Come on England! Sommer 1992 - die entfachte Liebe, danach 25 Jahre Herzschmerz

Die Fahrt von Dortmund nach Irland im Sommer 1992 war eine echte Tortur, doch als wir nach der Überfahrt von Dünkirchen nach Dover einmal quer von Ost nach West durch England und Wales fuhren, haftete mein Blick stundenlang an den vorbeiziehenden Landschaften und Ortschaften. Es war das erste Mal, dass es mich auf die Britischen Inseln verschlagen hatte. Nachdem die Mauer fiel - ich war zu jenem Zeitpunkt 16 Jahre alt - hatte ich Großbritannien und Irland gar nicht so sehr auf dem Schirm. Ich wollte über den großen Teich nach Nord- und Südamerika und eines Tages die sibirischen Weiten erobern. Was ich dann ja später auch tat. Als jedoch im Sommer 1992 das Angebot kam (ich wohnte gerade wegen der Ausbildung im Rheinland), mit der Jungen Gemeinde aus Berlin-Mahlsdorf und der Partnergemeinde aus Frömern (NRW) zwei Wochen nach Irland zu fahren, fackelte ich nicht lange. Aber meine Güte, was war das für eine Warterei an den Fährhäfen und eine Tuckelei übers Land - was für ein Ritt bis zur Ferienanlage am Lough Ree im Herzen Irlands. Als wir auf der Hinfahrt nachts an Bristol und anschließend an Newport und Cardiff vorbeifuhren, hatte es innerlich Klick gemacht. Auf der Fähre von Fishguard nach Rosslare erfasste mich ganz, ganz schwere Melancholie. Es war, als würde ich nach langer Zeit wieder an einen Ort zurückkehren, und es war schwer, Gedanken und Gefühle einzuordnen. Es war keine „Wiederkehr“ mit wehenden Fahnen. Ich ahnte, dass eine Beziehung zu den Britischen Inseln auch viel Dramatik und Schwere nach sich zieht.

Die zwei Wochen in Irland waren allerdings ein echter Volltreffer. Wir alle fühlten uns pudelwohl und enterten abends die Pubs in den nahegelegenen Ortschaften. Sláinte! Und noch ein Pint bitte! Wie überall üblich liefen auf den Fernsehern diverse Sportveranstaltungen. Ich war geflasht, ich war baff, ich war verliebt. Fußball satt aus England. Rückblicke, Testspiele, regionale Cups während der Sommerferien. Und als es dann in die etwas größere Stadt Athlone ging, hüpfte das Sportlerherz im Dreieck. Was für ein geiler Scheiß! Ein Sportgeschäft XY in einer Provinzstadt - und dann solch ein Angebot! Die Finger glitten durch die Ständer mit den Trikots und Shirts. Da konntest du wirklich nen Ständer kriegen! Es war das Paradies auf Erden für einen Fußballverrückten. Man male sich bitte mal im Geiste aus, wie damals Anfang der 1990er die Sportabteilungen in den bieder daherkommenden deutschen Kaufhäusern aussahen! Das Angebot konntest du in die Tonne kloppen! Aber dort in Irland. Ein Traum! Ich konnte mir vorstellen, wie die großen Stores in Liverpool oder Birmingham aussehen mögen. Das Taschengeld war knapp, doch ein Shirt war ein Muss. Immer wieder überlegte ich, welches ich denn nun kaufen möge. Optisch sahen quasi alle ansprechend aus. 

