Eigentlich konnte man die Uhr nach stellen. Als draußen auf dem Gang der Westtribüne in der Pause auf einer Anzeige „noch vier Minuten bis zum Wiederanpfiff“ zu lesen war, konnte man sich getrost zu seinem Platz begeben – und zwar mit der Gewissheit, dass gleich etwas passieren würde. Bereits vor der Pause wurde sich im Block 9A vermummt, und der komplett in Schwarz getauchte Gästeblock war während der ersten Halbzeit vergleichsweise unauffällig. Die Ruhe vor dem Sturm. Wie oft bekam ich in den vergangenen 35 Jahren hierzulande und im Ausland Randale und Bambule zu sehen? Recht häufig! Mal „knallte“ es situationsbedingt aus der Emotion heraus – dies war vor allem in den 90ern typisch -, mal kam die Randale mit Ansage. Scheinbar gut vorbereitet und teils auch zeitlich abgesprochen.
Ich erinnere mich noch an die Videoaufnahmen vom Krakauer Derby zwischen Cracovia und Wisla am 13.12.2017. Auf YouTube wird man mit „Zadyma na 195. Derbach Krakowa“ sofort fündig. Wie krank sei das denn, fragte ich mich damals beim Betrachten der Bilder. In aller Seelenruhe zog sich ein auf dem Zaun sitzender Cracovia-Kibole im blauen Einteiler eine Art Fliegerbrille auf – und wenig später gab er den Startschuss. Die ersten roten Leuchtkugeln flogen in Richtung Gästeblock, der sich nicht allzu weit weg befand, und landeten auf dem grünen Rasen. Nachdem wohl „feiner justiert“ wurde, flog das Zeug immer dichter gen Wisla-Fans. Die Rasenfläche war übersät mit Leuchtkugeln, und im Gästeblock schepperte und knallte es über den Köpfen der Gästefans in einer Tour. Ein Albtraum, bei solch einem Angriff in solch einem Käfig stehen zu müssen.
Auswärts zu Cracovia?!
Nur am Rande: Wenig später erhielt ich einmal das Angebot als Berichterstatter die Fans von Pogon Szczecin im Sonderzug zu begleiten, um Bericht, Fotos und Videos anzufertigen. Wohin? Auswärts zu Cracovia! Nee danke! Ich malte mir bei Zugankunft und im Stadion die schlimmsten Szenarien aus und sagte höflich ab. Meine Leidenschaft für den gepflegten Einsatz von Pyrotechnik dürfte allseits bekannt sein und seit nun mehr über 15 Jahren setze ich mich über diese Plattform vehement für die Legalisierung und das kontrollierte Abbrennen von Pyrotechnik ein. Sobald jedoch etwas durch die Gegend geworfen oder abgeschossen wird, ist es vorbei mit meiner Freude und Leidenschaft. In der Vergangenheit durfte ich ein paar Mal erleben, wie es ist, wenn Leuchtkugeln auf einen abgefeuert werden. Abartig hoch drei! Völlig egal, ob in einem mega vollgestopften Away Winkel eines Stadions stehend oder in einem Sonderzug sitzend.
Sagen wir es mal so, ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal polnische, griechische oder serbische Verhältnisse in einem deutschen Stadion zu sehen bekommen würde. Hätte mir einer vor 30 Jahren zugeflüstert, dass im Jahr 2025 minutenlang Pyro-Zeug von Block zu Block fliegen würde, hätte ich ihm einen Vogel gezeigt. Wie solle das gehen bei all der kompletten Überwachung in solch modernen Stadien?
Polizei-Einsatz in der Pufferzone
Kommen wir auf den Samstag zurück. Der F.C. Hansa Rostock empfing die SG Dynamo Dresden, und kurz vor Ablauf der Pausenzeit tat sich etwas am bzw. am Gästeblock. Wie in einem Film, in dem eine Burg erobert wird, schoben behelmte Polizisten Leitern heran und enterten die Pufferzone zwischen Gästeblock und Südtribüne. An der dortigen Plexiglaswand hatten die Dynamo-Fans in der ersten Halbzeit nach zirka zehn Minuten von außen ein langes Banner mit der fetten Aufschrift „Sachsenpower“ als klare Botschaft und zugleich als Sichtschutz angebracht. Als die ersten Polizisten an diesem langen Stoff zog, gelang es den Dynamo-Fans das gute Stück in ihrem Block zu sichern.
Was genau der Auslöser war, dieses Banner entfernen zu wollen, war nicht ganz eindeutig, doch dürfte nun jedem Betrachter klar gewesen sein, dass das Ganze eskalieren würde. Ich rechnete mit einer Eskalation zwischen Dynamo-Anhängerschaft und Polizei und war überrascht, als wie auf Kommando auch am Rande der Südtribüne Bewegung aufkam und erste Pyrotechnik abgefeuert wurde. Die Frage „Wer hatte zuerst geschossen?“ ist nicht eindeutig zu beantworten und eigentlich auch irrelevant, da ganz sicher beide Seiten gut vorbereitet waren und ein ganzes Arsenal an diversen Leuchtelementen bereitzuliegen hatten. Wie früher nur auf dem Balkan, in Griechenland oder in Polen üblich, böllerte und feuerte es nun minutenlang.
