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Zwischen Binck Bank Tour und Belgischer Radsportleidenschaft

 
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Belgien - das ist Radsport und die Leidenschaft dazu, wie man sie kaum irgendwo anders findet. Begründet auf einer fast anderthalb Jahrhunderte gesammelten Tradition großer namenhafter Rennen und Rennfahrer. Der Respekt und die Achtung gegenüber den Rennfahrern und ihrer strapaziösen Leistung, die ihnen auf den Hellingen und Kasseien, bei teilweise eisigen Temperaturen Wind, Regen, Schnee oder auch unerträglicher Hitze, über staubige Pisten, über Kopfsteinpflasterstraßen, in steilen endlos lang wirkenden Anstiegen abverlangt wird, haben sich die Belgier stets bewahrt.

Die soziale Ausgrenzung eines Jan Ullrich beispielsweise, dessen Gesicht immer wieder für jeden Beitrag über Doping im Sport in der deutschen Presse herhalten musste, würde es in Belgien niemals geben. Das heißt nicht, dass nicht kritisch mit den Rennfahrern in der belgischen Presse umgegangen wird. Ganz im Gegenteil! Bleiben die Erfolge aus oder auch bei Dopingvergehen, gibt es regelmäßig ordentlich Zunder, so dass einem die Ohren schlackern. Der Umgang mit Kritik ist jedoch ein völlig anderer. Der Respekt und die Achtung bleiben stets gewahrt, so dass man sich immer wieder in die Augen schauen kann. 

Am vergangenen Sonntag zum Ende der Binck Bank Tour hatte ich das Vergnügen, Eddy Verbust, in seinem privaten Radsportmuseum, der „Schatzkammer Belgiens“, einen Besuch abzustatten. Er ist einer der berühmtesten „Wielerverzamelaar“ (Sammler von Radsport Utensilien) Belgiens. Mit 10 Jahren hat er begonnen alles aufzubewahren und zu archivieren, was er von und über den Radsport in die Finger bekommt – heute ist er 70 Jahre alt. Wenn man seine Gemächer betritt, kommt man sich als Radsportenthusiast vor wie ein kleines Kind, das von seinen Eltern zum ersten Mal zu Toys R Us mitgenommen wird. Mit aufgerissenen leuchtenden Augen kommt man aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Plakate von der Tour de France aus dem Jahre 1913, aus den 40ern und 50ern, als sich die Fahrer noch auf dem offiziellen Plakat einschreiben mussten. 

 

Eine Vitrine nur mit Radsport-Accessoires der Tour, die Werbekarawane als Matchbox Fahrzeuge - der L´Equipe und der Supermarché Kette Champion. Trophäen, Poster, Plakate und die Original Einschreibetafeln der Six Days in Gent. Trikots über Trikots, von allen Sechstagerennen, das Gelbe von Jan Ullrich 1997, das WM-Trikot von Danny Clark, Trikots von den Sixdays Gent, der WM in London 2016 und vom Stundenweltrekord von Sir Bradlay Wiggins. Trikots von Eddy Mercks und natürlich Patrick Sercu. Siegerkränze vom Berliner Sechstagerennen und ein Riesen-Archiv im Keller mit Programmen von allen Sixdays, Radsportzeitschriften und Roadbooks von sämtlichen Klassikern. Vitrinen mit Trophäen, Medaillen und Accessoires von Danny Clark, Patrick Sercu, Eddy Merckx, Matthew Gilmore und natürlich Kenny de Ketele. 

 

Zu Kenny hat Eddy ein ganz besonderes Verhältnis. „Er wohnt jedes Jahr im November zu den Sixdays in Gent bei mir“, erzählt Eddy. In einem Raum zwischen den Rädern von Matthew Gilmore und der Vitrine mit De Keteles Ehrenpreisen seit seiner Jugendzeit steht seine Massagebank immer aufgebaut und bereit für den aktuellen Madison-Europameister. „Vorher haben Matthew Gilmore und davor Danny Clark bei mir gewohnt, wenn die Sixdays in Gent liefen“, so Eddy. An Inspirationen, jeden Abend Vollgas in der t´Kuipke Arena zu geben, dürfte es ihnen wohl kaum gefehlt haben. 

 

Bei ein, zwei schönen Gläsern Muurken, einem belgischen Bier, benannt nach der Mauer von Geraardsbergen, wurde bis spät in die Nacht philosophiert über die jungen Rennfahrer, über belgische Rennen und auch darüber, dass die neue Sixdays Serie von der Madison Sports Group bei den Belgiern nicht ankommt. „Das sind keine Sechstagerennen mehr. Früher bin ich überall hingefahren, nach Köln nach Dortmund, Bremen und Berlin. Abends hat man mit den Fahrern im Teamhotel zusammen gesessen und bis spät in die Nacht gefeiert. All das gibt es nicht mehr. Kein tolles Showprogramm mehr. Die Rennfahrer gehen direkt nach dem Rennen ins Bett, die Rennen sind langweilig, und es kommt kaum noch Stimmung auf. Mit Sechstagerennen hat das nichts mehr zu tun.“ Tja, und da hat er wohl nicht ganz unrecht. Echte Radsport-Enthusiasten können mit dem immer mehr kommerzialisierten Livestyle im Radsport, wo es einzig und allein ums leidenschaftslose Geldscheffeln geht, nichts anfangen. 

Vielen Dank Eddy, für die tolle Führung und die nette Gastfreundschaft, die ich an der großen belgischen Radsportfamilie so schätze! 

