Zeitspiel Magazin: 90 großartige Seiten von der Kabinenpredigt bis zum Kuchenblock

 
5.0 (3)

Zeitspiel90 Seiten plus zwei Seiten extra. Ein Heft wie ein Fußballspiel. Passend dazu auf der Rückseite des Covers eine Bier-Werbung. Das kühle Blonde für danach. „Ausgezeichnet!“ Passt wie die Faust aufs Auge. Allerdings sollte man bereits beim Lesen der Kabinenpredigt auf Seite drei ein leckeres Bierchen aus dem Kühlschrank holen. Beine hoch und hineingelesen! Kürzlich auf den Markt gekommen ist ein neues Magazin: „Zeitspiel - Magazin für Fußball-Zeitgeschichte“. Herausgegeben von keine geringeren als Hardy Grüne und Frank Willig. Erhältlich nicht an der Lieblingsbahnhofsbuchhandlung, sondern nur direkt bestellbar auf deren Webseite. Für 7,80 Euro bekommt man das gute Stück nach Hause. Fast acht Euro?! Manch einer wird sofort abwinken. Spinnen die? 7,80 Kröten für 92 Seiten? Ist das nicht zu fett? Das Teil wird sich niemals durchsetzen können, unkten bereits die Ersten. So gut das Magazin auch sein mag, knapp acht Euro sind einfach zu viel, schließlich bekommt man für 4,80 Euro doch die aktuelle Ausgabe der „11 Freunde“. Und die hat mal eben 32 Seiten mehr zu bieten.

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Man kann sich allerdings auch in einem Bundesligastadion der Wahl für 7,80 Euro zweimal lauwarme Bierplörre geben lassen - und in vielen Fällen wird das Geld nicht mal reichen. Besser also auf ein, zwei Getränke verzichten und die gesparte Summe in solch ein gutes Magazin investieren. Qualität hat seinen Preis - und das ist im Fall bei „Zeitspiel“ keine hohle Phrase. Man sollte sich allerdings wirklich für Fußball interessieren und nicht nur den Blick für die bunte schillernde Welt der 1. Bundesliga bzw. Champions League haben. Für wen Fußball nur aus Robben, Ribery & Co sowie einem Millionenwechsel à la Kevin de Bruyne besteht, der braucht sich höchstwahrscheinlich das besagte Magazin nicht zulegen. Wer allerdings gern über den viel zitierten Tellerrand schaut, gern in alten Erinnerungen schwelgt, sich für Amateurfußball interessiert und gern Hintergründe zu manch einem unterklassigen Verein erfahren möchte, der sollte die 7,80 auf jeden Fall investieren. 

ZeitspielGroß war meine Neugier, als ich endlich das Heft aus den Briefkasten zog. Aufgrund des Poststreiks kam es arg verspätet an. Und aufgrund der eigenen immens langen Arbeitsliste gibt es erst am heutigen Tag meine Rezension. Das Heft wurde mit viel Mühe angefertigt - ebenso mit Freude und Leidenschaft möchte ich nun meinen kleinen Text verfassen. Nichts hinlumpen, weil es eben sein muss. Schließlich lag in meinem Briefkasten ein Beleg- bzw. Rezensionsexemplar. Nein, dieses Magazin hat es verdient, etwas ausführlicher drauf einzugehen. Ich riss den Umschlag auf, schnupperte am druckfrischen Papier und blätterte einmal durch. Schaut richtig gut aus, so mein erster Gedanke. „Frei von Abhängigkeiten“, steht auf dem Cover geschrieben. In der Tat gibt es keinen Verlag im Hintergrund. Als GbR bringen Hardy Grüne und Frank Willig das Magazin ganz auf eigene Faust heraus. Mit allen Risiken, die bei solch einem Projekt mit dran hängen.

