Wenige Wochen später wäre so etwas nicht mehr möglich gewesen. Die Polizei, durch die Grenzorgane informiert, hätte das ganze Umfeld des Friedhofes abgesucht und jeden Fußgänger kontrolliert. Einige Monate danach, wurde die Friedhofsmauer um zirka 15 Meter zurückversetzt. Die in dem Bereich liegenden Gräber wurden umgebettet oder einfach eingeebnet. Statt der ehemaligen Straßenbeleuchtung gab es jetzt helle Strahler. Die Straße, jetzt frei gewordener Grenzstreifen, wurde aufgerissenen. Ein tiefer Graben wurde angelegt. Es sollte wohl ein freies, besseres Schussfeld geschaffen werden.

Wenige Tage nach unserem Fluchtversuch wurde früh morgens das ganze Gelände um das Haus H. von der Polizei umstellt, Günter H. aus dem Bett geholt und verhaftet. Es fand eine Hausdurchsuchung statt, bei der eine ganze Reihe in der BRD erschienene Bücher wie “Der Vater” von Jochen Klepper, das “Wunschkind” von Ina Seidel und viele andere beschlagnahmt wurden. Unter anderem auch eine verrostete Sauerstoffflasche aus der Garage. Meine Frau und ich überlegten, ob das mit unserem Vorhaben an der Grenze im Zusammenhang  stehen könnte? Es war ja zu vermuten. Mithin waren wir auf das Schlimmste gefasst. Es geschah aber nichts. Günter H. war viele Wochen einfach verschwunden. Niemand wollte wissen, wo er abgeblieben war. Auch auf mehrere Nachfragen bei der Polizei gab es keinerlei Auskunft. Der Polizei wäre ein solcher Vorgang nicht bekannt. Sie würden schon noch Nachricht bekommen. Nach einigen Wochen  wurde den Eltern endlich von der Staatsanwaltschaft mitgeteilt, dass sich Günter H. wegen versuchter Republikflucht in Untersuchungshaft im Gefängnis von Berlin-Pankow befände und gegen ihn Anklage erhoben wird. Es war allgemein bekannt, dass das ein Gefängnis des Ministeriums der Staatsicherheit war. Wie sich im Laufe der Zeit herausstellte, warf man ihm vor, er hätte als Taucher die DDR verlassen  wollen. Einziges Beweismittel: Die verrostete, unbrauchbare Flasche, die in keiner Weise den Vorschriften entsprach. Keine Firma hätte diese Flasche jemals mit Sauerstoff befüllt.

Günter war ein durch und durch sportbegeisterter Mensch. So hatte er in Strausberg am Bötzsee zwei Taucher kennengelernt, die ihm das Tauchen in den schönsten Farben schilderten. Eine Taucherausrüstung für privaten Gebrauch war in der DDR in keinem Sportgeschäft zu bekommen. Wenn überhaupt, dann nur über die Mitgliedschaft in der von der FDJ getragenen “Gesellschaft für Sport und Technik“. Organisierter Sport war sowieso nur über staatlich gelenkte Vereine, Clubs  oder über die schon erwähnte GST möglich. Die beiden Taucher vom Bötzsee tauchten ohne irgend eine Genehmigung. Vielleicht hatten  sie sich die Ausrüstung über Verwandte aus der BRD beschafft. Günter fiel ein, dass im Betrieb seines Vaters noch große Gummibestände lagerten. Er suchte zwei ehemalige Schulkameraden aus seiner Oberschulzeit auf, von denen er wusste, dass sie im Rahmen der GST das Tauchen intensiv betrieben. Er bat sie, ihm Fachzeitschriften zu beschaffen, in denen Schnitte für Taucheranzüge beschrieben sind. Aus Gummi vom Betrieb seines Vaters, wollte er sich einen Taucheranzug zusammenkleben. Im Scherz fragte ihn einer seiner Schulkameraden, ob er denn abhauen wolle. Im gleichen Ton antwortete er, na, ehe die Sippenhaft eingeführt wird. Die zwei haben ihn daraufhin bei der FDJ-Leitung denunziert und so wurde er verhaftet. Später erfuhr ich, dass einer der beiden Schulkameraden nach einigen Jahren zum Professor für Meereskunde berufen wurde. Einige Zeit später fand dann der Prozess gegen Günter H. im Gericht von Pankow statt. Es war eine der ganz wenigen öffentlichen  Gerichtsverhandlungen in Sachen Republikflucht.               

