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Brasilien: 75 Stunden unterwegs auf dem Rio Solimoes

29 Okt 2010 10:38 #15651 von kalleman
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Ein Reisebericht des Weltreisenden und turus.net Autor "kalleman" über eine Reise vom Dreiländereck Peru, Kolumbien und Brasilien bei Tabatinga über den Amazonas (der dort wo er fliesst Rio Solimoes heißt) bis nach Manaus:

Der Polizist an Bord des Schiffes N/M Itapuranga III versteht keinen Spass. Alles muss ich aus dem Rucksack nehmen, an jeder Tube wird geschnüffelt. Jedes Pulver wird probiert. Erst gestern bin ich in Tabatinga angekommen. Hier, am Dreiländereck mitten im Dschungel. Keine Strasse führt hierher. So lässt sich weder das peruanische Santa Rosa, das kolumbische Leticia noch das brasilianische Tabatinga per Auto erreichen. Diejenigen, die hierher wollen, denen bleibt nur der Weg auf dem Wasser, oder man kommt mit einem der wenigen Flugzeuge, die selten genug hier landen. Das bedeutet natürlich auch, dass man von hier auch nur wieder per Schiff oder Flugzeug wegkommt.





Ich kam mit dem Schiff an, in Santa Rosa, einem kitzekleinen Weiler auf der anderen Seite des Amazonas. Nach der Zollkontrolle brachte mich ein kleiner Kutter nach Tabatinga. Von hier soll morgen um 14 Uhr die N/M Itapuranga III nach Manaus ablegen!

Als die Barke in Tabatinga anlegt, begrüssen mich gleichmal zehn Frauen. Sie rufen mir zu, berühren mich. Also so richtige Frauen waren es nicht, sondern vielmehr solche, die gern Frauen sein wollen. Tabatinga soll die Hauptstadt der Transvestiten sein, sagt man mir. Ich gehe hoch zum brasilianischen Zollamt und treffe Manuel, einen Peruaner aus Iquitos, der auf dem Weg nach Französisch-Guyana ist, wo er arbeitet. Der sympathische Kerl wird mich bis Manaus begleiten.

Nun bin ich hier also an Bord und packe meinen Rucksack aus. Ein strenger Polizist schnüffelt gerade an meiner Medikamenten-Box herum. Seit zwei Stunden müsste das Schiff schon unterwegs sein, aber ablegen dürfen wir nicht. Ich begab mich um 11 Uhr zum Hafen, um 12 Uhr durften wir das Schiff betreten. So kam es, dass ich als einer der ersten an Bord war und mir so einen wunderbaren Platz aussuchen konnte. Es ist ein kleines, sauberes Schiff und hat drei Decks. Das unterste ist im Schiffsrumpf, hier werden Güter transportiert, aber auch Passagiere liegen hier in ihren Hängematten. Auf dem mittleren Deck befinden sich weitere Stangen für Hängematten, hier hängt auch meine. Auf dem obersten Deck befindet sich eine Bar, welche Bier, Toast und sonstige Sachen anbietet. Die Bar wird von freundlichen, massiv übergewichtigen Frauen geführt, denen jeweils das Rückgeld fehlt. Wenn sie kein Bier mehr vorrätig haben, steigen sie in ein Beiboot, welches die N/M Itapuranga mitzieht und kaufen im nächsten Dorf ein paar Bierdosen.

Die Toiletten sind gleichzeitig Duschen, immer sehr sauber. In der Küche gibt es Mittag- und Abendessen, welches im Preis inbegriffen ist. Es gibt Pasta, Reis, Bohnen, Fleisch, Obst und manchmal Kartoffelstock. Eiskaltes Wasser wird ebenfalls zur Verfügung gestellt. Davon trinke ich immer viel zu viel und dementsprechend oft geht’s zur Toilette.

Manuel, ganz ein Kind des Amazonas, hängte seine Matte gleichmal zwischen zwei mollige Frauen, er mag es, wenn es schwabbelt. So sind die Söhne des Amazonas nun mal und die Frauen scheinen es so auch zu mögen. Mit meiner zurückhaltenden Art können sie gar nichts anfangen, im Gegenteil, es bringt sie zum Verzweifeln. Das Schiff hat sich relativ schnell gefüllt, dennoch gibt es noch genügend Plätze für weitere Hängematten. Und bald kennen alle an Bord meinen Namen, obwohl ich mit niemandem geredet habe. Brasilianer sind schüchtern und getrauen sich nicht, mich anzusprechen. So durchlöchern sie Manuel mit Fragen und so höre ich ab und zu „Aha, Roland spricht spanisch!“, „Sieh, Roland hat sich ein Bier gekauft“, „Oh, Roland liest ein Buch!“



