Wohin steuert der Balkan?

MB Updated
Wohin steuert der Balkan?

SerbienKroatien ist bereits Mitglied der NATO und auf dem Weg in die EU. Im Nachbarland Bosnien-Herzegowina sind längst noch nicht alle Probleme beseitigt. Jüngst besuchte der serbische Präsident Boros Tadic die Hauptstadt der Republika Srpska Banja Luka und sprach dort mit Milorad Dodik über die aktuelle Situation im Balkanstaat. Das Kosovo-Problem ist auch noch nicht endgültig geklärt. In den einzelnen Staaten und Regionen von Ex-Jugoslawien sieht es höchst unterschiedlich aus und auch die Tourismusindustrie könnte an den jeweiligen Ecken der Region kaum unterschiedlicher ausgebaut sein. Während an der kroatischen Adriaküste jährlich Millionen Besucher Urlaub machen, liegt der Tourismus im serbischen und bosnischen Binnenland noch immer fast am Boden.

Das turus Magazin führte ein Interview mit Marco Bertram (35) aus Berlin. Etliche Male war er in Slowenien, Kroatien, Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina beruflich und privat unterwegs.
turus: Marco, du warst seit 2001 etliche Mal auf dem Balkan unterwegs. Wie und warum warst du dort so häufig unterwegs?
 
M. Bertram: Das hatte unterschiedliche Gründe. Zum einen waren es private Gründe. Ich hatte für eine geraume Zeit eine kroatische Freundin. Mit ihr besuchte ich ihre Familie unten in Kroatien. Sie kam aus einer kleinen Stadt nördlich von Zagreb. Ihre Eltern wohnen in Berlin. Somit hatte ich ständig Kontakt zu Kroaten, lernte die Sprache und wurde Stück für Stück in die kroatischen Gewohnheiten eingeführt.
 
turus: Also ging es zuerst nach Kroatien?

M. Bertram: Richtig! Das war mein Einstieg. Zusammen fuhren wir mit der Bahn nach Slowenien und Kroatien. Von Zagreb aus fuhren wir mit einem Linienbus hinunter nach Zadar und Pag. Auf dem Weg zur Adria fuhren wir durch die ehemalige Republik Serbische Krajina, die sich nahe der kroatisch-bosnischen Grenze befand.
Ich war ein wenig schockiert über die verlassenen Ortschaften und zerstörten Häuser am Straßenrand. Ich hatte mich zuvor noch nicht so sehr mit der Balkanproblematik auseinandergesetzt. Ich kannte auch nur die groben Dinge, die man Anfang der 90er Jahre im Fernsehen aufgeschnappt hatte. So richtig die Zusammenhänge hatte ich damals nicht verstanden.
 
turus: Viele hatten den Kroatien- und Bosnienkrieg von 1991 bis 1995 gar nicht so richtig wahrgenommen?!
 
M. Bertram: Ja, das ging mir auch so. Als 1991 alles begann, steckten wir in Deutschland und ganz besonders in Berlin noch mitten im Umbruch. Mauerfall und Deutsche Einheit lagen gerade zurück. Wir Deutsche waren da zu sehr mit uns selbst beschäftigt. Ich erinnere mich allerdings noch an eine kleine Demonstration kroatischer Bürger vor dem Brandenburger Tor. Das war Mitte 1991.
 
turus: Zehn Jahre später warst du dann vor Ort in Kroatien.
 
M. Bertram: Ich bereiste verschiedenste Ecken Europas und der gesamten Erde. Osteuropa und Russland lagen bei mir immer sehr im Fokus. Den Balkan ließ ich außen vor, das war mir selbst Ende der 90er Jahre noch zu heiß. Als ich die kroatische Freundin hatte, ging es dann schließlich runter. Und siehe da, ich wurde sehr schnell mit der Balkanmentalität warm. Die Musik, das Essen, die Sprache, die dortige Landschaft - ich war durchaus sehr angetan.
 
turus: Später ging es dann nach Serbien und Mazedonien?
 

