Sommer 1983: ORWO vor, noch ein Tor! Tschechische Bambule im Kinderferienlager

Es muss wirklich ruhig sein. So wie jetzt gerade im Garten mit Blick auf die nahen Höhenzüge des Riesengebirges. Die Zeitlosigkeit hier auf dem idyllischen Grundstück im polnischen Cieplice ermöglicht es, gedanklich dichter an die etwas weiter zurückliegende Vergangenheit zu kommen. Schließe ich die Augen, vernehme ich das Rauschen der Bäume. Ab und an ist in der Ferne ein Auto zu hören. Wie bei einem Video- bzw. Kassettenrekorder kann ich nun die Tasten drücken und im Geiste die gewünschten Sequenzen abspielen. Zurück zur Zeit kurz nach dem Mauerfall. Meine ersten Fußballspiele. Das Schülerländerspiel Deutschland gegen England (0:4) im gut gefüllten Berliner Olympiastadion, das Heimspiel von Hertha BSC gegen die Weltauswahl, bei dem ich das Militärmesser mit ins Stadion nehmen wollte, und meine ersten actionreichen Partien in NRW, bei denen Schals geruppt wurden, eine Würstchenbude brannte, an einer Tankstelle Jagd gemacht wurde, die Polente mit Schmackes die Knüppel schwingen ließ und vor dem Gästeblock von Hools reichlich Tritte in Hüfthöhe verteilt wurden. Aber halt, das hatten wir alles schon gefühlte hundertmal heruntergeleiert. Um die 90er im Geiste abzuspulen - dafür benötige ich nicht die Ruhe des polnischen Riesengebirges. Das eingelegte Band wird weiter zurückgespult. Kurz den Hebel gedrückt und das Band laufen lassen. Weiter, weiter, immer weiter! 1989, 1988, 1987, 1986, 1985, 1984, 1983 - Stop! Zurück zum Sommer vor 35 Jahren!

Großes Gewusel auf dem schier unendlich groß wirkenden Gelände des Betriebsferienlagers „Helmut Just“ in Eggersdorf. Kreischend schlugen sich ein paar Jungs durch die Knallerbsensträucher, welche die Begrenzung zwischen der großen Wiese und dem Teil des Ferienlagers bildete, auf dem hohe alte Eichen reichlich Schatten spendeten. Unter diesen befanden sich die hölzernen Bungalows, in denen in der Regel die Jungs untergebracht wurden. Die Mädchen durften als Gruppen in den festen Anbauten des Hauptgebäudes schlafen. Auf der besagten große Wiese hinter den Bäumen und Sträuchern fand an einem Tag im Sommer 1983 ein großes Sportfest statt. Die Kinder durften sich in den verschiedensten Disziplinen üben. Während ich auf Schulsportfesten in den Laufdisziplinen meist eine Silbermedaille (für Gold reichte es nie, da in unserer Klasse ein DDR-Lauf-Ass war) holte, reichte es kurioserweise im Betriebsferienlager nicht zu einer guten Platzierung. Da ich jedoch unbedingt eine Urkunde mit nach Hause nehmen wollte, legte ich beim Weitsprung alles in die Waagschale. Eine Weitsprunggrube in dem Sinne gab es nicht, gesprungen wurde einfach über ein gespanntes Band. Gelandet wurde im trockenen braunen Gras, das lange keinen Sommerregen mehr abbekommen hatte.

Es hatte tatsächlich gereicht. Silber in meiner Altersklasse! Groß war mein Kummer, als mir mitgeteilt wurde, dass beim Weitsprung nur der Sieger eine Medaille bekäme, da einfach nicht genügend vorhanden seien. Sie müssen noch für das stattfindende Fußballturnier reichen. Obwohl der Begriff Turnier nicht ganz korrekt ist. Vielmehr handelte es sich um ein Fußballspiel zwischen den besten Jungs des Betriebsferienlagers der Fotochemischen Werke Berlin-Köpenick (gehörte zu ORWO Wolfen) und einer eingeladenen Auswahl aus der ČSSR. Womit wir beim Punkt wären. Genau jenes Match vor 35 Jahren war quasi mein allererstes Fußballspiel. Nicht im Stadion. Nicht mal auf einem regelkonformen Sportplatz. Ganz einfach zwei (Handball-)Tore aufgestellt auf einer staubigen, nach Hochsommer riechenden Wiese. Richtig, es hätte auch ein x-beliebiges Spiel bei einem Schulsportfest sein können. Jedoch gab es einen Grund, weshalb ich diese Partie ganz einfach zu meinem allerersten echten gesehenen Fußballspiel erkläre. 