Irland

1991/92 hatten Karsten und ich hin und wieder gemeinsam im Leverkusener Wohnheim das internationale Fußballgeschehen besprochen. Der packende Meisterschaftskampf zwischen Leeds United und Manchester United war uns nicht entgangen. Am Ende hatten die Jungs aus Yorkshire die Nase vorn. Ich hätte den Red Devils den ersten englischen Meistertitel seit 1967 gegönnt. Einfach so. Aus dem Bauch heraus. Keine Ahnung warum. Vielleicht hatte ich damals bereits etwas von der Tragödie in München-Riem im Jahr 1958 gehört. Vielleicht klang der Verein einfach auch nur toll. Dazu der charismatische Trainer Alex Ferguson. Egal, ich zog damals im Sommer 1992 ein Shirt von Manchester United aus dem Ständer und betrachtete es minutenlang. Dieses sollte es sein! Kein Trikot - für dieses reichte einfach die Kohle nicht -, sondern ein T-Shirt, das jedoch aus sehr hochwertigem, festem Stoff angefertigt wurde. Oben war es bläulich gehalten, unten rötlich. Es war vom Design her seiner Zeit meilenweit voraus. Also was vergleichbare Fußballshirts in Deutschland betraf. Hingelegt die irischen Pfund und dann abends an der Wiese am Lough Ree gleich mal angezogen das gute Stück.

„Tsss“, lästerte ein ehemaliger Schüler aus der Parallelklasse, „Manchester United kann ja jeder tragen. Typisch Erfolgsfan!“ Ein Satz, der sich eingebrannt hatte. Sagte wer? Einer, der sich ein Liverpool-Trikot gekauft hatte?! Wie oft holte der Liverpool FC in den 1980ern den Titel? Von 1979 bis 1990 mal eben achtmal! Und trotzdem, ich grübelte abends im Bett. Man United - wirklich was für 0815-Erfolgsfans? Ich wischte die Bedenken weg. Für mich stand Manchester stellvertretend für die gesamte dortige Region. Davon ganz abgesehen fand ich den Roten Teufel im Vereinslogo richtig schnieke. Ich war mir sicher, dass es in naher Zukunft häufig auf die Britischen Inseln, vor allem nach England, gehen würde.

Und so war es auch! Zurück im Rheinland kam ich aus dem Schwärmen nicht mehr raus, und es bedurfte nicht viel Überzeugungsarbeit bei Karsten. Ich zeigte die angefertigten Fotos und schilderte das Geschehen in den Pubs. Bereits ein halbes Jahr später düsten wir das erste Mal gemeinsam rüber nach London. Von Düsseldorf aus mit Lufthansa nach Heathrow. Im Vorfeld ganz klassisch in einem Reisebüro in Leverkusen-Mitte gebucht. Das Hotelzimmer suchten wir dann vor Ort. An dem verlängerten Wochenende ging es kreuz und quer durch die Stadt. Zahlreiche Stadien wurden aufgesucht, und sogar am 1991 verlassenen Plough Lane schauten wir vorbei und fertigten Erinnerungsfotos an. Eigentlich sollte es die Partie Queens Park Rangers vs. Manchester United sein, doch als wir erfuhren, dass die Begegnung kurzfristig auf Montagabend verlegt wurde, fielen wir vom Glauben ab. Bitte was? Wegen einer Fernsehübertragung? Wie scheiße ist das denn? Bei QPR bot man uns als Trost sogar eine kostenlose Stadionführung an und schenkte uns als Andenken zwei hochwertige Anstecknadeln. 

Unser erstes Spiel auf den Britischen Inseln wurde schließlich die Partie Tottenham Hotspur vs. Sheffield Wednesday. Das Geschehen auf dem Rasen und die Stimmung bei den Heimfans waren nicht der Kracher, doch das Ambiente im Stadion White Hart Lane war großartig. South Stand und Members Stand waren noch nicht umgebaut, der Charme der ganz alten Fußballzeiten wurde noch verströmt. Sensationell, einfach sensationell! Karsten und ich waren nun richtig heiß und buchten mal gleich den nächsten Flug nach England. Ostern 1993 ging es mit dem Flieger für eine Woche nach Manchester. Auf dem Schwarzmarkt kauften wir uns Karten für das Ligaspiel Manchester United vs. Sheffield Wednesday. Die United-Fans waren heiß, in jener Saison sollte es endlich mit dem Meistertitel klappen. Gemeinsam mit Norwich City und den Blackburn Rovers wurde sich ein packender Dreikampf geliefert. Und was soll ich sagen? Gegen Wednesday drehte Man United das Spiel in der Schlussphase. Der 2:1-Sieg wurde von einigen englischen Journalisten zum Spiel des Jahrzehnts ernannt. Warum? Weil es quasi das Schlüsselspiel war. Bei einer Niederlage wäre der Zug abgefahren gewesen. So aber machte Man United richtig Alarm und holte sich später wirklich den Meistertitel. Die große Ära unter Ferguson wurde eingeläutet.

