Emotionale Rückkehr nach Leipzig-Leutzsch: Spurensuche am AKS

MB Updated

„Schießt doch, schießt doch!“ Die Rufe haben sich in meinem Hirn eingebrannt. Leipzig-Leutzsch im Herbst 1994. Orangefarbene Ikarus-Busse vor dem alten Bahnhofsgebäude. Der etwas düstere Weg hinunter zum Stadion. Im Alfred-Kunze-Sportpark der heimische Schlachtruf „Nur ein Leutzscher ist ein Deutscher!“ Die berittene Polizei auf dem Rasen. Der deftige Faustschlag mitten ins Gesicht. All diese Dinge mischten sich im Kopf zu einem einzigen „Das war Leutzsch“, und doch stehen einzelne Momentaufnahmen wie gestochen scharfe Fotos im Geiste parat, um wieder und immer wieder abgerufen werden zu können. Worum es hier eigentlich geht? Der Reihe nach!

Leutzsch„Schießt doch, schießt doch!“ Die Rufe haben sich in meinem Hirn eingebrannt. Leipzig-Leutzsch im Herbst 1994. Orangefarbene Ikarus-Busse vor dem alten Bahnhofsgebäude. Der etwas düstere Weg hinunter zum Stadion. Im Alfred-Kunze-Sportpark der heimische Schlachtruf „Nur ein Leutzscher ist ein Deutscher!“ Die berittene Polizei auf dem Rasen. Der deftige Faustschlag mitten ins Gesicht. All diese Dinge mischten sich im Kopf zu einem einzigen „Das war Leutzsch“, und doch stehen einzelne Momentaufnahmen wie gestochen scharfe Fotos im Geiste parat, um wieder und immer wieder abgerufen werden zu können. Worum es hier eigentlich geht? Der Reihe nach!

Bahnhof LeutzschIm Herbst 1994 stand die Partie FC Sachsen Leipzig – FC Berlin (BFC Dynamo) auf dem Programm. Im Rahmen der neu geschaffenen Regionalliga kam es nun nach den Geschehnissen am 3. November 1990 (Tod von Mike Polley) zum brisanten Aufeinandertreffen der Sachsen und Berliner. Mit gemischten Gefühlen ging es mit dem Regionalverkehr in die Messestadt. Bereits bei Ankunft tummelten sich auf dem Leipziger Hauptbahnhof eine Menge Leute der so genannten Kategorie C. „Ost-, Ost-, Ostberlin!“, hallte es quer durch den damals noch unsanierten Kopfbahnhof. Die Polizei war präsent und verfrachtete die Jungs aus Berlin in einen Zug nach Leutzsch.

FC Berlin beim FC SachsenMehr als 4.000 Zuschauer wollten das Spiel im Alfred-Kunze-Sportpark sehen. Gegenüber der Haupttribüne nahm ich inmitten gemäßigter Leipziger Fußballfreunde auf dem Dammsitz Platz. Rasch einen Film eingelegt und das Szenario auf dem Spielfeld und den Rängen fotografiert. Die Luft war elektrisiert, ja geradezu von Hass erfüllt. Kein Wunder, dass die Sachsen-Fans außer sich vor Freude waren, als den Hohenschönhausenern zwei Tore eingeschenkt wurden. Gegen Ende des Spiels machten die Gästefans mobil und rissen am vorgespannten Netz. Der Zaun wurde geentert und die Polizei zeigte auf dem Spielfeld Präsenz. Hoch zu Ross, den Helm auf dem Kopf. Ein verrückter Anblick.
Bereits während des Spiels schlug mir auf dem Dammsitz der Hass entgegen. Ein Fremder, der mit seiner Kamera den Gästeblock ablichtet? „Da gibt´s nichts zu fotografieren! Das ist nur Scheiße!“, wurde mir erklärt. Ich blieb stur und ließ mich nicht abbringen. Ein paar gesprochene Worte outeten mich letztendlich als waschechten Berliner. Vor den Toren des AKS warteten bereits drei Leipziger auf mich. Drinnen tobte munter der Berliner Mob, draußen gab es in der unfairen 1:3-Situation böse was aufs Auge. „Du scheiß Berliner!!“ Aus der Kalten mal eben mit der Faust zugeschlagen. Das hatte gesessen.

