Wir haben schon einige Male in der Vergangenheit vom Genter Sechstagerennen berichtet und dieses Rennen als das Nonplusultra der Sixdays tituliert. Und auch in diesem Jahr nach einer einjährigen Pause wegen der COVID-19-Pandemie mussten wir feststellen, dass die Organisatoren nicht nur erneut ein erstklassiges Fahrerfeld verpflichteten, sondern auch die umfangreichen Auflagen zur Bekämpfung der Pandemie, die leider immer noch auf der Welt grassiert, mit Bravour erfüllten.
Sixdays in Gent: Kenny De Ketele krönt seine Laufbahn mit seinem 18. Sechstagesieg
Die Auflagen waren schon hart, denn jederzeit Maske zu tragen, keine Bewirtung in der Halle und Essen und Trinken nur an gesonderter Stelle in den Katakomben, das alles forderte von den radsportbegeisterten Belgiern eine ganze Menge. Der Sport stand somit noch mehr als sonst im Vordergrund und vom Publikum, das immer eine einzigartige Stimmung und Atmosphäre verbreitet, war in erster Linie Disziplin gefordert. Unter 3G-Auflagen war die Halle gerade am Wochenende brechend voll und das Publikum verbreitete auch ohne Gerstensaft totale Begeisterung.
Die Fahrer ließen sich aller Widrigkeiten zum Trotz von hervorragenden sportlichen Leistungen, gepaart mit einer Einsatzfreude von Beginn an, nicht abhalten und boten auch bei der 80. Austragung der Genter Sixdays ein großes Spektakel, das leider in der abschließenden Jagd am Sonntagnachmittag aufgrund eines folgenschweren Sturzes für 45 Minuten unterbrochen werden musste. Leidtragende des Sturzes waren insbesondere der Brite Mark Cavendish, der mit zwei Rippenbrüchen und einem kleinen Lungenkollaps aufgeben musste, und der Däne Lasse Norman Hansen, der das Rennen zwar fortsetzen, aber im Kampf um den Sieg nicht mehr eingreifen konnte.
Aber der Reihe nach: als der belgische Gewinner der Bronzemedaille im Marathon bei den Olympischen Spielen in Tokio, Bashir Abdi, am 16. November 2021 den Startschuss abgab, ging die erbarmungslose Jagd um Runden und Punkte sofort los. Ein Wettbewerb jagte den nächsten und es entwickelte sich bis zum Finale am Sonntag ein Vierkampf um den Sieg, nachdem zu Beginn sogar sechs Teams das Rennen bestimmt hatten.
Wider Erwarten fuhren die Belgier Otto Vergaerde/Jules Hesters und die belgisch-schweizerische Kombination Jonas Rickaert/Silvan Dillier neben den dänischen Olympiasiegern und Weltmeistern im Madison Michael Mörköv/Lasse Norman Hansen, den Belgiern Kenny De Ketele/Robbe Ghys, dem Belgier Iljo Keisse an der Seite von Mark Cavendish und der deutsch-belgischen Mannschaft Roger Kluge/Jasper De Buyst in der Spitze mit, während die mitfavorisierten Madison-Europameister aus den Niederlanden Yoeri Havik/Jan-Willem van Schip gleich in der ersten Nacht fünf Rückstandrunden aufzuweisen hatten. Es schien, als ob Jan-Willem van Schip mit der kurzen Bahn in Gent so seine Schwierigkeiten hatte.
Erst in der vierten Nacht fielen Otto Vergaerde/Jules Hesters auf fünf Runden zurück und auch Jonas Rickaert/Silvan Dillier, krankheitsbedingt indisponiert, mussten sogar 11 Runden Rückstand in Kauf nehmen. Von den großen Vier fielen auch Iljo Keisse/Mark Cavendish auf drei Runden Rückstand zurück, aber sie kämpften sich wieder heran und waren dem verbliebenen Spitzentrio auf den Fersen. Der Sturz von Mark Cavendish war dann das endgültige Aus auch für seinen Partner Iljo Keisse, der die letzten Minuten allein das Rennen zu Ende fuhr und den vierten Platz mit sieben Runden Rückstand belegte. In den furiosen Schlussminuten waren auch Michael Mörköv und der angeschlagene Lasse Norman Hansen chancenlos, die vorher vier Tage lang das Rennen dominiert hatten und als heiße Sieganwärter galten. Mit dem dritten Platz mit sechs Verlustrunden waren sie eindeutig unter Wert geschlagen.
Zwischen den beiden führenden Paarungen Kenny De Ketele/Robbe Ghys und Roger Kluge/ Jasper De Buyst war es zum Schluss ein offener, wilder Schlagabtausch mit Rundengewinnen im halben Dutzend, den die Belgier in gleicher Runde liegend aber mit erheblichem Punktevorsprung für sich entschieden. Für Kenny De Ketele, der mit Robbe Ghys damit seinen Sieg von 2019 verteidigte, war es unter dem Jubel seiner vielen Landsleute ein glänzender Abschied von seiner aktiven radsportlichen Laufbahn, die nicht besser hätte enden können.
Eigentlich war von Kenny De Ketele noch ein Start beim Rotterdamer Sechstagerennen im Dezember dieses Jahres vorgesehen, aber wie sich aktuell ergab, wird dieses Rennen der Corona-Pandemie zum Opfer fallen. Damit wird Gent wahrscheinlich das einzige Sixdays in dieser Saison bleiben, denn Bremen hatte schon lange vorher das Rennen abgesagt und in Berlin wird, wenn überhaupt, nur ein Drei-Tage-Rennen (als Sechstagerennen deklariert!?) veranstaltet.
Die ehemalige Sechstagehochburg in der deutschen Hauptstadt gibt es nicht mehr und es ist zu befürchten, dass Berlin kurz über lang vollständig aus dem Veranstaltungskalender verschwindet. Man will zwar Anfang Februar 2022 über sechs Tage Radsport bieten, aber vorgesehen sind drei Tage für den Nachwuchs und drei Tage für die Profis. Löblich ist das Vorhaben allemal, zumal man die Nachwuchsförderung vorantreiben will, aber von einem Sechstagerennen, das immerhin seine 110. Auflage erleben würde, ist man weit entfernt. Warum verkauft man das Rennen nicht offiziell als Drei-Tage-Rennen, wie es in Kopenhagen vor kurzem vorgemacht wurde?
Es sieht derzeit leider so aus, dass aber auch in Berlin die Pandemie dem Veranstalter einen Strich durch die Rechnung machen wird. Vielleicht wäre das gar nicht so schlecht und ein Neustart nach Corona unter dann halbwegs normalen Zuständen wäre die bessere Lösung. Unter den nur noch wenigen Veranstaltern wie Gent, Rotterdam und Bremen, die allesamt ihr Engagement nach der Pandemie fortsetzen wollen, müsste Berlin schon dabei sein. Aber dann sollte auch die internationale Weltspitze wie jüngst in Gent am Start sein und vor allem die spannenden und publikumswirksamen Dernyrennen als Rahmenprogramm beibehalten werden. Auf die ebenfalls beliebten Steherrennen kann man schon eher verzichten, insbesondere im Hinblick darauf, dass in diesem Metier aktuell hochkarätige Starterfelder nicht mehr vorhanden sind.
Bericht: Bernd Mülle
Fotos: Arne Mill / frontalvision.com