Das Wunder von der Weser: Mitgefiebert im Wohnheim vor der schwarz-weißen Röhre

Krächzend zog die Alte durch die Flure und kontrollierte, ob alle Schäfchen auf ihren Zimmern waren. Und wehe, jemand trieb sich noch im Gemeinschaftsraum oder bei den Zimmernachbarn rum. Man - nur „man“, denn Frauen gab es nicht - war über 18? Volljährig und für sich allein verantwortlich? Völlig schnuppe! Es gab eine Heimordnung - und diese besagte, dass wir uns nach 21 Uhr bzw. 22 Uhr (je nach Wochentag) auf die Zimmer begeben mussten. Über 18-jährigen stand es frei: Das Gebäude konnte jederzeit verlassen werden, doch ein Stelldichein in anderen Räumen war strengstens untersagt. Somit auch unter der Woche das gemeinsame Schauen von Europapokalpartien, die über den Zapfenstreich hinausgingen. Klingt ein wenig behindert? War es auch! Kein Wunder, dass damals zu Beginn der 90er die Ossis im Leverkusener Ausbildungswohnheim ein bisschen Scheibe gespielt hatten und reihenweise nach Dormagen zwangsversetzt wurden. Ich indes konnte immer wieder meinen Kopf aus der Schlinge ziehen. Im Januar 1994 war jedoch auch bei mir Schluss. Innerhalb von 24 Stunden musste ich die Sachen packen und mir einen neuen Schlafplatz suchen - und das ein, zwei Tage vor der Abschlussprüfung zum Energieelektroniker. Bevor es jedoch zur Wohnheim-Bambule mit anderen Azubis kam, prägte sich ein anderer Abend fest, ganz fest ein. Rund ein Monat vor meinen Rauswurf saß ich in meinem Einzelzimmer und bestaunte das Wunder von der Weser. Ganz trocken. Ohne Bier. Ohne gemeinsames Abklatschen. Ohne sich austauschen zu können. Als gestern der FC Barcelona die Jungs von Paris St. Germain mit 6:1 wegrockte, musste ich sogleich an das 5:3 des SV Werder Bremen vor über 23 Jahren denken. Mein lieber Herr Gesangsverein, wie viele Pfifferlinge hatte man nach dem 0:4 in Paris noch auf Barca gesetzt? Und wie viele Pfifferlinge damals auf die Bremer, nachdem es nach 65 Minuten gegen den RSC Anderlecht 0:3 stand?!

Man schrieb den 08. Dezember 1993. Der Alltag war trist und grau. Am nächsten Morgen rief das Werk. In aller Herrgottsfrühe aus den Federn gequält, im Frühstücksraum eine Schrippe reingeschoben und dann zur Haltestelle gehetzt. Mit dem 208er Bus den Stadtring entlang. Hinein in das Werk, in der Umkleide den Blaumann an und dann in die Ausbildungswerkstatt oder in einer der Praxisstationen im Block Y3 oder O5. Alles war möglich. Kraftwerk. Pharma. Flußsäure-Produktion. Besonders in Herbst und Winter schnuffelte es an jeder Ecke. Dämpfe strömten aus tausenden Rohren. Jeden Tag hatte man mit der Müdigkeit zu kämpfen. Bei Mettbrötchen und Schokomilch schlief man im Pausenraum fast ein, zwischendurch nickte man beim Express-Lesen in der Klobox weg. Immer wieder nahm man sich vor: Heute Abend gehe ich früher ins Bett! Und dann tingelte man doch wieder in der Weltgeschichte herum. Oder aber ein EC-Spiel samt Nachbetrachtung, die bis nach Mitternacht ging, lockte einen vor den Fernseher.

An jenem Mittwochabend im Dezember 1993 hieß es für mich: Vorlieb mit dem kleinen roten schwarz-weiß-Fernseher nehmen. Er stand in der Ecke auf dem Schreibtisch. Eingerahmt von Wimpeln, Eintrittskarten, Zeitungsausschnitten und Schals. Gladbach, Leverkusen, Dortmund, FC Berlin (BFC Dynamo) und EHC Dynamo (Eisbären). Und bei den Schals: Lazio Rom, Juventus, Dortmund, Leverkusen, Manchester United, Tottenham Hotspur, FC Barcelona, Hertha BSC, FC Berlin und Werder Bremen. Die meisten Utensilien waren Andenken an große Spiele. Das erste Mal in London, das erste Mal in Manchester. Die ersten Besuche im Block 13 auf der Dortmunder Südtribüne. Testspiel von Bayer 04 gegen Lazio. Und der Werder-Schal wurde gekauft, nachdem ich 1992 das Finale des Europapokals der Pokalsieger im Fernsehen geschaut hatte. Mit einem 2:0 wurde der AS Monaco bezwungen. Damals schaute ich Europapokal wirklich mit großer Leidenschaft, jeder deutschen Mannschaft wurden fest die Daumen gedrückt. Was hatte ich Bammel gehabt vor diesem George Weah. Diesem Stürmer-Ungetüm der Monegassen. Er schießt mit beiden Füßen, kündigte die Sportbild im Vorfeld an. Ich fragte mich allen Ernstes, wie das gehen sollte. Ich verstand wirklich nicht, was damit gemeint war. Umso größer die Freude, als Klaus Allofs und Wynton Rufer die beiden Buden machten. Namen, die wie Musik klangen. 