Abgesehen von der Bierwerbung auf der Rückseite und der Greenpeace-Werbung auf Seite zwei ist das Magazin komplett werbefrei. Allein deshalb ist der Preis wirklich gerechtfertigt. Auf den ersten Blick erinnert manches etwas an „11 Freunde“. Die doppelseitigen Fotos auf den ersten Seiten, die gemischten kurzen Texte im vorderen Abschnitt. Allerdings lässt sich das Rad nicht immer neu erfinden - was Aufbau und Grafik betrifft. Inhaltlich hat „Zeitspiel“ nicht allzu viel Ähnlichkeit zu „11 Freunde“. Hardy Grüne und Frank Willig ist es gelungen, etwas völlig eigenes auf die Beine zu stellen. Dass vor allem Hardy Grüne aus dem Vollen schöpfen kann, dürfte sich von selbst erklären. Schließlich wird er schon mal gern als wandelndes Fußballlexikon bezeichnet. Wie viele Bücher hatte der am Silvestertag 1962 in Dortmund geborene und später in Göttingen aufgewachsene Grüne verfasst? Das wird er selber aus dem Stegreif vielleicht nicht sagen können. Fakt ist, die Liste ist lang. 

NeunkirchenWas es denn nun in der ersten Ausgabe von „Zeitspiel“ zu lesen gibt? Das Titelthema: „Überleben im Turbokapitalismus“. Ein ausführlicher Bericht über die unterklassigen Vereine, die in Sachen fette Fernsehgelder einfach nur „in die Röhre gucken“. Wie ist der Stand der Dinge in den Regional- und Oberligen? Welche Perspektiven gibt es? Wie unterschiedlich gehen die Vereine das Überleben in den Niederungen des Fußballs an? Einen überaus interessanten Beitrag dazu gibt es von Christian Jessen, Redaktionsleiter bei Nord Sport, zu lesen. „Ist der hochklassige Amateurfußball noch zu retten?“ Nicht minder interessant ist das ausführliche Interview mit Andreas Voigt, der über die schwierige Zeit von Tennis Borussia Berlin während der Insolvenz berichtet. Gefallene Traditionsvereine, die kurz vor dem totalen Absturz stehen? In diesem Zusammenhang darf derzeit Borussia Neunkirchen nicht fehlen - und deshalb gibt es über das einstige „Schalke des Südwestens“ auch einen interessanten Beitrag. Hoffnungsvolles gibt es indes aus Fulda zu lesen, wo der SC Borussia nach seinem Absturz wieder Auftrieb hat und nach zwei Aufstiegen in Folge wieder in der Oberliga angelangt ist. 

Ein echter Höhepunkt des Heftes ist der erste Teil von „Schlesien - von wegen Hinterland!“ aus der Rubrik Mottenkiste. Wer sich für den historischen Fußball interessiert, wird beim Studieren der mit zahlreichen Statistiken und Tabellen gespickten Seiten seine wahre Freude haben. Schlesien in Zahlen von 1902/03 bis 1913/14. Überaus Wissenswertes vom einstigen Südostdeutschen Fußball-Verband, den Strukturen und dem Ligaalltag, in dem Breslau sportlich alles überragte. Wer hatte schon einmal vom VfR 1897 Breslau oder vom SC Schlesien Breslau gehört? Eben! Ich auch nicht. Nach dem Lesen der Lektüre weiß ich jetzt definitiv besser bescheid, was damals vor dem Ersten Weltkrieg zwischen Görlitz und Oppeln fußballtechnisch vor sich ging.

LokOhne in den Honigtopf zu Greifen und den Inhalt des süßen Topfes jetzt einmal um mich herum zu schmieren: Ich habe sämtliche Seiten von „Zeitspiel“ akribisch studiert, manche Texte habe ich mehrfach gelesen, weil mich die enthaltenen Fakten sehr interessiert haben. Vor allem bei den Statistiken blieb ich immer wieder hängen. Die Zuschauerschnitte der Vereine in Deutschland von der 1. Bundesliga bis hinunter in die Oberligen. So gab es 2014/15 immerhin 34 Regionalligisten, die im Schnitt mehr als 1.000 Zuschauer bei sich im Stadion begrüßen konnten. Angefangen bei Alemannia Aachen (10.724) über den 1. FC Magdeburg (8.576) und Rot-Weiss Essen (8.208) bis hin zu Viktoria Köln (1.068) und Wacker Nordhausen (1.001). Weiterhin erfährt man, dass es in der vergangenen Saison vier Vereine gab, die zu Oberliga-Heimspielen im Schnitt mehr als 1.000 Zuschauer verbuchen konnten. Heraus ragten hierbei der 1. FC Lok Leipzig (2.689) und der Wuppertaler SV (2.102). Knapp über der Linie waren der SSV Reutlingen (1.089) und Rot Weiss Ahlen (1.069). Interessant: Der 1. FC Lok Leipzig hätte sogar in der Zuschauertabelle der 3. Liga noch auf Rang 16 gestanden. Interessant zudem der Vergleich der Zuschauerstatistiken der gesamten Ligen. Wer hätte gedacht, dass die Oberliga Baden-Württemberg vor der NOFV-Oberliga Süd die höchsten Zuschauerzahlen verzeichnen konnte?