Gänsehaut, feuchte Augen - die Stimmung auf den Rängen des Old Trafford war bei jenem Spiel im April 1993 unbeschreiblich. Englischer Fußball - das war es! Und auch beim Stadtrivalen Manchester City hatten wir vorbeigeschaut. Zu Gast war der Liverpool FC, vom Aussehen des Stadions Main Road zeigten wir uns überrascht. Was für ein Vergleich zu den heutigen Zeiten! Ein Teil des Stadions war modern und hatte diese markante wellenförmige Dach, der andere Teil war anno dazumal. Die Außenseite der alten Gegengerade spottete jeder Beschreibung. Damals staunten wir nur, mit heutigen Augen würde man sich als Fußballnostalgiker unsterblich verlieben. 

In den 1990ern folgten noch weitere Touren auf die Britische Inseln. Silvester 1995/96 in London, inklusive Fußballspiel beim Chelsea FC, im Sommer 1997 folgte eine vierwöchige Wanderung durch den Südwesten Irlands, auf der in den Pubs vom Windhundrennen über Gaelic Football und Rugby bis hin zum Fußball so ziemlich alles auf den aufgehängten Röhrenfernsehern verfolgt wurde. In der Zwischenzeit reiste ich auch wochenlang durch Nordamerika, Brasilien und Ägypten, doch die feste Zuneigung zu Großbritannien und Irland blieb unerschütterlich. In Sachen Nationalmannschaft stand seit Mitte der 1990er die aus England ganz besonders hoch im Kurs. Als ich im Februar 1995 allein eine Woche mit der Bahn quer durch Großbritannien bis hoch nach Inverness fuhr und zwischendurch auch den FA-Cup-Kracher Manchester United vs. Leeds United sah („You´re a fucking Yorkshire, ah yeah yeah…“), deckte ich mich mit weiteren Shirts und Trikots ein. Unter anderen auch mit dem schneeweißen Trikot der englischen Nationalmannschaft. Die Qualität? Irre! Es sieht noch heute aus wie neu! Und wie oft hatte ich es angehabt beim Bolzen auf Asche- und Kunstrasenplätzen?!

Jetzt kommen wir zum Punkt! England bei Europa- und Weltmeisterschaften! Mitunter ein ganz bitteres Kapitel. Mit einem Lächeln denke ich an die WM 1990, als ich in dem Häuschen auf dem Grundstück meiner Eltern in Waldesruh vor den Toren Ost-Berlins den deutschen Sieg über England frenetisch gefeiert hatte. Ich hatte jenes Spiel allein vor dem eigenen Schwarz-Weiß-Fernseher geschaut. Was hatte ich mitgefiebert, was hatte ich gebrüllt vor Freude! Im Leben nicht hätte ich gedacht, dass ich später mit einem übergestreiften englischen Trikot für die Three Lions hoffen und beten würde. 

Bei der WM 1994 war England gar nicht mit dabei. Zwei Jahre später war England der Gastgeber für die EM 1996. Gefühlte 1966-mal hatte ich in meiner damaligen Wohnung in der Bornholmer Straße die CD „Football is coming home“ eingelegt. Replay bitte. Dauerschleife. Bis zum geht-nicht-mehr. Während die EM 1996 lief, reiste ich mit einer Frau aus Schwerin sieben Wochen lang durch Brasilien von Rio de Janeiro bis hoch nach Belém und Manaus. Ich hatte nicht viele Spiele verfolgt, doch zwei Spiele sah ich live im TV. 26. Juni 1996. Halbfinale England gegen Deutschland. Der verschossene Elfmeter von Gareth Southgate traf mitten rein ins Herz. Die anschließende Jubelpose von Andreas Möller brachte mein Blut in Wallung. Ich verspürte abgrundtiefen Hass. Dieser Möller! Boah, ich konnte nicht mehr. Ich war kurz vor dem Erbrechen. Und trotzdem, über den 2:0-Finalsieg der Deutschen gegen Tschechien hatte ich mich gefreut. Ich saß in Goiânia bei einer brasilianischen Gastfamilie im Wohnzimmer und die Tränen kullerten die Wange runter, als Oliver Bierhoff in der 95. Minute das Golden Goal erzielte. Gemischte Gefühle. In der Ferne fühlt sich die Verbundenheit zur Heimat noch einmal ganz anders an. Aber sei es drum, wie sehr hätte ich auch dem Gastgeber den Titel gegönnt!