Da sich anfangs das Getöse weitgehend allein zwischen Gästeblock und Südtribüne abspielte, hielt sich der hörbare Unmut auf den Rängen noch in Grenzen, was jedoch auch daran lag, dass es nicht mitten im Spiel geschah, sondern am Ende der Halbzeitpause. Erstaunt, überrascht und sicherlich teils auch fasziniert blickten die Zuschauer auf das arge Treiben. Das sollte sich allerdings ändern, als teils gezielt Leuchtkugeln in den Gästeblock (zuvor landete das meiste Zeug in Pufferzone, am Dach und im Netz) abgeschossen wurden und auch Bewegung auf der Osttribüne aufkam. Vom Block 9A kommend suchten nun auch an der Pufferzone zwischen Osttribüne und Gästeblock einige Vermummte den Kontakt mit der Dynamo-Anhängerschaft. Die ausgelegte Plane wurde zerrissen und auch von dort aus wurde Pyrotechnik direkt auf die Köpfe der Dynamo-Fans abgefeuert. Da konnte nur noch mit dem Kopf geschüttelt werden. Mit einer „Pyro-Folklore“ zwischen Gleichgesinnten hatte das nun wirklich nix mehr zu tun gehabt.
Das Spiel stand kurz vor dem Abbruch. Zumal ganz klar erwähnt werden sollte, dass bereits 35 Minuten vor Anpfiff beim Warmmachen eine Leuchtkugel gezielt auf die Dynamo-Spieler abgefeuert wurde. Die Grenze beim Einsatz von Pyrotechnik kann jeder für sich ziehen. Der eine ist für null Toleranz, der andere mag ein kontrolliert abgebranntes rotes Lichtermeer, wiederum andere befürworten auch gen Himmel abgeschossene Batterien. Beim Abfeuern von Pyro auf andere Menschen gibt es indes keine Diskussionen. Das ist krank! Einfach nur krank! Zumal es für die Vereine noch weitaus verheerender ist als der „normale“ Einsatz von Pyrotechnik, der zwar auch verboten ist, aber irgendwie bereits halbwegs geduldet zum Fußballalltag gehört.
Völlig zurecht appellierte der Stadionsprecher von Hansa Rostock mit Nachdruck an den gesunden Menschenverstand. Nach einer längeren Unterbrechung wurde die zweite Halbzeit angepfiffen, doch würde das Spiel sofort abgebrochen werden, sobald auch nur eine Leuchtkugel fliegen oder ein Böller detonieren würde. Die Ansage hatte Gehör gefunden. Zwar wurde im Block 9A nochmals eine kleine Fahne als Sichtschutz hochgezogen, doch wurde auf der Süd und im Block 9A keine weitere Pyro mehr gezündet. Erst nach dem Abpfiff wurden zur Feier des Tages auf der Süd einzelne Fackeln und blaue Rauchtöpfe gezündet. Zwar brannten in Halbzeit zwei im Gästeblock noch mehrmals einzelne Bengalos, doch geschah dies in einer Art und Weise wie es eigentlich immer sein sollte.
Zurück auf Anfang – Choreo auf der Südtribüne
Zurück auf Anfang. Begonnen hatte der Tag mit einer etwas längeren Zugfahrt über Wismar. Um 5 Uhr in der Frühe hieß es am Berliner Hauptbahnhof „dem Morgengrauen entgegen“, um 8:30 Uhr durfte in der Hansestadt Wismar umgestiegen und weiter entspannt nach Rostock gefahren werden. Allein die Züge aus Wismar und Warnemünde durften aufgrund von Bauarbeiten an den Oberleitungen den Rostocker Hauptbahnhof anfahren.
Nach einem Käffchen ging es weiter zur „Roten Erde“ und zum „Haltepunkt“, wo bereits gut was los war. Die Vorfreude auf das Ost-Duell war groß. Wie im Vorbericht erwähnt, lag der letzten Rostocker Heimsieg gegen die SG Dynamo Dresden bereits 15 Jahre zurück. Zudem war es das erste Mal seit neuneinhalb Jahren, dass es im Gästeblock eine volle Kapelle zu bestaunen gab. In der Corona-Zeit gab es einmal null Zuschauer und einmal ein deutlich eingeschränktes Kontingent.