Ich bin auch der einzige, der sich nicht an den Rhythmus an Bord hält. Um etwa sechs Uhr, wenn die Sonne aufgeht, herrscht reges Treiben. Es gibt Kaffee. Danach wird der Schlaf aus den Augen geputzt, gewaschen, geduscht, Zähne geputzt um dann wieder in die Hängematte zu liegen. Erst ein paar Stunden später kommt wieder Unruhe auf, die Passagiere machen sich bereit, um für das Mittagessen anzustehen. Dann geht es wieder in die Hängematte bis zum Abendessen. Früh gehen sie schlafen um für den Kaffee wieder wach zu sein. Ich hingegen schlafe tüchtig aus – es ist erstaunlich bequem in der Hängematte, aber eine Decke sollte man dabei haben. Es kann in der Nacht ziemlich kühl werden. Am Tag hingegen ist es sehr heiss. Regen und Wolken sind da herzlich willkommen. Nach dem Mittagessen gehe ich jeweils in die Bar hoch. Auf meinem Schiff hat es viele Feuerwehrleute, welche in Manaus eine Prüfung ablegen müssen. Die einen lernen, die anderen saufen, andere spielen Domino. Es sind aber furchtbar nette Leute, die mich herzlich willkommen heissen. Auch sonst verbringe ich den Tag meistens an einem schattigen Plätzchen ausserhalb der Hängematte und schaue auf den Fluss, registriere die Landschaft und hoffe auf Tiere. Den kühlen Abend verbringe ich immer in der Bar oben an Deck und geniesse die Nacht. Allzu viele tun das nicht und die Bar schliesst relativ früh. Dann spannen die freundlichen Damen der Bar ihre Hängematte auf und hauen sich neben der Bar aufs Ohr.

Die Polizei von Tabatinga bequemte sich erst etwa gegen 15 Uhr zum Schiff und ohne Zustimmung der Polizei darf das Schiff nicht ablegen. Zwei geschlagene Stunden untersuchen sie jeden Winkel des Schiffes, denn hier am Amazonas befindet sich offenbar eine Hauptroute für Drogentransport und das mögen die Polizisten gar nicht. Als sie dann das Schiff gegen 17 Uhr verlassen, geht es los!

Der Amazonas, der hier noch Rio Solimoes heisst, ist hier bei tiefem Wasserstand noch ganz überschaubar und hat vielleicht die Breite der Donau bei Wien. Das Wasser muss dieses Jahr sehr tief sein, es war ein unüblich heisses Jahr. Benjamin Constant, nach Plan der nächste Halt, kann nicht angefahren werden, es hat zuwenig Wasser. So fahren wir Richtung Sao Paulo de Olivenca. Manuel und ich haben auch schon unseren Lieblingspassagier gefunden. Wir nennen ihn El gran Capitan, weil er immer mit einer Uniform umherläuft. Er dürfte gute 80 Jahre alt sein und schläft in einer der wenigen Kabinen, die es auf dem Mitteldeck gibt. Wir vermuten, dass er früher selbst den Amazonas befahren hat. Ein Seebär in Rente. Im Zweistundentakt macht er seine Kontrollgänge, inspiziert die Matten, den Motor, alle Decks und findet immer etwas zum Nörgeln. Störend sind seine nächtlichen Rundgänge. Denn mitten in der Nacht schaltet er für ein paar Minuten die grellen Lampen ein um das Deck zu inspizieren. Die Birne brennt mir dabei genau ins Auge.

Am nächsten Morgen nähern wir uns San Antonio de Ica. Als ich mir den Schlaf aus den Augen reibe, stelle ich überrascht fest, dass mittlerweile zahlreiche Frauen einen Liebhaber gefunden haben, sogar das bildhübsche, vielleicht 15-Jährige Teenie hat einen massiv älteren Freund. Wie sind in Brasilien. Auch Manuel hatte Erfolg. Dann, als das Schiff anlegt, sehe ich rund 10 Delphine, auch rote, welche sich in der Bucht vergnügen. Ich bin aber offenbar der einzige, der darob fast platzt vor Freude. Meine Mitreisenden haben anderes vor, denn hier am Hafen kann man spottbillig riesige Wassermelonen kaufen. Auch scheinen für die hier lebenden Menschen die Schiffe eine Art Entertainment darzustellen. Sie kommen an Bord drehen eine Runde, treffen vielleicht einen Verwandten, flirten und dann gehen sie wieder an Land. Daher bleibe ich mal nahe bei meinem Gepäck. Denn nicht alle hier haben redliche Absichten, wie mir versichert wird. Doch nun werde ich geärgert. Ich habe mich wieder in die Hängematte gelegt und beginne zu lesen, als ein Polizist mich sehr herrisch heisst aufzustehen. Zielstrebig hat er sich meine Hängematte ausgesucht und nun durchsucht er mich und ich darf wieder mein ganzes Gepäck auspacken.