Zwei Jahre später, als in Frankreich die WM 1998 ausgetragen wurde, steckten drei Freunde und ich gerade mitten im Bootsbau. Es sollte im Sommer 1999 einmal um die halbe Welt nach Sydney gehen, und demzufolge hatten wir alle Hände voll zu tun und den Kopf komplett zu. Das eine oder andere Spiel wurde trotzdem geschaut. Mal vor der alten Scheune im Garten vor dem aufgestellten Fernseher, mal mit einem Auge während des Lack-Anrührens, mal aber auch in der großen bunten Stadt. Die Achtelfinalpartie Argentinien vs. England wollte ich mit Jan gemeinsam schauen und überredete ihn dazu, mich in einen englischen Pub in der Samariterstraße zu begleiten. Was für ein Drama! Batistuta brachte Argentinien nach fünf Minuten per Strafstoß in Führung. Shearer und Owen drehten jedoch postwendend das Spiel. Come on England! Nachdem Zanetti in der 45. Minute den Ausgleich erzielen konnte, fielen keine weiteren Tore mehr. Das Elfmeterschießen musste her. Und dann Seaman hielt gegen den zweiten Schützen Crespo! Im Gegenzug verkackte gleich Paul Ince. Es war zum Mäusemelken. Als dann auch noch Batty nicht die Kugel unterbringen konnte, sackte ich auf dem Stuhl zusammen. What a fuck! Ich war restlos bedient. Jan lächelte milde. Als Romanistik-Student drückte er den Lateinamerikanern die Daumen. 

Bei der EM 2000 schied England gemeinsam mit Deutschland in der Vorrunde aus, bei der WM 2002 war für die Engländer im Viertelfinale Ritze. Mit meiner damaligen kroatischen Partnerin und einem Freund schauten wir vormittags im Hotelzimmer in Prag die Partie gegen Brasilien. Zu einem Elfmeterschießen kam es nicht, die Brasilianer gewannen während der regulären Spielzeit nach Rückstand - Owen hatte England in der 23. Minute in Front gebracht - mit 2:1. Die EM 2004 blieb indes kaum in Erinnerung. Was hängen blieb? Die Spielweise der Griechen, die letzten Endes sogar zum großen Erfolg führte. Dass Portugal im Viertelfinale die Engländer im Elfmeterschießen bezwang, hatte ich wohl verdrängt. Beim Nachlesen fällt es mir jedoch wieder ein. Als erster Schütze haute David Beckham den Ball mal gleich über die Latte. Nachdem am Ende auch Vassell den Ball nicht unterbringen konnte, war Schicht im Schacht.

Und dann! Zwei Jahre später in Deutschland bei der WM wieder ein Desaster! Wieder im Viertelfinale gegen Portugal! Das war echt nicht mehr schön! Lampard, Gerrard und Carragher scheiterten an Ricardo. Zwei Portugiesen trafen nur den Pfosten, doch den entscheidenden Elfer brachte Cristiano Ronaldo unter. Als Bemerkung ist bei wikipedia bei jener Partie zu lesen: „England stellte den WM-Negativrekord von Italien mit drei verlorenen bei drei bestrittenen Elfmeterschießen ein.“ Ein Grauen! Zumal mein privates Umfeld immer fein lästerte. Immer wieder hatte ich das England-Trikot offen getragen, mein Faible für die Britischen Inseln war wohl jedem Kumpel bekannt. 