WembleyUm bei den Zahlen zu bleiben: Der Zuschauerschnitt in der fünften englischen Liga hatte 2014/15 einen besseren Wert als die der deutschen Regionalligen. Und um bei den eingleisigen Ligen zu bleiben: Die dritte englische Liga konnte im Schnitt pro Spiel 7.006 Zuschauer ziehen, in der 3. Liga in Deutschland konnte ein Schnitt von 6.564 vermeldet werden. Die dritten Ligen in Frankreich und Italien können da keinesfalls mithalten. Die in der Niederlande, Österreich und der Schweiz schon mal gar nicht. Und ja, logisch, dass Hardy Grüne seine Lieblingsvereine mit in das Heft gepackt hatte. Während es aus Göttingen nur Bitteres zu berichten gibt, sorgte der englische Fünftligist Bristol Rovers für einen neuen Rekord. Das Aufstiegsspiel gegen Grimsby Town wollten im Wembley Stadion sage und schreibe 47.029 Zuschauer sehen, rund 34.000 von ihnen drückten den Jungs aus Bristol die Daumen. Mehr soll jedoch an dieser Stelle nicht verraten werden, schließlich soll die eine oder andere Stelle von „Zeitspiel“ für einen Aha-Effekt sorgen.

ZwiggeZum Abschluss jedoch noch etwas Witziges. In der Rubrik Gästeblock wurde das Stadion des Aufsteigers 1. FC Magdeburg vorgestellt. Mit einem Bild vom mit Zwickauer Fans wohl gefüllten Gästeblock konnte ich einen kleinen bescheidenen Beitrag leisten. Wie lässt es sich aushalten als Gästefan in der im Jahre 2006 eröffneten MDCC-Arena, die von den Magdeburger Fans nur Heinz-Krügel-Stadion genannt wird? Und so ging „Zeitspiel“ sämtliche Punkte durch. Anfahrt zum Stadion, Zugang zum Stehblock 14, Bauplan, Möglichkeiten zum Anbringen der Zaunfahnen und Banner, die Laune der dortigen Ordner, die Möglichkeiten zum Einführen von Wurst und Bier und die folgende Entleerung. Alles entspannt, schmackhaft und sauber - so das Fazit.

FCMWer konnte ahnen, dass zu sämtlichen relevanten Partien der eigentliche Gästeblock nun geschlossen bleiben würde? So geschehen gegen Erfurt, Halle und Chemnitz. Und auch gegen Osnabrück und andere Vereine, die reichlich Fans mitbringen, wird es einen Gästebereich auf der Sitzplatztribüne hinter dem Tor geben. Eventuell kommen die Fans des SV Wehen-Wiesbaden noch in den Genuss, den Stehblock im jetzigen Zustand bestaunen zu dürfen. Im kommenden Jahr werden Bauarbeiter anrücken und den eigentlichen Gästeblock umbauen. Plexiglasscheiben und ein Übersteigschutz sollen her. Draußen wird es zudem stabilere Zaunelemente geben. Wenn diese Bauarbeiten abgeschlossen sind, darf „Zeitspiel“ noch einmal das Ganze testen. Hardy, das nötige Foto bekommst du wieder von mir! ;-)

Fotos: Marco Bertram, Arne Amberg, Screenshots von der Zeitspiel-Webseite

> zur Webseite des Zeitspiel Magazins

> zu den turus-Fotostrecken: Fußball, Stadien, Fankultur

 

Inhalt über Klub(s):
Artikel wurde veröffentlicht am
27 August 2015

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