Bremen und der Europapokal. Das machte wirklich Laune. Etwas traurig schaute ich jedoch am 08.12.1993 drein, nachdem Albert und Boffin die Belgier in Führung brachten. Bereits nach 33 Minuten stand es 3:0 für Anderlecht. Ich wollte schon den Fernseher ausschalten. Aber ach, man weiß ja nie! Noch einmal die Zimmerantenne gerichtet und abgewartet. Nach 45 Minuten immer noch 0:3. Nach einer Stunde immer noch derselbe Spielstand. Die Hoffnungen schwanden. Das CL-Gruppenspiel des zweiten Spieltages würde wohl in die Hose gehen. Hinter dem AC Mailand, dem FC Porto und Anderlecht würde es der SV Werder dann schwer haben, doch noch den Einzug in die KO-Phase zu packen. Es wurde relativ still im Weserstadion, das mit 32.000 Zuschauern recht gut gefüllt war.

werder

Die Fans erwachten, als Wynton Rufer in der 66. Minute den 1:3-Anschlusstreffer erzielt hatte. Dieter Eilts hatten Rufer prima angespielt, über den Anderlecht-Keeper hinweg lupfte der Neuseeländer den Ball in das Tor. Und plötzlich war Leben in der Bude. Werder drückte und erspielte sich Chancen im Minutentakt. Hobsch und Bode - beide vergaben prima Möglichkeiten. In der 72. Minute dann aber der nächste Treffer! Der belgische Torhüter Filip de Wilde unternahm einen Ausflug im Strafraum, der norwegische Leuchtturm Rune Bratseth im Dienste des SV Werder sprang höher und köpfte den Ball aus rund zehn Metern in die Maschen. Nur noch 2:3! In der Folge versuchte sich Mario Basler mit einem Freistoß, doch dieser ging zu unpräzise genau auf den Anderlechter Schlussmann. 

Aber dann! Spiel über die rechte Seite, das Spielgerät gelangte rüber zu Rufer, der sich vorarbeitete und den Ball gefühlvoll zum kurzen Pfosten hereinbrachte. Völlig unbedrängt und gegen die Laufrichtung des Torwarts nickte Bernd Hobsch zum Bremer Ausgleich ein. „Ist das denn der helle Wahnsinn?“, fragte der TV-Kommentator. Die Fans im Weserstadion standen Kopf, und auch im Leverkusener Wohnheim ertönte aus einigen Zimmern der Torjubel. Und da ging noch was! Nur drei Minuten nach dem 3:3 zappelte erneut der Ball im belgischen Netz! Nach Gewühle und Gestoche kam Marco Bode hinzu und zog mit Schmackes ab. Durch die Beine von Filip de Wilde! 4:3 für Bremen! „Ich fass es nicht!“, ertönte es aus den Fernseherlautsprechern. Wohl wahr! Trainer Otto Rehhagel kriegte sich gar nicht mehr ein vor Freude. Glücklich klatschte er in die Hände. Die Haare nass vom Regen. 

Anderlecht agierte nun wütend und kam zu einer klasse Möglichkeit. Werder-Keeper Oliver Reck musste eine Glanzparade zeigen, um den Ausgleich zu verhindern. Was für ein Spiel. In der damals nicht überdachten Ostkurve feierten die Werder-Fans die Führung. Regenschirme wippten unterhalb der Anzeigetafel auf und ab. Ungemütliches Wetter? Scheißegal! Dieses Spiel erwärmte die Herzen. Und noch war nicht Schluss! Ein böser Bock in der Anderlechter Hintermannschaft und schon stand es 5:3 für den SV Werder Bremen. Andree Wiedener legte den Ball rüber zu Wynton Rufer, und dieser brauchte nur noch einzuschieben. Hochgerissene Arme. „Ist das denn zu fassen?!“, röhrte es aus der alten Glotze. Ich klopfte auf die Schenkel, sprang auf und rannte auf den Flur. Andere Türen öffneten sich. Das musste gefeiert werden. Völlig egal, ob die alte Aufpasserin des Wohnheims nun zetern würde oder nicht …

Fotos: Marco Bertram, Arne Amberg

> zur turus-Fotostrecke: SV Werder Bremen

Inhalt über Klub(s):
Artikel wurde veröffentlicht am
09 März 2017
Spielergebnis:
5:3
Zuschauerzahl:
32.000

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