Bei der EM 2008 war England nicht dabei, bei der WM 2010 traf England bereits im Achtelfinale auf Deutschland. Mit einem Kumpel saß ich in einem Café in der Bergmannstraße, was wir zu sehen bekamen, erfreute mich nicht. Der mögliche Ausgleichstreffer zum 2:2 von Lampard in der 38. Minute wurde nicht anerkannt. Am Ende gewann Deutschland mit 4:1. Das tat schon weh. Völlig vergessen (oder verdrängt) hatte ich, dass 2012 in Kiew gegen Italien das Elfmeterschießen im Viertelfinale mit 2:4 vergeigt wurde. Young traf die Latte, Cole scheiterte an Buffon. So richtig bewegt hatte es mich wohl nicht mehr. Der Grund: Die Distanz zu den großen aufpolierten Fußballveranstaltungen wurde immer größer. Seit 2009 verfolge ich das Fußballgeschehen quasi täglich und beschäftige mich beruflich mit der Thematik. 2012 - da blieb mir vor allem das DFL-Sicherheitspapier hängen. Mein Fokus richtete sich fortan vor allem auf den regionalen Fußball. 

Lieben lernte ich mehr und mehr den Amateurfußball. Und ja, waren in den 1990ern vor allem die Britischen Inseln die große Herzensangelegenheit, so fand ich ab dem Jahr 2000 nach dem Abbruch des Segelprojekts bei schwerem Sturm auf der Nordsee zu Osteuropa immer mehr den emotionalen Zugang. Private und berufliche Reisen nach Russland, Polen, Ungarn und auf den Balkan. Parallel dazu gab es mit einem Mal familiäre Verknüpfungen. Mehr und mehr wurde nun geschaut, was Polen, Serbien und Kroatien in den jeweiligen Qualifikationen anstellen. Im Herbst 2006 fuhr ich mit dem Fahrrad quer durch den Balkan, von 2000 bis 2006 hatte ich eine kroatische Partnerin, seit 2007/08 ist das polnische Jelenia Góra / Cieplice mein zweites Zuhause. Polen und der Balkan liegen auf meiner Wellenlänge, und da ist natürlich klar, dass ich schaue, was fußballtechnisch in diesen Regionen so passiert. 

Aber eins ist trotzdem sicher: Auch die alte Liebe rostet nicht. Und diese wurde zuletzt arg auf die Belastungsprobe gestellt. Was hatten Karsten und ich abgefeiert, als Anfang des Jahrtausends die berühmte BBC-Reportage über Hooligans ausgestrahlt wurde! Wir hatten diese Doku auf VHS-Kassette überspielt, immer wieder schauten wir uns die besten Szenen an. England in Belgien und Holland. England in der Qualifikation in München (5:1 für die Three Lions). Die Jungs des Millwall FC. Wenig später war es die Doku „Putains de Hooligans“. Auch wenn thematisch einiges dünn kommentiert wurde, die Passagen über Stoke City und Burnley saugten wir förmlich auf. Und immer wieder war / ist diese Mischung aus Bock auf Gewalt, Feierwütigkeit, Euphorie, vergossenem Herzblut, Ausweglosigkeit, Trostlosigkeit, tiefer Melancholie und Tragik zu spüren.

England

Und die englische Nationalmannschaft? Bei der WM 2014 in Brasilien schied England in der Vorrunde sang- und klanglos aus. Da war sie wieder, die Tragik! Allein gegen Costa Rica gab es einen Punkt (0:0). Bei der EM 2016 in Frankreich trafen die Engländer im Achtelfinale auf Island - und verloren mit 1:2! Rooney hatte die Three Lions in der vierten Minute vom Punkt aus in Führung gebracht, nur zwei Minuten später glich Sigurðsson aus. In der 18. Minute schoss Sigþórsson den Siegtreffer für Island. Was für eine Blamage für England! 