Fotos gibt es leider keine. Aber glaubt mir! Es ging ab! Richtig ab! Auf der Wiese - am Rande der Wiese. Ost-Berliner Jungs gegen hoch motivierte Bengels aus der Tschechoslowakei! 1982 durfte ich das erste Mal für zwei Wochen in das Betriebsferienlager in Eggersdorf nahe Strausberg. Im Jahr darauf gehörte ich mit zehn immer noch zu den Jüngeren. Den Ländervergleich auf der stoppeligen Wiese austragen durften die ganz Großen - sprich, die 13- bis 14-Jährigen - austragen. Mit denen hatte man in der Regel wenig zu tun. Sie machten in den Holzbaracken ihr eigenes Ding, rauchten heimlich in den Büschen und huschten nachts heimlich in die Schlafbereiche der Mädchen. Beim Bergfest waren sie die Kings. Im großen alten Tanzsaal gab es nach einer Woche abends eine Disco, bei der sämtliche Kinder und Jugendliche auf den Boden knieten und bei den Klängen von „We will rock you!“ auf den Parkettoden hauten. Auch die zehnjährigen Mädels warfen schon sehnsüchtige Blicke zu den älteren Jungs und himmelten diese an. Wir neun- und zehnjährigen Jungs schauten zwar an diesem Abend etwas blöd in die Wäsche, trieben aber ansonsten unsere eigenen Jungsstreiche und prüften beim Duschen was zu prüfen war. 

Was für eine irre geniale Zeit! Das gemeinsame Frühstück in der hölzernen Veranda des Hauptgebäudes an der Altlandsberger Chaussee. Der nächtliche Probealarm, bei dem die Sirene laut heulte und sämtliche Personen innerhalb einer Minute barfuß auf dem asphaltierten Vorplatz des Geländes zu stehen hatten. Das Neptunfest an der Badestelle des Bötzsees, bei dem Neptun und seine fiesen Gehilfen, Jungs und Mädchen einfingen, denen Sand in die Badehose stopften und ekelhafte Getränke mit einer Kelle einflößten. Oder die Nachtwanderungen! Richtig große Runden durch den Wald, über einen die knisternden Hochspannungsleitungen, die heute noch quer über den Bötzsee verlaufen. Spaziergänge zum Postbruch, Eis kaufen im kleinen Konsum, Spielen und Toben auf dem Gelände des Ferienlagers. Wer zwischendurch Durst hatte, füllte sich an einem aufgestellten Kübel an einem kleinen Hahn ein Getränk ab. Es war eine Art Mischung aus Pfefferminztee und Apfelsaft. Geruch und Geschmack blieben bis heute im Geiste erhalten. Genauso wie der vom Muckefuck zum Frühstück. Apropos Geruch. Markant war auch jener in den hölzernen Schrankfächern im Schlafbungalow. Schmutzige klamme Wäsche, dazu schon mal eine vergessene Banane oder ein matschiger Apfel. 

Ich habe keine Ahnung, wer damals eigentlich drauf geachtet hatte, dass der Schlüpper oder die Strümpfe sauber waren. Geduscht wurde jedenfalls nicht jeden Tag! Anfang der 80er gab es im dortigen Ferienlager noch kein warmes fließendes Wasser. Gewaschen wurde sich abends an einem langen steinernen Trog mit kaltem Wasser. Rein die Füße und mit Kernseife bearbeitet. Unvergessen, als an einem Abend zwischen uns Jüngeren ein vielleicht 13-Jähriger seinen Lümmel auspackte und ihn unter das fließende Wasser hielt. Das müsse man tun, das sei gut für die Durchblutung, erklärte er uns. Für was? Wir schauten uns gegenseitig mit großen Augen an. Ausprobieren konnten wir das nicht. Selbst auf Zehenspitzen kamen wir nicht ran. Wir lachten nur und ließen die Schlüpper eh lieber an. Es brauchte noch drei Jahre, bis auch wir mutiger wurden - ich erinnere mich noch genau, es war 1986 im großen ORWO-Beriebsferienlager in Breege/Juliusruh auf Rügen - und abends in den Betten reiheum die Hosen runter zogen und allesamt die Ständer präsentierten. Dann wieder Hose hoch, Licht aus und die besten Sexgeschichten - ach Quatsch! - Gruselgeschichten erzählt! Jeder kannte die Geschichte von den Kindermördern und die Sache mit dem über die Straße gespannten Draht, bei dem ein Motorradfahrer seinen Kopf verlor und trotzdem ein paar hundert Meter weiter fuhr.