M. Bertram: Ich hatte bereits 2005 für das EU-Parlament eine Etappe für den geplanten Iron Curtain Trail mit ausgearbeitet. 2006 bewarb ich mich gezielt für den Balkan-Abschnitt. Michael Cramer MdEP schenkte mir das Vertrauen und ließ mich die Strecke von der serbisch-ungarischen Grenze bis zum Schwarzen Meer abfahren und ausarbeiten.
Mit dem Fahrrad ging es quer durch Serbien, Mazedonien, Rumänien und Bulgarien bis hinter zur türkisch-bulgarischen Grenze. Auf dem gesamten Abschnitt hatte mir Serbien mit Abstand am Besten gefallen. Vieles kam mir aus Kroatien vertraut vor. Im Vorfeld der Reise hatte ich jedoch noch große Bedenken ...
 
turus: Wieso? Die Kriege lagen doch bereits geraume Zeit zurück.
 
M. Bertram: Trotzdem. Das Kosovo-Problem ist noch allgegenwärtig. Und die Serben haben den NATO-Einsatz Ende der 90er Jahre mit Sicherheit nicht vergessen. Da mein Begleiter und ich abseits jeglicher Touristenrouten - soweit man von ihnen in Serbien sprechen kann - unterwegs waren, hatten wir einige Sorgen.
Die Möglichkeit eines Hinterhalts oder eines Überfalls in den serbischen Bergen bereitete mir vor der Tour erhebliche Kopfschmerzen. Und dann die große Überraschung. Unsere Tour verlief völlig entspannt und problemlos. Überall wurden wir herzlich empfangen. Die Landbevölkerung war unglaublich hilfsbereit und offen. Auch Serbien war so etwas wie Liebe auf den ersten Blick.
 
turus: Wann war das genau?
 

M. Bertram: Die erste Tour im Rahmen des EU-Projektes erfolgte im September 2006. Die nächste Tour auf dem Balkan folgte bereits zwei Monate darauf. Dann ging es von Serbien hinunter nach Mazedonien. Dort waren wir im östlichen Landesteil unterwegs.
Mazedonien fühlte sich etwas anders an. Es ist schwer zu beschreiben, aber dort kam bei mir nicht mehr das typische Balkan-Gefühl auf. In Mazedonien besuchten wir die Städte Delcevo, Berovo und Strumica. Landschaftlich war ich begeistert, doch das Gefühl war dort anders. Ähnlich wie in Südbulgarien. Soweit alles schön, doch dieses gewisse Gefühl im Herzen stellte sich nicht ein.
 
turus: Gab es denn überhaupt keine negativen Erlebnisse?
 
M. Bertram: Okay, eine Sache passierte in den serbischen Bergen. Auf einem abgelegenen Bergpfad nahe Pirot hatte ein serbischer Bauer in unsere Richtung geschossen. Keine Ahnung, warum. Vielleicht vermutete er Viehdiebe. Das bleibt bis heute ein Rätsel...
 
turus: Wohin auf dem Balkan führten dich deine Reisen noch?
 
M. Bertram: Im Frühjahr 2009 ging es im Rahmen des EU-Projektes Iron Curtain Trail noch einmal hinunter auf den Balkan. Die Arbeit führte mich durch Slowenien, das nördliche Kroatien und das nordwestliche Serbien.
Nun hätte es sein können, das sich die Gefühle und Zuneigung zur Region inzwischen gelegt haben. Immerhin war ich inzwischen wieder in Brasilien unterwegs. Doch kaum passierte ich die ungarisch-slowenische Grenze war es wieder da - das Balkanfeeling.
 
turus: Beschreib es doch mal!
 
M. Bertram: Schwer zu sagen. Wenn ich die Musik höre, kommt ein fröhliches und zugleich melancholisches Gefühl auf. Die Balkanregion hat so viel Lebensfreude - zugleich hat diese Region so viel Leid ertragen müssen. Dort bilden Lebensfreude und Tragik eine einmalige Mischung.
 
turus: Was überraschte dich am meisten in den Balkan-Ländern?
 