Polizei im AKSWahrscheinlich hätten sie sich richtig warm geprügelt, wenn nicht gerade der Berliner Anhang von der Polizei in Richtung Bahnhof Leutzsch begleitet worden wären. Die Leipziger ließen ab, und ich schloss mich nun der Berliner Reisegesellschaft an. Sicher ist sicher. Allerdings hieß nun auch: Mitgefangen, mitgehangen. Wie bei einem Schweigemarsch ging es den Weg hinauf zum Bahnhof. Dort brach es aus den Jungs heraus. All die Wut und der Hass auf Grund des tragischen Todesfalls wenige Jahre zuvor. Die Situation wurde unübersichtlich. Rennerei. Rangeleien. „Schießt doch, schießt doch!“ Mit diesen Worten wurden die behelmten Einsatzkräfte angebrüllt.
Auf dem Bahnhof wurde ein IC zu einer Notbremsung gezwungen, indem ein paar Leute auf die Gleise sprangen. Dichter Qualm hüllte die Bahnsteige ein. Alles lief ab wie in einem Film. Für mich völlig surreal. Faszinierend und beängstigend zugleich. Die schmerzenden Wangenknochen hatte ich zwischenzeitlich vergessen. Irgendwann gelang es der Polizei, die BFCer in einen Doppelstockzug zu verfrachten und zum Leipziger Hauptbahnhof zu bringen, wo ein Sonderzug wartete. Sich abzuseilen gelang nun nicht mehr. Mit rein in den Sonderzug und schauen, wie an den Türen mit der behelmten Ordnungsmacht mächtig gerangelt wurde. Unvergessen, wie ein Berliner Hooligan sich einen Feuerlöscher griff und die Polizisten einnebelte. Das Drama in meinem Gesicht wurde am nächsten Morgen sichtbar. Blau, geschwollen und schmerzhaft war das Andenken an den AKS in Leutzsch. Die Wunde heilte ab, die Erinnerungen blieben bis heute frisch.

> zur turus-Fotostrecke: Leutzscher Fußball / AKS

LeutzschSeit 1994 war ich nicht mehr vor Ort in Leipzig-Leutzsch. Zwar folgten im neuen Jahrtausend noch ein paar Partien im Zentralstadion gegen die SG Dynamo Dresden und den 1. FC Lokomotive Leipzig, doch in den Alfred-Kunze-Sportpark hatte es mich nicht wieder verschlagen.
Über 17 Jahre später bot sich nun bei einem Abstecher nach Leipzig die Gelegenheit zum damaligen Schauplatz zu fahren. Bewusst wollte ich nur das leere Stadion sehen, um in aller Ruhe die bautechnischen Detail begutachten zu können. Bei mildem Frühlingswetter ging es mit der Regionalbahn in Richtung Weißenfels vom Leipziger Hauptbahnhof nach Leutzsch. Der Zug macht einen kleinen nördlichen Bogen und erreicht Leutzsch nach zehn Minuten Fahrtzeit. Gespannt wartete ich auf den alten Bahnhof. Jedoch folgte prompt die Ernüchterung. Was ist das? Ein nagelneuer unüberdachter gesichtsloser Bahnsteig. Der Blick verlor sich an einer Lärmschutzwand. Nichts war zu erkennen. Etwas orientierungslos observierte ich die Gegend. Wo sind die Anhaltspunkte? Der schmale Weg zum Stadion? Ein Stück weiter gab ein Wegweiser die Richtung an. „Leutzscher Holz – Vereinsgaststätte der SG Leipzig Leutzsch e.V. 300 Meter“. Mit einem schwarzen Farbbeutel hatte jemand das Schild beworfen.