„Alle in Schwarz“ lautete das Motto der Gästefans, und während vor dem Spiel ein paar Bierchen gezischt wurden, böllerte es bereits im gesamten Stadtviertel. Schmuck anzusehen war zu Beginn der Partie die Choreo auf der Südtribüne. „FÜR IMMER NUR HANSA“. Dazu blau-weiß-roter Rauch. Im Gästeblock war es indes noch weitgehend ruhig. Es dauerte wohl eine Weile, bis das lange Sachsenpower-Banner mit in den Block genommen werden durfte. Wie bereits erwähnt wurden erst nach zehn Minuten die Stoffe angebracht, nach zirka 20 Minuten nahm im Gästeblock langsam die Stimmung Fahrt auf.
Frühe Rostocker Führung
Auf Heimseite war indes die Stimmung von Beginn an prächtig. Hansa hatte nach dem 0:5-Debakel bei Waldhof Mannheim einiges gutzumachen und legte gut los. Richtig laut wurde es in der 11. Spielminute, als nach feiner Hereingabe von Alexander Rossipal der Ball auf dem Kopf von Nils Fröling landete, und dieser gekonnt zum 1:0 für Hansa ins Dresdner Gehäuse einköpfte. Was für ein Jubel – was ein Ausbruch der Gefühle! Wie meinte der Kommentator auf Magenta Sport? „Das hört man bis nach Lübeck oder Wismar!“ Mit viel Kampf und Einsatz wurde das 1:0 in die Pause gebracht.
Nach der langen Unterbrechung ging es schließlich weiter – und das Bild blieb ähnlich. Geprägt von Einsatz und Kampf. Dynamo Dresden spielte schwächer als nach dem deutlichen 5:1-Sieg gegen den TSV 1860 München erwartet, und Hansa Rostock legte einfach kämpferisch alles in die Waagschale. Ganz besonders ins Auge fiel mir Adrien Lebeau, der vorn auf der rechten Seite mächtig wuselte und um jeden Ball ackerte. Ebenso ins Auge fiel Jan Mejdr, der bereits in der 9. Minute für den verletzten Nico Neidhart in die Partie kam. Und Dresden? Nach knapp einer Stunde hatte die SGD die große Möglichkeit des Spiels. Der Ball kam im Strafraum schräg zu Jonas Sterner, doch verfehlte dieser knapp das Spielgerät. Da auch Tony Menzel den Ball nicht unterbringen konnte, blieb es bei der knappen Rostocker Führung. Kurz brenzlig wurde es noch einmal in der 75. Minute, doch am Ende konnte Hansa den lang ersehnten Heimsieg gegen Dynamo Dresden durchaus verdient in trockene Tücher bringen.
Lesung im Hafenkontor 57
Nach dem Spiel war vor der Lesung. Nachdem im Hotel kurz ein Kaltgetränk zu sich genommen wurde, ging es zum „Hafenkontor 57“ der „Weinhandlung Schollenberger“, wo vor einem sehr interessierten Publikum – es waren auch Gäste aus der Schweiz, der Ukraine und Belarus vor Ort – fünf Passagen aus dem neuen Buch „Kaperfahrten II – 65 Grad Kurs Ost-Nordost“ gelesen wurden. Der Abend wurde lang – und die versprochene Flasche Hansa-Rum wurde schließlich auch komplett geleert. Vielen Dank an dieser Stelle an alle Gäste!
Bei Interesse an dem 512-seitigen Buch, bitte einfach eine Mail schreiben an: marco.bertram@gmx.de
Infos zum Buch gibt es auf: www.marco-bertram.de
Fotos: Jens, Marco Bertram, Heiko Neubert
wenn man sich diese Ereignisse und die Wahlergebnisse ansieht muss man doch stark zweifeln, ob bei den Sachsenkriegern und den Möchtegern-Wikingern überhaupt so etwas wie Menschenverstand vorhanden ist…
Diesen wohlstandsgeschädigten Opfern die gerne Krieg spielen wünscht man fast einen echten Krieg, dann ist nämlich Schluss mit lustig!
Macht Choreos, Feuerwerk und Kämpfe auf dem Acker. Aber unterlasst bitte das Werfen und Schießen auf andere Menschen!
Es gab mal eine Vereinbarung zwischen den Fangruppierungen keine Raketen abzufeuern. Das ist leider schon lange vorbei. Pyro kann ja aber sowas von tödlich enden. Ist aber nicht nur bei Hansa und Dresden so. Erst vor ein paar Monaten schossen einige Vollidioten meines Vereins (Rot-Weiss Essen) gezielt Raketen in Saarbrücken in den Heimbereich. Gefeiert wurde der 10 Geburtstag einer Ultragruppierung (Vandalz). Warum man dafür Raketen braucht weiß ich nicht. Idioten. Dazu muss der Verein dann blechen und nicht die achso tollen Ultras, die lieber mit eigenem Merch Kasse machen. Brauch keiner. Kann wech.
Raketen auf Menschen zu ballern, geht gar nicht!