Um Unruhen zu vermeiden, wurde die Öffentlichkeit künftig von solchen Verhandlungen ausgeschlossen. Neben einer Reihe Zuhörer beobachteten die Mutter H., einer unserer Gemeindepfarrer ,und ich die Verhandlung mit sehr gemischten Gefühlen. Wie der Richter hieß ist mir entfallen. An den Staatsanwalt, mit dem (sicher falschen) Namen Hämmerling, kann ich mich noch sehr gut erinnern. Ein Vertreter der Anklage, wie wir ihn jetzt oft im Fernsehen auch erleben können. Eine fast sympathische Erscheinung, trotzdem aggressiv, zynisch und brutal in der Ausdrucksweise  gegenüber dem Angeklagten.
Wir waren gespannt, wie der Staatsanwalt die Anklage begründen würde. Es gab, außer der Flasche, die eine sehr untergeordnete Rolle spielte, nur die “zween falschen Zeugen“, wie es im Neuen Testament der Bibel heißt. Günter wurde in Handfesseln, die ihm im Gerichtssaal abgenommen wurden, vorgeführt. Die übliche Eröffnung - und dann ging es los. Die Anklage begann mit einer längeren Beschreibung des vorbildlichen Rechtsstaates DDR, in der das humanistische Menschenbild im Mittelpunkt steht. Allerdings dürften sich Verbrecher wie der Angeklagte, der vorhatte als Grenzverletzer den Weltfrieden zu gefährden nicht wundern, wenn sie die ganze Strenge des Gesetzes und die Verachtung der sozialistischen Gesellschaft träfe. Es war so dick aufgetragen, dass jeder Anwesende merkte, was da für ein Blödsinn geredet wurde.

Es blieb der Vorwurf: Vorbereitung zur Republikflucht. Zu unserem großen Erstaunen, bekannte sich Günter für schuldig. Erst sehr viele Jahre später erfuhr ich dann, wie das Geständnis zustande gekommen war. Zunächst wurden die beiden Zeugen befragt. Die hatten inzwischen mitbekommen, in was für eine Lage sie sich gebracht hatten. Offensichtlich wären sie am liebsten im Boden versunken. Mehrmals wurden sie vom Staatsanwalt auf sehr barsche Weise mit den Worten ermahnt: Eiern sie hier nicht so rum, sondern sagen sie endlich, was Sache ist. Nach zirka 40 Minuten wurde das Urteil verkündet. Eineinhalb Jahr Gefängnis unter Anrechnung der sieben Monate Untersuchungshaft. Günter sah nach der Wende in seiner Stasi-Akte, dass das Urteil schon 14 Tage vor der Verkündigung von der Stasi vorgegeben war.

Nach der Gerichtsverhandlung wurde Günter H. in das Gefängnis nach Berlin-Rummelsburg verlegt. Das Gefängnis lag direkt an einer Straße. Günter musste in der Kleiderkammer arbeiten, die sich in einem Gebäude dicht an der Straße hinter der Gefängnismauer befand. Das hatte einen großen Vorteil. Die Kammer lag im obersten Stockwerk. Die Fenster waren nur vergittert, nicht verschalt. So konnte man von der gegenüberliegenden Straßenseite den Insassen des Gefängnisses zuwinken. Günters Mutter hat bei einem Besuch im Gefängnis mit ihrem Sohn eine Zeit festgelegt, zu der er am Fenster stehen sollte und wir ihm zuwinken konnten. So oft es uns möglich war, haben wir das auch getan. Er sollte das Gefühl haben, nicht allein zu sein. Nachdem er einige Monate abgesessen hatte, wurde er zur Resozialisierung in ein Außenkommando versetzt. Das heißt, mehrere Gefangene wurden per Lastwagen in eine Brauerei in der Friedensstraße (Friedrichshain) gebracht, um dort unter der Aufsicht eines Betriebsangehörigen zu arbeiten. Günter hatte seinen Arbeitsplatz in der Schlosserei. Sein Meister, mit dem er sich offenbar gut verstand, erlaubte ihm,  zu früher Morgenstunde den Garten der Brauerei aufzusuchen. Dieser Garten lag auf einer Anhöhe an der Pufendorfstraße. Mehrmals wöchentlich fuhr ich frühmorgens zu dieser Brauerei und kletterte die Böschung hoch, um am defekten Zaun mit Günter ein paar Worte zu wechseln und ihm Esswaren zu bringen. Nachdem Günter dann wegen guter Führung früher aus der Haft entlassen wurde, arbeitete er weiter - jetzt als freier Bürger - in dieser Schlosserei. Nun begannen für uns ein paar ruhige, schöne Monate, die wir, so gut es die Zeit erlaubte, auch ausnutzten. Vater H. hatte inzwischen nach langer Wartezeit ein Auto, Typ Skoda Oktavia, gekauft, mit dem wir oft unterwegs waren.