der Friedhofsmauer, die ungefähr 80 Meter vom Versteck entfernt lag. Nach unserer Einschätzung war diese Stelle für unser Vorhaben gut geeignet. Sie lag schräg gegenüber des unbewohnten Hauses auf der westlichen Seite. Die Friedhofsmauer war ungefähr  0,80 Meter hoch und in mehreren Metern Abstand  standen 2,50 Meter hohe Stützpfeiler. Die ganze Friedhofsmauer war aus roten Backsteinen gemauert. Zwischen den Stützpfeilern waren geschmiedete Eisenzaunfelder, die sich von den Seiten aus der Mitte zu, nach unten verjüngten und auf dem 0,80 Meter hohen unteren Mauersims standen, angebracht. Diese Zaunfelder waren leicht zu übersteigen.  

An der Mauer angelangt, setzten wir uns erst einmal vorsichtig auf den Boden. Zu unserem großen Schrecken näherten sich laut unterhaltend zwei Grenzsoldaten. Genau auf der anderen Seite der Friedhofsmauer stellten sie ihre Maschinenpistolen an die Mauer, setzten sich mit dem Rücken zur Mauerwand nieder und steckten sich Zigaretten an. Nun saßen wir quasi Rücken an Rücken mit den zwei Grenzsoldaten. Der Abstand zwischen den Soldaten und uns betrug höchstens 60 Zentimeter.  Wir hörten sie über belanglose Dinge ihres Dienstablaufes sprechen. Solange sie an der Mauer saßen, trauten wir uns kaum zu atmen. Nach  ungefähr zehn Minuten standen die Grenzsoldaten auf, griffen ihre Maschinenpistolen und entfernten sich.  
Als von ihnen nichts mehr zu sehen war meinten wir, jetzt sei der richtige Moment die Flucht zu wagen. Auf dem Weg zurück zu dem Versteck gelangten wir auf den Hauptweg. Plötzlich hielt mich Günter am Arm fest. Reglos, wie angewurzelt blieben wir stehen. Da hörten wir in einiger Entfernung auf einmal den Ruf “Harro fass”! Wie von der Sehne geschnellt rannten wir so schnell wir konnten los. Meinem Partner konnte ich noch zuflüstern: Du rechts um die Kappelle ich links. So hoffte ich, den Hund verwirren zu können. Er musste sich ja für eine unserer Spuren entscheiden. So rannte ich links um die Kappelle auf das Versteck von Klaus und meiner Frau zu. In der Nähe der Friedhofskappelle musste noch eine dichte Hecke bezwungen werde. Ohne Rücksicht auf eventuelle Verletzungen, ging es mit dem Kopf voran durch die Hecke. Zum Glück hatte ich die richtige Richtung zum Versteck eingeschlagen und konnte noch leise rufen: Liegen bleiben, nicht rühren!

Von meinem Bruder, der einen Schäferhund besaß, wusste ich, um sich die Augen nicht zu verletzen rennt kein Hund durch eine dichte Hecke. Entweder springt er über die Hecke oder er läuft um sie herum. Zum Überspringen war die Hecke für den Hund zu hoch. So konnten wir den Hund täuschen. Bald erreichten wir den Friedhofszaun, sprangen drüber, rannten durch die Schönholzer Heide, Kleingartenanlagen und uns unbekannte Straßen mit schwacher Straßenbeleuchtung immer weiter und weiter, bis wir Rosenthal erreichten.
Aus den Augenwinkeln heraus habe ich noch bemerkt, dass hinter uns an der Grenze viele Leuchtkugeln abgeschossen wurden. Dadurch war der Grenzabschnitt hell erleuchtet. Es ist erstaunlich was man für Kraft entwickelt, wenn es darauf ankommt. An der Endhaltestelle in Rosenthal stand eine Straßenbahn zur Abfahrt bereit. Beide stiegen wir ein und sie fuhr umgehend Richtung Innenstadt ab. Nachdem wir uns von dem Gewaltlauf einigermaßen beruhigt hatten, konnten wir als die einzigen Fahrgäste beraten, was nun zu geschehen hatte. Meine Armbanduhr zeigte nachts 2:30 Uhr an. Seit dem Beginn unserer Aktion am nördlichen Friedhofszaun waren gut zwei Stunden vergangen.

Verständlicherweise waren wir um unsere beiden Versteckten sehr besorgt. Meine Befürchtung war, das Versteck wurde entdeckt und meine Frau und Klaus wurden festgenommen. Für mich war es nur eine Frage der Zeit, bis auch wir verhaftet würden. Günter meinte jedoch, Ruhe bewahren und abwarten. Mit der Straßenbahn fuhren wir bis S-Bahnhof Schönhauser Allee. Die Eltern H. wollten wir eigentlich nicht beunruhigen. Es blieb uns aber nichts anderes übrig. Von einem  öffentlichen Fernsprecher aus riefen wir die Eltern von Günter und Klaus an, um zu erfahren, ob sich meine Frau und Klaus gemeldet hätten. Dies war nicht der Fall. Beunruhigt fuhren wir erst einmal mit der Straßenbahn wieder zurück nach Pankow, um unsere Fahrzeuge zu holen.

Unterwegs kam uns der Nachtbus aus Pankow entgegen. Zu unserer großen Überraschung und mit großer Erleichterung sahen wir in dem erleuchteten Bus Klaus und meine Frau sitzen. Uns in der Straßenbahn sahen sie leider nicht. Am frühen Morgen trafen wir uns dann im Hause H. wieder. Meine Frau erzählte, dass der Hund in einer ungefähren Entfernung von einem Meter an ihrem Versteck vorbeigerannt sei. Offenbar war er so auf meine Spur fixiert, dass er andere Gerüche gar nicht wahrnahm. In diesem Moment verlor Klaus die Nerven. Er wollte aufspringen und loslaufen. Nur mit großer Mühe und viel Kraft gelang es meiner Frau, ihn am Boden unter den Zweigen festzuhalten und zu beruhigen. Nach  einiger Zeit, als alles wieder ruhig war, haben sie den Rückweg angetreten. Am Friedhofszaun angelangt, bemerkte meine Frau, dass sie die Tasche mit den Werkzeugen unter dem Busch vergessen hatten mitzunehmen. Was nun?  Meine Frau bat Klaus langsam in Richtung Pankow weiter zu gehen. Sie selbst schlich noch einmal zum Versteck zurück und holte die Tasche. Es grenzte an ein Wunder, dass sie auf Anhieb das Versteck wiederfand. Vorsichtig ging sie dann wieder zurück und kletterte über den Zaun. Sie beeilte sich dann, um Klaus wieder einzuholen. Gemeinsam gingen sie bis zum Rathaus Pankow. Dort trafen sie auf den Nachtbus, der sie zum S-Bahnhof  Schönhauser Allee brachte. Von dort fuhren sie mit der S-Bahn nach Hause. Später sahen wir, dass in der Tasche der Name H. geschrieben stand. Im Nachhinein  erkannten wir, dass unser Unternehmen an Leichtsinn nicht zu überbieten war. Vielleicht hatten wir in unserer Kindheit zu viel Karl May gelesen. In diesem Falle konnten wir unserem Schutzengel nur danken.