Der Geist von 1997: Energie Cottbus gelingt vor beeindruckender Kulisse fast die Pokal-Revanche

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„Cottbus heißt die öde Stätte mit der roten Haftanstalt…“ Der Mund wurde trocken. Die Augen hafteten wie gebannt an den Zeilen des Gedichtes, das seitlich am Eingang angebracht ist. „… Das ist das Zuchthaus Cottbus, Symbol des Sozialismus - in Aktion, in Aktion!“ Der Zufall hatte uns in die Bautzener Straße geführt. Vor dem DFB-Pokalspiel gegen den VfB Stuttgart drehten wir zu zweit noch eine große Runde durch die Stadt, um dann in Stadionnähe noch am „Eckchen“ einzukehren. In der Bautzener Straße dann der große Aha-Effekt. Hier also war das berühmt berüchtigte Zuchthaus, welches zu NS- und DDR-Zeiten für Angst und Schrecken gesorgt hatte. Manch einer, der ausreisewillig war, wurde hier vor 1990 eingekerkert. Und sicherlich war auch der eine oder andere aufmüpfige Fußballfan dabei, der einst dort im Barkas durch die Stacheldraht-Schleuse eingefahren wurde. Gruselig! Die Gebäude und Mauern sind noch fast im Originalzustand, und es gibt nur wenige deutsche Gedenkstätten, die einem das Schrecken so nahe bringen können. Vielleicht war es gut, dort quasi ins kalte Wasser geworfen zu werden. Einfach durch Zufall reingestolpert, die möglichen Szenen des kommenden Pokalfights bereits vor dem geistigen Auge. Der Fußball rückte für einige Minuten in ganz, ganz weite Ferne. Das Skurrile in jenem Moment: In der Ferne hörte man die Energie-Fans, die einen Marsch organisiert hatten und nun in Richtung Stadion der Freundschaft zogen. 

Knast

Warum dies so gut zu einem Fußballbericht passt? Beim Blick auf den an den Mauern und Toren gespannten Nato-Stacheldraht (das Gefängnis war unglaublicherweise noch bis 2002 in Betrieb) musste ich sofort an den kürzlich eingesetzten Stacheldraht bei der Drittligapartie Rot-Weiß Erfurt vs. F.C. Hansa Rostock denken. Wie fahrlässig kann solch ein menschenverachtendes Element in einem Fußballstadion an einem Trennzaun angebracht werden?! Allein der Symbolwert von Stacheldraht! Ich könnte mich noch tagelang drüber aufregen! An Aufregen war indes am gestrigen Nachmittag vor Ort auf dem Gelände des einstigen Zuchthauses nicht zu denken. Der Rundgang ging an die Nieren. Wenn im Gegenzug mir manche Kommentare in sozialen Netzwerken einfallen, in denen diverse User forderten, dass Ultras am besten gleich 15 Jahre in ein Arbeitslager untergebracht werden müssen - dann wurde schlagartig wieder einmal klar, wie unfassbar wertvoll es ist, in einer freien Gesellschaft zu leben. Umso erschreckender, wie zahlreiche Medien mit harten Worten dazu beitragen, die aktiven Fußballfans noch weiter zu kriminalisieren und pauschal zu verurteilen. Hatten wir alles schon mal, brauchen wir nie wieder!

CB

Und so kam es, dass aus einem lockeren Spaziergang mit anschließendem Bierchen ein Moment des Nachdenkens wurde. Um gedanklich wieder im Hier und Jetzt anzukommen, bot sich die Einkehr im „Eckchen“ wahrlich an. Ein bezahlbares Bier an den Bahngleisen. VfB- und Energie-Fans liefen vorbei. Aufgrund der freundschaftlichen Beziehung zwischen beiden Fanlagern blieb es an diesem Abend komplett entspannt. Das Pokalfinale 1997 ist - vor allem auf Cottbuser Seite - bis heute unvergessen. Was war das für eine spektakuläre Saison der Lausitzer. Die Relegation gegen Hannover 96, an deren Ende der Aufstieg in die 2. Bundesliga stand. Und die Pokalschlachten im Stadion der Freundschaft! Den Gegnern wurde das Fürchten gelernt. Der Karlsruher SC wurde bezwungen, der Einzug ins Pokalfinale war gepackt. Rund 20.000 Energie-Fans waren vor Ort im Berliner Olympiastadion. Ganz klar, waren die Stuttgarter damals die klar bessere Mannschaft. Jedoch hatte das Team von Trainer Eduard „Ede“ Geyer die Riesenmöglichkeit zum Ausgleich. Nachdem Giovanne Elber die Schwaben frühzeitig in Führung gebracht hatte, kam es nach dem Seitenwechsel zur Riesenmöglichkeit zum 1:1. Detlef Irrgang - oha, wie haben sich diese Namen im Kopf eingebrannt - stand völlig frei. Rein das Ding! Der Torjubel klebte den 20.000 Energie-Fans bereits auf den Lippen, doch Irrgang war wohl zu überrascht und haute den all in die Arme des damaligen VfB-Keepers Franz Wohlfahrt. Später machte Elber eine zweite Bude, und Stuttgart gewann am Ende verdient mit 2:0.