M. Bertram: Da ich mit dem Fahrrad unterwegs war, achtete ich sehr auf die Straßenverhältnisse und die Einkaufsmöglichkeiten. Selbst kleine Nebenstraßen befinden sich in Kroatien und Serbien meist in einem guten Zustand.
Wirklich in dem kleinsten Dorf gibt es einen Laden, in dem man sich mit dem Nötigsten versorgen kann. Und was wichtig ist: Man trifft Leute. Vor dem Laden, vor dem Kiosk, auf der Straße, auf den Bänken vor den Grundstücken. Dort wird viel gesprochen. Man trifft sich. Kinder spielen an allen Ecken. Versteht mich nicht falsch! Ich möchte hier nicht das Paradies auf Erden propagieren, doch es fühlte sich dort einiges wirklich gut an!
 
turus: Deine Touren führten dich auch nach Vukovar...
 
M. Bertram: Im April machten wir einen Abstecher nach Vukovar und Osijek. Es war ein komisches Gefühl, diesen im Krieg fast komplett zerstörten Wasserturm von Vukovar mit eigenen Augen zu sehen.

Ich kannte ihn wie die meisten aus den Nachrichten Anfang und Mitte der 90er Jahre. Am Ufer der Donau steht er nun als Mahnmal.Die Granateneinschläge hinterließen im Turm tiefe Wunden. Oben weht jetzt die kroatische Flagge.
Die Stadt befindet sich im Aufschwung. Vieles wurde wieder aufgebaut, doch die Kriegsspuren sind noch allgegenwärtig. Ich fertigte zahlreiche Fotos an und mir gingen die Einschusslöcher und zerstörten Gebäude mächtig unter die Haut. Bei dem Anblick fragte ich mich, wie die Balkanvölker einander jemals wieder verzeihen können. Die Folgen des Krieges müssen tief in der Seele sitzen.
Und in der Tat - schaut man in Vukovar älteren Menschen in die Gesichter, so sieht man, dass Augen und Gesichtszüge eine eindeutige Sprache sprechen. Die jungen Leute, die nun die neue Generation bilden, wirken dagegen sehr lebensfroh und energiegeladen. Das gilt für die meisten jungen Leute in Kroatien, Serbien und Bosnien-Herzegowina.
 
turus: Apropos Bosnien-Herzegowina. Dort ging es dann neulich auch hin?
 
M. Bertram: Mit dem Zug fuhren ein Freund und ich von Zagreb nach Banja Luka. Diese Stadt ist Hauptstadt der Republika Srpska. Wir waren sehr gespannt, was uns dort erwartet...
 
turus: Und wurdet Ihr positiv oder negativ überrascht?
 
M. Bertram: Unter dem Strich - positiv. Ganz klar! Der Bahnhof von Banja Luka liegt etwas abseits des Stadtzentrums. Da wurde mir ein wenig mulmig, da dort alles nicht so freundlich ausschaute. Ein Typ verkaufte serbisch-nationalistische Utensilien und spielte serbische Kampflieder ab. Da dachte ich, prima, wo sind wir hier nur gelandet?
Doch dann wendete sich das Blatt komplett. Die Stadt ist durchaus sehenswert und interessant! Wir übernachteten im Hotel Bosna direkt gegenüber der großen orthodoxen Erlöserkirche. 
Abends schlenderten wir die Fußgängerzone entlang. Unglaublich, wie viele junge Leute auf den Beinen waren. Es wimmelte nur so an jungen Menschen. Auf Transparenten wurden etliche Veranstaltungen angekündigt. Folklore-, Musik- und Sportfeste standen dort auf der Tagesordnung. 
Interessant war auch der moderne Regierungssitz der Republika Srpska. Blitzblanke Glasfassaden prägen das Antlitz des monströsen Baus. Dort war auch so ziemliche der einzige Ort, wo in Banja Luka die bosnische Flagge weht. Meist sieht man nur die serbische Regionalflagge. Serbische Fahnen prägen das Bild in der Stadt. Man könnte meinen, man sei in Serbien und nicht in Bosnien-Herzegowina.
 
turus: Leben dort im serbischen Teil von Bosnien-Herzegowina nur Serben?
 