AKSQuer durch das Wohngebiet – am Eingang zur Haupttribüne stand ich plötzlich vor dem Stadion, das gegenwärtig von zwei Leutzscher Vereinen genutzt wird: Von der BSG Chemie Leipzig und der SG Leipzig-Leutzsch. Die ersten Mannschaften beider Klubs sind derzeit in der Sachsenliga (sechste Spielklasse) angesiedelt.
„Alfred-Kunze-Sportpark“. Grün und weiß steht es am Eingang auf der Seite gegenüber der alten überdachten Tribüne geschrieben. Der Eingang zum Gästeblock befindet sich noch exakt der gleichen Stelle wie im Herbst 1994. Auch sonst ist das Stadion bautechnisch ziemlich unverändert. Allerdings bekam alles eine frische Farbe. Das markante zweistöckige Gebäude war damals trist, heute erstrahlt es in einem frischen Weiß. Erneuert wurden zudem Sitzschalen und Zäune. Apropos Sitzschalen: „Das mutwillige Zerstören einer Sitzschale kostet bei uns nur 100 Euro“, ist auf einem leicht verwitterten Schild zu lesen.

AKSDer Alfred-Kunze-Sportpark ist gewiss sehenswert und von der Bauform einmalig. Die Mauer im großen Stehblock hinter dem Tor ist grün angemalt. Ein großes „Leipzig-Leutzsch“ prankt in weißen Lettern auf der großen Fläche. Links und rechts die historischen sowie die aktuellen Vereinsembleme. Auf dem Dammsitz der Hauptribüne ist auf den Sitzschalen „CHEMIE LEIPZIG“ zu sehen.
Am Eingang des besagten zweistöckigen Gebäudes des AKS hängt noch ein Schild mit den Öffnungszeiten des FC Sachsen Leipzig. Mittwoch war stets geschlossen. Die jetzige Geschäftsstelle der SG Leipzig Leutzsch befindet sich ein Stück weiter in einem neuen Container. Die Geschäftsstelle der BSG Chemie bezog einen kleinen alten Steinbau. Kuriose Welt in Leutzsch. An der wettergeschützten Rückseite einer Holzhütte hängt noch ein Plakat mit den Spielansetzungen vom 28. Juli 2010 und 04. August 2010. Gegner waren der FC Middlesbrough und der 1. FC Union Berlin. Der Anlass: Die Feierlichkeiten zu 111 Jahren Leutzscher Fußball. Ein Jahr später starb der FC Sachsen Leipzig. So bitter kann Fußballgeschichte sein.

EBahnhof Leutzschs geht allerdings weiter – und das am Besten gemeinsam. Überall sind Aufkleber mit einem grünen Ausrufezeichen zu finden: „Gemeinsam für Leutzsch!“ Ein Graffiti ziert die Wand einer alten Halle: „Tradition seit 1899“ Links das Logo der BSG, rechts das Logo der SG.
Reichlich Fotos auf dem Speicherchip, frische Eindrücke im Kopf. Eine Frage stellte sich jedoch: Wo ist der alte, markante Bahnhof? Er war leicht zu finden. Der Weg, auf dem damals die BFCer in Polizeibegleitung entlangliefen, war fix auszumachen. Fast alles wie damals. Und da tauchte am Ende des Weges auch das mittlerweile still gelegte Bahnhofsgebäude auf. Bilder klickern sich im Geiste durch. Über 17 Jahre – wo ist all die Zeit geblieben? Ein Gefühl der Erleichterung machte sich indes breit. Ich war froh, dass der Bahnhof noch nicht komplett abgerissen wurde. Ein Haufen Schutt oder traurige Fundamente wären an diesem emotionalen Nachmittag dann doch zu viel...

> zur turus-Fotostrecke: Leutzscher Fußball / AKS

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