Immerhin nach der Hälfte sieht er den Einreisestempel in meinem Pass und meint, ich sei ja schon in Tabatinga kontrolliert worden. Kaum habe ich alles eingepackt und mich wieder hingelegt, als ein zweiter Polizist mich für eine weitere Stichkontrolle ausgesucht hat und schon kann ich wieder alles auspacken. Der andere Polizist ruft ihm zwar zu, er habe mich schon geprüft, was diesen hier aber grimmig werden lässt. Er scheint das nicht akzeptieren zu können und durchsucht weiter, bis er auf halber Strecke meint, ich könne aufhören. Er habe den Stempel im Pass gesehen, ich sei ja in Tabatinga schon kontrolliert worden. Haha, kann ich da nur sagen.

Das Schiff passiert wunderschöne, unberührte Sandstrände, grünes Dickicht, hohe Ufer. Manchmal ist der Amazonas schmal, manchmal sehr breit, viele Inseln säumen unseren Weg. Es ist schwer sich vorzustellen, dass weite Teile bei hohem Wasserstand unter Wasser sein sollen. Von weiter Entfernung sind Regenbänke sichtbar. Fast scheint es, dass sich diese Regengüsse an einem Ort festgesetzt haben und sich nicht fortbewegen. Am Abend überqueren noch zwei Aras das Schiff, Delphine sehe ich insgesamt etwa an fünf oder sechs stellen. Ich lege mich in meine Hängematte, doch heute Nacht werde ich nicht zum schlafen kommen. Ich habe den ganzen Tag neben dem Wasserspender verbracht und kräftig davon Gebrauch gemacht. Fluchend begebe ich mich im Halbstundentakt zur Toilette. Nur der Gran Capitan kreuzt meinen Weg. Und als ich wiedermal verzweifelt meinen Gang zur Toilette antrete, sitzt plötzlich Manuel auf der Reeling. Reden will er nicht, aber etwas in seiner Beziehung mit seinem Mädchen scheint gründlich schief gegangen zu sein, denn am nächsten Tag geht sie ihm konsequent aus dem Weg. Kaum legt er sich in die Hängematte, steht sie auf und geht. Kaum verlässt er sie wieder, kehrt sie zurück. Irgendwann schnappt sich Manuel die Hängematte und bindet sie an einem anderen Platz fest. Die zweite Nacht ist vorbei. Am nächsten Morgen will mir Manuel zwar nicht sagen, was mit seinem Mädchen schief gelaufen ist, dafür versichert er mir, dass es auf den Amazonasschiffen durchaus richtig zur Sache geht. Auf diesem Schiff zumindest scheinen sich aber alle sehr gesittet zu verhalten. Mehr als Händchenhalten scheint da nicht zu sein. Vielleicht ist auch nur das Schiff zu klein. Am Wochenende fahren die Grossen, wo angeblich getanzt und gefeiert wird. Auf der Itapuranga nicht.

Fonte Boa ist unser letzter Halt vor Manaus. Von nun an fährt das Schiff durch und hält nur noch zum Tanken. Mittlerweile, am dritten Tag, gleicht der Amazonas sogar bei Tiefwasser einem riesigen See. Noch eine weitere Nacht und wir erreichen Manaus. Am Mittag des letzten Tages frage den Gran Capitan, wann wir in Manaus ankommen und er meint, normalerweise in drei Stunden, aber mit diesem Schiff bräuchten wir mindestens vier und er wird – natürlich - recht behalten. So ist es bereits dunkel, als die Itapuranga den Rio Solimoes verlässt und in den Rio Negro einbiegt. Manaus liegt vor uns. Als das Schiff im Hafen von Manaus zwischen zahlreichen Schiffen festmacht, springen Manuel und ich über die Reeling ans Ufer. Rund 75 Stunden auf dem Amazonas liegen hinter uns.


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29 Okt 2010 10:39 #15652 von Aron
Feiner Bericht, Kalleman! :-)

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