M. Bertram: Bosnien und Herzegowina besteht seit dem Dayton-Vertrag aus den zwei autonomen Staaten: Der Föderation Bosnien und Herzegowina und der Republika Srpska. In der Föderation Bosnien und Herzegowina leben rund 73% Bosniaken, rund 21,5% Kroaten und rund 4,5% Serben. In der Republika Srpska sind die größte Volksgruppe mit rund 90% die Serben.
Man muss sich mal die Regierungssgeschäfte im Gesamtstaat Bosnien und Herzegowina vorstellen. Sarejevo ist zugleich Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina und von der Föderation Bosnien und Herzegowina. Welcher europäische Normalbürger sieht da noch durch? 
Es ist kein Geheimnis, dass in Sarajevo und Banja Luka jeweils das eigene Süppchen gekocht wird. Es gab und gibt Bestrebungen in der Republika Srpska, sich komplett von Bosnien und Herzegowina abzuspalten.
 
turus: Ein Anschluss an die Republik Serbien?
 
M. Bertram: Eher nicht! Manche würden das sicherlich begrüßen, doch dies ist eher unwahrscheinlich. Die Republika Srpska zur Republika Srbija - das wäre ein Ding, aber dazu wird es nicht kommen.
 
turus: Der serbische Präsident Boris Tadic besuchte neulich die Stadt Banja Luka.
 
M. Bertram: Das wurde nicht von allen Seiten begrüßt. Von den anderen ethnischen Gruppen wurde das mit großer Skepsis zur Kenntnis genommen. Es wurde kritisiert, dass bei diesem Staatsbesuch die Regierung in Banja Luka auf eigene Faust gehandelt hat. Sarajevo war außen vor und wurde wohl zu spät informiert. Vor drei Tagen habe ich in einem Artikel gelesen, dass der "Traum vom vereinigten Land zu scheitern droht".
 
turus: Spürt man davon etwas vor Ort in Banja Luka?
 
M. Bertram: Wie gesagt, die Stimmung auf den Straßen fühlte sich gut an. Besonders die jungen Leute scheinen ihr Ding zu machen und genießen das Leben in vollen Zügen. Aber wie gesagt, es war nicht zu verkennen, dass dort fast alles serbisch ist.
Angefangen von der Beflaggung bis hin zum Bier, das aus Serbien importiert wird. Jelen Pivo an jeder Ecke, in jedem Straßencafé. Und bei einem Straßenbasketball-Turnier liefen fast alle Kids mit Trikots und Shirts aus Serbien herum.
 
turus: Und da wäre noch das Kosovo-Problem.
 
M. Bertram: Dazu kann ich schwer was sagen. Ich war zwar im Süden Serbiens, jedoch nicht im Kosovo. Von außen betrachtet hätte ich da kein Patentrezept zur Hand. Die Sache ist dermaßen verzwickt.
Am 17. Februar 2008 wurde in Pristina die Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien erklärt.
Rund ein Drittel der UN-Mitgliedstaaten erkennen die Republik Kosovo als unabhängig an. Man schätzt, dass 88% der Bevölkerung Albaner und 7% der Bevölkerung Serben sind. Es kommen Stimmen auf, die eine Teilung des Kosovo vorschlagen.
In den zu Serbien angrenzenden Regionen Leposaviq, Zvecan und Zubin Poto gibt es ja serbische Mehrheiten. Vielleicht wäre eine Teilung ein Mittelweg für beide Seiten, um endlich dauerhaften Frieden zu sichern.
Doch was würde man in diesem Fall mit der Region Strpce machen? Dort gibt es auch eine serbische Mehrheit, doch die Region grenzt im Süden an Mazedonien ...
 
turus: Kommen wir auf das Thema Reisen und Tourismus zurück. Welche Region des Balkans kannst du am stärksten empfehlen?
 
M. Bertram: Wirklich grandios ist natürlich die kroatische Adriaküste. Dort ist alles touristisch komplett ausgebaut und das Zusammenspiel von Bergen und Meer ist dort sehr reizvoll.
Wer es einsamer mag, dem sei eine Radtour durch Serbien zu empfehlen. Touristisch ist Serbien in vielen Gegenden noch nicht groß erschlossen und trotzdem wird man sich dort auf Grund der Gastfreundschaft nie allein fühlen...
 
turus: Vielen Dank für das Interview!
 
 
Weiterer Beitrag: Kosovo - wie geht es weiter?
 
 
 
Fotostrecke Zagreb und Vukovar (Kroatien):
 
 
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