 

In Belgien verfolgt man seit geraumer Zeit ein neues Konzept um Jugendliche und Kinder mehr für den Radsport zu begeistern und auch langfristig daran zu binden. Im Rahmen der Binck Bank Tour hat man erstmals ein völlig neues Rennkonzept umgesetzt, welches zum einen für die Zuschauer spannender und interessanter ist, aber auch eine taktische Umstellung der Rennfahrer verlangt. Sowohl zum Anfang wie auch am Ende einer jeden Etappe werden ein bis drei lokale Runden gefahren, auf diesen Runden gibt es mehrere Sprintwertungen, bei denen entsprechend der Platzierungen Bonussekunden gutgeschrieben werden. Das zieht zum einen wesentlich mehr Zuschauer zum Start, wo man die Rennfahrer mehrmals sehen kann, die dann anschließend zum Ziel weiterziehen, wo das Peloton ebenfalls mehrmals die Ziellinie passiert. Durch die Sprintbonifikationen bleibt der Kampf im Gesamtklassement spannend bis zum Schluss und auch die Fahrer müssen permanent rechnen, um am Ende nicht doch das Nachsehen zu haben.

Auf der ersten Etappe war es das Wolfpack – Quick Step Floors mit dem Niederländer Fabio Jakobsen, welches dem Katusha-Sprinter Marcel Kittel knapp den Sieg abluchste. Dies sollte bis zum Ende der Tour die einzige Etappe sein, wo die Sprinter zum Zuge kamen.

 

Auf der zweiten Etappe war es Schweizer Stefan Küng vom BMC Racing Team, der der Konkurrenz in Sachen Kurzzeit Time Trail eine Lehrstunde erteilte und das Rennen auf dem pottflachen 12,7 Kilometer langen Kurs in Venray souverän mit 14 Sekunden Vorsprung gewann. Der Berliner Maximilian Schachmann legte hier mit einem hervorragenden 5. Platz und 19 Sekunden Rückstand auf Küng den Grundstein für sein sehr gutes Gesamtabschneiden bei der diesjährigen Austragung der einwöchigen Rundfahrt durch Belgien, Holland und Deutschland.

 

Eigentlich war danach anzunehmen, dass sich das BMC Racing Team das Gesamtklassement nicht mehr aus der Hand nehmen lässt. Doch es kam ganz anders. Auf der dritten Etappe von Aalter nach Antwerpen über 175 Kilometer setzte sich direkt nach dem Start eine fünfköpfige Spitzengruppe mit Taco Van Der Horn, Jesper Asselman (Roompot), Sean De Bie (Veranda´s Willems), Maxime Vantomme (Veranclassic) und Matej Mohoric (Bahrain Merida) ab. Der Slowene Mohoric  organisierte die Gruppe so gut, dass sie am Ende über eine Minute bis ins Ziel retteten. Der lange verletzte Van Der Horn gewann mit einer beherzten finalen Attacke die Etappe und Mohoric übernahm die Gesamtführung, die er bis zum Finale in Geraardsbergen nicht mehr abgeben sollte.

 

Auf der vierten Etappe sahen auch die anderen Fahrer, dass alles möglich ist, und so war es der Belgier Jasper Stuyven vom Team Trek Segafredo, der auf dem letzten Kilometer dem Peloton entschwand und den Sprintern ein Schnippchen schlug. Rüdiger Selig sprintete als bester Deutscher auf Rang 4.

 

Auch auf dem fünften Tagesabschnitt ging früh die Gruppe des Tages mit Jonas Rickaert (Sport Vlaanderen Baloise), Alexis Gougeard (AG2R), Julius Van Den Berg (EF Education First) und Magnus Cort Nielsen (Astana). Die Gruppe hielt das Peloton auf über 30 Sekunden Abstand bis ins Ziel und im Finale holte sich der Däne Magnus Cort Nielsen den Sieg.

 

Die vorletzte Etappe durch das Limburger Land war von vielen Attacken geprägt und endete auf dem Tom Dumoulin Bike Park in Sittard Geleen. Der Österreicher Gregor Mühlberger attackierte auf den letzten 1000 Metern aus einer fünfköpfigen Gruppe heraus in der auch Maximilian Schachmann vertreten war. Mühlberger sicherte sich souverän den Sieg und Schachmann wurde erneut starker Fünfter.

 

Die finale Etappe war für alle Radsportfans ein echter Leckerbissen. Dreimal ging es auf der finalen Runde über die Kapelmuur von Geraardsbergen. Ständige Attacken und Führungswechsel bestimmten den Rennverlauf und auch Mohoric war zwischenzeitlich in ernster Bedrängnis. Am Ende entschieden die Klassikerspezialisten Michael Matthews (Sunweb) vor Greg van Avermaet (BMC), Zdenek Stybar (Quick Step) und Oliver Naesen (AG2R) das Rennen für sich. Maximilian Schachmann wurde erneut starker Fünfter und schob sich damit im Gesamtklassement auf Rang 4 vor.

 

Der Gesamtsieg blieb bei Matej Mohoric (Bahrain Merida). Durch seinen Sieg auf der letzten Etappe schob sich Michael Matthews (Sunweb) auf Rang 2 vor. Dritter wurde Tim Wellens (Lotto Soudal). Die Binck Bank Tour 2018 wurde knallhart im belgisch-niederländischen Stil gefahren, wo es auf jeder Etappe von Beginn an richtig zur Sache ging. Geschenkt wurde sich nichts. Das hat wieder einmal gezeigt, wo man als junger Rennfahrer hinfahren muss, möchte man seine „Ausbildung“ vervollständigen und irgendwann einmal im World Tour Peloton seinen Platz finden.

Fotos: Arne Mill (frontalvision.com)

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