Das englische 1995er Trikot rausgeholt wurde während der laufenden Weltmeisterschaft. Im Vorfeld hatte ich eigentlich null Bock auf dieses Turnier. Vom wöchentlichen Fußball im Ligaalltag war ich ausgebrannt. All die Emotionen und Erlebnisse. Die Fahrten nach Rostock, nach Stralsund, Leipzig und NRW. All die verfassten Berichte. Sommerpause! Der Kopf war leer. Dazu das Hickhack um die „Mannschaft“ bereits im Vorfeld. WM? Werde ich kaum schauen! Ich habe echt keinen Bock mehr auf Champions League, Weltmeisterschaften und und den bis an die Schmerzgrenze hoch gepimpten Fußball! BFC, Hansa, Falkensee-Finkenkrug, Waldsieversdorf, Tasmania Berlin - das reicht mir in der Regel. Jedoch fing ich nach den ersten gesehenen Partien dann doch wieder Feuer. Das 3:0 der Kroaten gegen Argentinien! Der erfrischende Auftritt der jungen englischen Mannschaft! Das schaute gut aus gegen Tunesien. Und als dann Harry Kane in der Nachspielzeit den 2:1-Siegtreffer erzielte, ballte ich dann doch die Faust wie zu alten Zeiten. Das innere Feuer loderte plötzlich wieder. 

Das 6:1 gegen Panama schaute ich im Garten eines Hansa-Kumpels. Mit dabei das England-Trikot. Es hing neben dem Fernseher. „Passt du da überhaupt noch rein?“, frotzelte Karsten per Nachricht. Klar doch! Das Beweisfoto wurde sogleich verschickt. 90 Minuten lang übergestreift wurde es schließlich im Achtelfinale gegen Kolumbien. Diese Partie schaute ich daheim mit dem größeren Sohn auf dem Schlafzimmerbett. Was für ein ruppiger Auftritt der Kolumbianer während der ersten 80 Minuten. Das Blut geriet in Wallung. Mit Karsten wurden im Minutentakt Nachrichten ausgetauscht. Entsetzen, als Mina in der Nachspielzeit das 1:1 für Kolumbien klar machte. Plötzlich spielte Kolumbien frei auf. Das Elfmeterschießen näherte sich. Ich hatte mich zu Beginn der Partie weit aus dem Fenster gelehnt. An etliche Freunde hatte ich einen Selfie verschickt. Ich mit Trikot und Zunge raus. In der Hand ein Foto von 1995 - damals in gleicher Pose. Nur etwas jünger und frischer halt.

Und dann das Elfmeterschießen! Würde England es wieder vergeigen, würde es Hohn und Spott kübeln. Kane und Rashford machten es gut, doch als Ospina den Schuss von Henderson abwehren konnte, sah ich sämtliche Felle davonschwimmen. Ich musste den Ton ausmachen, der Kommentator war nicht mehr zu ertragen. Uribe traf das Aluminium. Trippier verwandelte. Pickford hielt gegen Bacca. Und jetzt! Ja jetzt! Bitte, scheiße nochmal, mach es klar! Ich stand auf, hüpfte vor dem Laptop, zerrte aufgeregt am Trikot. Ich hielt die Hand vor das Gesicht, schielte durch die Finger. Eric Dier machte es! Der Schuss war drin. Der Keeper war mit den Fingern noch dran, doch die Kugel zappelte in den Maschen! England steht im Viertelfinale! Das Entsetzen vor 20 Jahren gegen Argentinien. Jan und ich im englischen Pub in Friedrichshain. 20 Jahre her?! Wahnsinn! Die Zeit rennt. Umso schöner, endlich mal ein gewonnenes Elfmeterschießen der Engländer bei einer WM gesehen zu haben. Heilende Kräuter auf alte Wunden. Meine Güte, ich hätte nicht gedacht, dass das noch so gut tun kann! Come on England! 

Fotos: Marco Bertram, K. Hoeft, Claude Rapp

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Artikel wurde veröffentlicht am
06 Juli 2018

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Der große Wurf winkt!
K
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G
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Coole Story und jut geschrieben ;-)
P
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Schweden ist zu schlagen und dann gegen die Russen!
R
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G
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