CB

Was ist nicht alles passiert in der Lausitz seit 1997?! Hübsch bergauf und dann zuletzt wieder brachial bergab. Einmal erste Liga und zurück. Das Ganze muss an dieser Stelle nicht noch einmal ausführlich geschildert werden. Die Regionalliga Nordost ist der Stand der Dinge - und mit Bravour startete Energie in die laufende Spielzeit. Mal eben mit 5:0 wurde unter anderen der Aufsteiger BSG Chemie Leipzig weggeputzt. Und auch die anderen beiden Partien in Neustrelitz und gegen Bautzen wurden souverän gemeistert. Es dürfte schwer werden für die anderen Aufstiegskandidaten - genannt werden dürften der BFC Dynamo und Wacker Nordhausen - in dieser Saison Schritt zu halten mit den Lausitzern. Und was den DFB-Pokal betrifft: Es ist klar erkennbar, das punktuell Regionalligisten mit Bundesligisten durchaus mithalten können. Wenn 100 Prozent in die Waagschale geworfen werden, kann es durchaus klappen mit der Überraschung. Wie es gehen könnte, zeigte Energie Cottbus (damals aber noch als Drittligist) vor drei Jahren, als der Hamburger SV fast in die Knie gezwungen wurde. Am Ende musste das Elfmeterschießen her, in diesem behielt der HSV die Oberhand.

VfB

Nun also der VfB Stuttgart. Nach 20 Jahren die Neuauflage des DFB-Finales. Ein hübsches Los. Wirklich maßgeschneidert. Keine Brisanz auf den Rängen, keine Störgeräusche - es konnte sich voll und ganz aufs Sportliche konzentriert werden. Zudem brachte auch der VfB eine ordentliche Masse Fans mit, der Gästeblock war gut gefüllt, und die Stimmung war auch nicht die schlechteste. Auf Heimseite wurde angeknüpft an die gute Atmosphäre beim Heimspiel gegen Chemie Leipzig. Die Anhängerschaft trat wieder als Einheit auf. Beim gestrigen Pokalfight wurde sogar wie zu alten Zeiten das gesamte Publikum mitgezogen. Ja, es wurde ein Ohren- und Augenschmaus. Beim Einlaufen gab es auf den Rängen eine Fahnen-Zettel-Choreo auf sämtlichen Rängen. In großen Lettern war auf Hintertortribüne und Gegengerade zu lesen: „Fußballclub aus Cottbus - unser ganzes Leben lang.“ Hinter dem Tor stand zudem „Der Geist von 1997“ geschrieben. Am Zaun befestigt waren keine Gruppenbanner, nur einige wenige Zaunfahnen wie „Chosebuz“ wurden angebracht. 

VfB

Und es passte aus Heimsicht perfekt. Bereits nach fünf Minuten brachte Fabio Viteritti den FC Energie in Führung. Unfreiwillig wurde ihm der Ball vom Gegner vorlegt, freistehend fand er die Lücke zwischen VfB-Keeper und Pfosten. Was für ein Orkan auf den Rängen! Cottbus war außer Rand und Band. Und der Gastgeber blieb - angetrieben vom Publikum - am Drücker. Klassenunterschied? Nicht wirklich sichtbar! „Nur die BSG…“, erklang es von den Rängen. Was 1997 nicht gelang, wurde an diesem Abend schon mal vollbracht. Ein Tor gegen Stuttgart im DFB-Pokal! Mehr noch! Das Ergebnis von damals wurde nach knapp einer halben Stunde sogar egalisiert! Den fälligen Freistoß brachte Maximilian Zimmer im Gehäuse unter. Vorbei an der schwäbischen Mauer schlug der Ball an der Unterkante der Querlatte ein. 2:0 für Cottbus. Kollektives freudiges Durchdrehen. Vor lauter Emotionen auf dem Rasen und den Rängen wurden einem glatt die Augen feucht. Dieses Spiel musste einen einfach mitnehmen. Und wenn ein klarer Außenseiter einen Platzhirsch in die Schranken weisen kann, ist es immer eine feine Sache!

CB

Im Gästeblock zeigte man sich indes wenig beeindruckt. „1893, he, he!“, ertönte es. Auf dem Rasen kam der VfB besser ins Spiel. Die Uhr zeigte 19:07, als eine Cottbuser Rettungstat den Stuttgarter Anschlusstreffer verhinderte. Mit der Zwei-Tore-Führung ging es schließlich zu den Halbzeitansprachen. Mit „Thunderstruck“ von ACDC ging es zurück auf den Platz. Und während beide Fanlager sich akustisch ein wenig auf den DFB einschossen - im Gegensatz zu den anderen Pokalspielen blieb der DFB in Cottbus weitgehend verschont -, machte Josip Brekalo das 1:2 für Stuttgart klar. Routiniert wurde der Ball wie beim Schach hin und hergespielt, dann nahm Brekalo Maß und haute ihn unten rechts rein. Nach kurzer Phase des Durchatmens kam Energie jedoch wieder gut ins Spiel. „Steht auf, wenn ihr für Cottbus seid!“, erklang es nun lautstark von den Tribünen. Jede Grätsche, jede Rettungskation wurde vom Heimpublikum frenetisch gefeiert. Das erinnerte wahrlich an die legendären Schlachten in den späten 1990ern, als das Stadion der Freundschaft für die gegnerischen Mannschaften mitunter zur Lausitzer Hölle wurde. 

