Ist Berlin noch so sexy wie in den 90er Jahren?

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Mal ganz ehrlich! Ist Berlin 2011 noch wirklich sexy und cool? Oder einfach nur angesagt, hipp, arm und stressig zugleich? Meine Antwort mal gleich voraus geschickt: Nein, Berlin ist nicht mehr so lässig und sexy wie es in den 90ern einmal war. Definitiv nicht! Bevor die Massen aufschreien, sei an  dieser Stelle zur Beruhigung gesagt, das Gleiche gilt auch für Prag und Budapest! Das Lebensgefühl, das in den 90er Jahren Berlin so liebenswert machte, muss heutzutage in anderen Städten gesuchte werden, in denen Aufbruchstimmung herrscht. In Banja Luka, Sarajevo und anderswo.





Sicher, sicher, noch immer ist Berlin eine verdammt interessante Stadt, die so zahlreiche Facetten zu bieten hat, doch im Zuge all der Veränderungen ist eben das lässige Sexappeal ein Stück weit verloren gegangen. Verdammt noch mal, wo sind all die coolen Straßen, die es einst im Friedrichshainer Samariterviertel gab? Allein die Schreinerstraße - ein Ort zum Ausgehen und Wohlfühlen. Eine Flasche Bier für 1,50 DM im Artischock und gut war. Nette Leute, gute Musik, entspannte Atmosphäre - wie vielerorts.

Und heute? Ganze Straßenzüge wurden saniert, bis sie tot und leblos waren. Die Entwicklung im dortigen Kiez rund um die Schreinerstraße erfolgte bereits zur Jahrtausendwende. Im Anschluss hatte es die Gegend schwer, sich bezüglich der Lockerheit und all der Kneipen noch einmal aufzurappeln. Ein Hauch 90er ist noch in der Rigaer Straße zu finden, doch die Zeit der abgefahrenen Kellerkneipen ist auch dort vorbei.

Berlin - vor allen Dingen der Ostteil der Stadt - erlebte nach dem Fall der Mauer einen gewaltigen Aufbruch. Alles schien möglich, Kneipen und Clubs schossen wie Pilze aus dem Boden. Teure Mieten im Altbau? Fehlanzeige! Okay, es war teilweise schon hart, im Winter die Kohlen hochzutragen, doch selbst als Student war das Überleben überaus leicht. Geld für Wohnung, Essen und Freizeit - das war recht locker verdient. Die Mindestlöhne für Jobs über die Tusma (Arbeitsvermittlung) lagen bei 17,50 DM (15 DM für Küchenjobs). Umzugshelfer, auf dem Bau - bei recht entspannter Atmosphäre waren 150 DM mal eben am Tag verdient. Der ganze Abend im Prenzlauer Berg oder im Friedrichshain war in einer Stunde verdient. Heute überlegt man dreimal, wie viel Bier man bestellt. 5-Euro-Jobs für Studenten sind an der Tagesordnung. Unbezahlte Praktika sowieso.

Mit dem neuen Jahrtausend verflog die entspannte Zeit. Wirtschaftskrisen, steigende Mieten, teuere Gastronomie. Viele abgefahrene Schuppen mussten schließen, die Regeln wurden strenger. Der Umgangston wurde rauer, die Arbeitsbedingungen härter - das wirkt sich letztendlich auf die gesamte Stadt aus.
90er Jahre. Milde Sommerabende im Tacheles in der Oranienburger Straße, wirklich coole Love Parades auf dem Ku´damm und dem Tauentzien. Und dann das Highlight: Die Reichstagsverhüllung von Christo und Jeanne-Claude im Jahre 1995. Gejobbt als Monitor, bestaunt als Besucher, gefeiert als Berliner oder als Tourist. Grandios!
Abitur auf dem zweiten Bildungsweg? Studium an der Uni? In den 90ern noch eine Freude, weil die andere Seite des Lebens fernab des Lernens und des Jobbens nicht zu kurz kam.

Berlin Mitte, Anfang bis Mitte der 90er Jahre. Noch vielerorts marode Fassaden. Charme an jeder Ecke. Mit der S-Bahn-Linie 1 zur Station Oranienburger Straße. Mit dem markanten Geräusch rollten die alten S-Bahnwaggons ein. Auf dieser Linie wurden gern die ganz alten Modelle aus den 30er Jahren eingesetzt. Damals sprach man en punto S-Bahn noch von den Türen, die sich während der Fahrt öffnen ließen. Heute spricht man nur noch verärgert über das Desaster der nicht fahrenden Züge. Richtig, die S-Bahn ist irgendwie ein Sinnbild der Zeit, der Stadt, der Gesellschaft. Zwar wurde alles moderner und aufgeräumter und organisierter, doch letztendlich funktioniert nichts besser. Im Gegenteil. Man fragt sich, wo die Spirale hinführen soll. Wer soll bei diesen Bierpreisen im Prenzelberg und in Mitte noch richtig Bock auf eine lustige Nacht haben? Wer soll sich bald noch die sanierten Altbauwohnungen leisten können?

Eine Nacht im halb legalen Klub "Eimer" in der Rosenthaler Straße 68, all die Kneipen in den besetzten und halb legal bewohnten Häusern. Ein Feeling wie in Moskau oder St. Petersburg. Welcher Berliner geht jetzt noch in Mitte aus? Hände hoch! Die Berliner (vor allem die Mittdreißiger bis Mittvierziger) sind auf der Suche nach den Nischen der Stadt, nach dem Lebensgefühl der geliebten 90er. Und es gibt sie, die Nischen. Neu eröffnete Kneipen in Berlin-Neukölln. Klingt kurios, doch ein paar neue Läden in der Schudomastraße in Rixdorf erinnern sehr stark an das Friedrichshain der 90er. Einen "Eimer" oder ein "Artischock" im Stile der alten Zeiten wird man jedoch auch hier nicht finden.
Das Fazit: Man wird, man kann die Zeit nicht mehr zurückdrehen. 20er Jahre, 50er Jahre, 90er Jahre - diese mit Nostalgie geschwängerten Zeitspannen haben nun mal ihren festen Platz in der Geschichte. Ohne Wenn und Aber...

> zur turus-Fotostrecke: Berlin in den 80ern und 90ern