So, nun bin ich aber völlig abgeschweift! Sollte es hier nicht um Fußball gehen? Sollte es! Also zurück zum besagten Nachmittag im Sommer 1983. Der Staub wirbelte auf. Die tschechischen Jugendlichen ließen quasi die Sau raus. Machten auf der Wiese richtig Bambule. Sie waren körperlich überlegen und spielten, als ginge es um den Coupe Jules Rimet. Oder zumindest um den FDGB-Pokal. Immer mehr Kinder scharrten sich um den grob abgesteckten Platz. Die zuschauende Meute kam langsam richtig in Wallung. „ORWO vor, noch ein Tor!!!“, hallte es immer wieder über das Ferienlagergelände. Die Jungs und Mädchen trampelten auf den sandigen Boden und klatschten in die Hände. Das machte richtig Bock. Ich wurde angesteckt. Vielleicht war dies der innere Weckruf, wenngleich es noch sieben Jahre dauern sollte, bis mein Fußballleben so richtig Fahrt aufnehmen würde. Ich fühlte mich von der Spielweise der Gäste aus dem Nachbarland provoziert. Es wurde geholzt, geschubst und an den Nickis gezogen. Schiedsrichter war der Lagerleiter, und dieser achtete sehr genau darauf, bloß nicht die jugendlichen Gäste aus dem sozialistischen Bruderland zu verprellen. Es wurde quasi alles laufen gelassen. An einen Platzverweis oder gar einen Elfmeter kann ich mich nicht erinnern. 

Fakt ist jedoch, dass die Tschechoslowaken deutlich jene Partie gewinnen konnten. Abpfiff. Die kreischenden Stimmen der Ferienlagerkinder verstummten wieder. Je nach Gruppe wurden wieder andere Aktivitäten aufgenommen. Die Älteren werden ganz sicher mit den Tschechen heimlich eine Freundschaftszigarette gequarzt haben. Eine Karo oder Kabinett hinter dem Bungalow. Und ja, ich gehe mal ganz stark davon aus, dass die Gäste auch ein Fläschchen dabei hatten. Davon bekamen wir Jüngeren jedoch nichts mit. Wir erzählten uns wieder in den Doppelstockbetten, nachdem an den langen Trögen mit kaltem Wasser die Füße gewaschen und Zähne geputzt wurden, die Gruselgeschichten. Habt ihr schon gehört? Am Bötzsee soll ein irrer Mann herumlaufen, der auf der Suche nach Kinderfleisch ist. Er soll schon welche bei einer Nachtwanderung weggeschnappt haben… 

Fotos: Marco Bertram, Gruppenfoto 1982/83

Anmerkung: Ein weiteres Buch über 1980er und 1990er Jahre ist derzeit in Arbeit! :-)

Weitere Berichte zum Thema Kinderferienlager in der DDR:

https://www.turus.net/gesellschaft/4116-rueckblick-ferienlager-und-klassenfahrten-in-der-ddr.html

https://www.turus.net/gesellschaft/6756-kindheitserinnerungen-an-die-betriebsferienlager-der-ddr.html

Artikel wurde veröffentlicht am
18 Juli 2018
Zuschauerzahl:
300

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Benutzer-Kommentare

2 Kommentare
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Kommentare
Die Spieler von damals müssten jetzt knapp 50 sein. Ein Wiederholungsspiel wäre also durchaus machbar! Auf dem Sportplatz von Eggersdorf!
S
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G
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