 Energie

Es ging Schlag auf Schlag. Freistoß für den VfB, der Ball zischte knapp am Kasten vorbei. Ecken für Cottbus. Diese wurden meist gefährlich. Ein Raunen ging durch das Stadion. Kräfteverlust beim Regionalligisten? Ein möglicher Einbruch? Keine Spur! Es schnupperte nach der Sensation. Mitunter war Cottbus dem 3:1 näher als die Stuttgarter dem Ausgleich. Und dann das! In der 77. Minute fälschte Jose Mattuwila den Ball unglücklich ab. Der abgelenkte Ball trudelte unten links ins eigene Gehäuse. 2:2. Jubel im Gästebereich. Fassungslos stand Mattuwila sekundenlang allein auf weiter Flur - sprich auf dem Rasen - und starrte vor sich hin. So ein Mist, dachten rund 15.000 Zuschauer mit ihm. Wenn das mal nicht in die Hose geht.

 vfb

Und wieder rappelte sich Energie auf und suchte - wie auch der VfB Stuttgart - die Entscheidung in der regulären Spielzeit. In der 80. Minute hatte Viteritti eine gute Chance, auf der anderen Seite schoss in der 89. Minute Brekalo über das Energie-Gehäuse. Dann noch einmal eine Möglichkeit für Cottbus - dann ging es in die Verlängerung. Es blieb irre spannend. Mit zunehmenden Verlauf wurden einige VfB-Spieler ruppiger, und auch im Gästeblock wurde die Pleiglasscheibe getestet, als wieder einmal eine Energie-Ecke nicht schnell genug ausgeführt wurde. Alarm auf den Rängen, der Lärmpegel war ordentlich. Jetzt das 3:2 - und die Hütte würde komplett Kopf stehen. Ei der Daus! In der 116 Minute rettete Energie-Keeper Meyer in höchster Not gegen Ginczek. Mit Schmackes warf er sich rein, und die Ersatzspieler applaudierten lautstark. Ganz zum Schluss hatte Cottbus noch die Möglichkeit, das Ding in trockene Tücher zu bringen, doch de Freitas verpasste mit dem Kopf recht knapp. 

 Energie

Elfmeterschießen. Wie vor drei Jahren gegen den HSV! Dieses Mal allerdings vor der Heimkurve. Die ersten sechs Schüsse waren allesamt ordentlich. 3:3 im Elfmeterschießen. Nachdem Brekalo den VfB mit 4:3 in Front bringen konnte, war es Björn Ziegenbein, der nur den linken Pfosten traf. Nun musste Berkay Özcan nur noch treffen - dann wäre der VfB eine Runde weiter. Der Cottbuser Schlussmann ahnte jedoch die Seite, setzte zum Hechtsprung an und wehrte den Schuss ab. Wieder tobten die Cottbuser Zuschauer vor Freude auf den Rängen. Nun war der eingewechselte Benjamin Förster an der Reihe. Rein das Ding! Doch Förster rutschte weg, und der Ball ging am linken Pfosten vorbei ins Aus. Bitter für den FC Energie Cottbus, doch richtig traurig waren die wenigsten. Hörte man sich nach dem Spiel auf den Straßen um, so vernahm man immer wieder folgende Worte: „Die Spieler haben echt Werbung für sich selbst gemacht! Ich muss unbedingt wiederkommen!“, „Wird höchste Zeit, dass ich auch in der Liga mal wieder ins Stadion gehe. Das haben die sich echt verdient!“ Und ja, vielleicht wird ja Cottbus wirklich wieder ein galaktisches Dorf, wie Trainer Claus-Dieter Wollitz kürzlich auf der Mitgliederversammlung meinte. Auch wenn es ein Versprecher war und er das „gallische Dorf“ meinte, so würde es trotzdem recht gut passen. 

CB

Fotos: Marco Bertram

> zur turus-Fotostrecke: FC Energie Cottbus

> zur turus-Fotostrecke: VfB Stuttgart

Artikel wurde veröffentlicht am
14 August 2017
Spielergebnis:
5:6
Zuschauerzahl:
17.600

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Sehr gut geschriebener artikel,so und nicht anders ;)
D
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Geiler Bericht zu einem geilen Spiel. Leider mit unglücklichem Ausgang.
Macht weiter so! :)
M
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S
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Geiles Spiel, unglücklicher Ausgang! Alles passte -Wetter, Curry, Stimmung!
Regio praktisch schon entschieden - den BFC plagen anscheinend die selben Sorgen wie letzte Saison - Cottbus macht Dinger, die für die Berliner unvorstellbar sind!
Guter Text, danke nach Berlin-Ost!
S
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G
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