1. FC Union Berlin vs. Würzburger Kickers: Ein Spiel, das alte Erinnerungen weckt

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Verrückt, wenn man sich folgendes überlegt. Als heute 18-jährige Union-Fans, die von der Waldseite aus ihre Mannschaft lautstark unterstützen, zur Jahrtausendwende noch in der Wiege lagen oder gerade das Laufen erlernten, hütete mitunter der deutsch-polnische Torhüter Robert Wulnikowski bereits das Gehäuse der Eisernen. Rings herum unüberdachte, staubige, mit Gras bewachsene Ränge, hinter denen die Wipfel der Kiefern hervorlugten. Der Verein spielte in der Regionalliga Nordost, und am Ende der Saison 1999/2000 kämpfte er um den Aufstieg in der 2. Bundesliga, verpasste jedoch diesen in der Relegation zuerst im direkten Duell gegen den VfL Osnabrück und anschließend in der Amateurmeisterschaft (entscheidendes Spiel gegen LR Ahlen ging 1:2 aus). Robert Wulnikowski und seinen damaligen Mannschaftskollegen sollte jedoch noch der Sprung in die Zweitklassigkeit gelingen - und zwar in der Saison darauf. Es folgten für ihn drei Spielzeiten mit den Köpenickern in der 2. Bundesliga. Gekrönt wurde das Ganze vom DFB-Pokalfinale gegen den FC Schalke 04 und der daraus resultierende Auftritt auf europäischem Parkett in der Folgesaison. Eine unvergessene Zeit unter dem bulgarischen Trainer Georgi Wassilew, der von 1998 bis 2003 und später noch einmal für drei Monate zum Jahreswechsel 2006/07 im Stadion An der Alten Försterei an der Außenlinie stand. Einen Stammplatz hatte Wulnikowski jedoch erst, als Wassilew nicht mehr Trainer in Köpenick war.

Am vergangenen Freitag kehrte der einstige Union-Torhüter Robert Wulnikowski zurück an die Alte Försterei. Nein, nicht als neugieriger Zuschauer oder Spielerbeobachter. Man glaubt es kaum, aber mit seinen fast 40 Jahren (seinen Geburtstag feiert er im Juli) lief er in der Startelf der Würzburger Kickers auf. Hochmotiviert wie immer, aber sicherlich noch ein Quentchen feuriger als bei einem normalen Zweitligaspiel. Der einst im polnischen Bydgoszcz geborene Wulnikowski wollte den knapp 20.000 Zuschauern zeigen: Ich bin noch da, ich kann es immer noch - und ich würde sehr gern meinen Kasten sauber halten und etwas mitnehmen aus Berlin-Köpenick. Und so gab er 90 Minuten lang Anweisungen, gestikulierte bestimmend und nahm auch schon mal die Mitspieler zur Brust, wenn es nicht ganz so lief. Ein Kasten blieb an jenem Abend sogar sauber, aber es war jener des Union-Keepers Daniel Mesenhöler, der im Juli 2016 vom 1. FC Köln nach Berlin-Köpenick kam.

Wulnikowski

Einen einprägsamen Abend hatte Robert Wulnikowski mit Sicherheit sowieso, auch wenn er mit seinem Team keine Punkte stibitzen konnte. Was hatte sich nicht alles verändert seit seinem Weggang von den Eisernen am Ende der Zweitligasaison 2003/04?! Was ist überhaupt noch erkennbar von damals? Am Stadion selbst sicherlich recht wenig. Gewiss der Einlass auf der Waldseite in Richtung S-Bahn. Aber mit diesem wird er als Spieler ja nicht so viel zu tun gehabt haben. Und sonst? Vergleicht man die Spielstätte von heute mit der aus den 90ern und der ersten Hälfte der Nuller Jahre - es liegen Welten zwischen. 

Union

Überaus bemerkenswert ist auch die Tatsache, wie sich der 1. FC Union aus dem tiefsten Schlamassel hochgekämpft hatte. In arger Schieflage befanden sich nach dem Fall der Mauer etliche Ost-Vereine. Manche - wie der FC Sachsen Leipzig - wurden irgendwann völlig aufgelöst, andere - wie Stahl Brandenburg oder der 1. FC Frankfurt Oder - kicken in den Niederungen. Andere - wie Dynamo Dresden und der 1. FC Magdeburg - mauserten sich, wiederum andere befinden sich in Regionalliga und 3. Liga an der Schwelle. Dem 1. FC Union Berlin könnte nun der ganz große Sprung glücken. Der Aufstieg in die 1. Bundesliga ist in greifbarer Nähe. Und das wirklich Krasse: Während in der zweiten Hälfte der 90er der F.C. Hansa Rostock und der FC Energie Cottbus die Fahne im Fußball-Osten in 1. und 2. Bundesliga (später auch 1. BL) mit Bravour hochhielten, schienen an der Wuhle die Lichter auszugehen.

Union

Februar 1997. Der Verein war quasi bankrott. Nach mehreren Anläufen, den Sprung in den Profifußball zu packen, war nun Ritze. Es waren leidvolle Jahre für die Union-Fans. Erst der gefeierte Aufstieg im Juni 1993, der dann wegen der gefälschten Bankbürgschaft und der daraus resultierenden Verweigerung der Lizenz wertlos wurde, dann die tristen Jahre Mitte der 90er. Regionalliga-Alltag im Stadion An der Alten Försterei. Mein gefühlter Tiefpunkt war der 17. August 1994. Es war ein Mittwochabend, und vor 986 Zuschauern empfingen die Eisernen die Mannschaft von Hertha Zehlendorf. Nach meinen drei Jahren im Rheinland wollte ich nun nach meiner Heimkehr in die alte Heimat schauen, was sich im Berliner Fußball tut. Das 0:1 gegen Zehlendorf war ein Schock, nur die Treuesten der Treuen waren vor Ort. Untergangsstimmung. Nach dem Spiel wurde der alte Umkleidetrakt belagert. Wut und Enttäuschung. Die beschwichtigenden Reden der Vereinsverantwortlichen halfen nicht mehr viel. „Ist doch eh alles Scheiße, geht doch eh alles den Bach runter!“ Es dämmerte bereits, und die rund 300 Fans befanden sich noch immer vor dem Gebäude. Die Polizei kam, musste aber nicht aktiv werden. Irgendwann löste sich das gespenstische Szenario auf. Ich war fertig. Union war nie mein Verein, doch nur wenige Kilometer entfernt bin ich aufgewachsen. Es schmerzte, zu sehen, wie ein Verein der Heimatregion dermaßen gegen die Wand gefahren wurde. Und ja, es schmerzte zu sehen, wie viele Ost-Vereine vor dem Abgrund standen. Eine unfassbare Situation. Dynamo Dresden von Liga eins direkt runter in die Regionalliga. Wie ich diesen Präsidenten Otto gehasst hatte! Und all die anderen, die ihre schmutzigen Finger im Spiel hatten. Wo steckte damals eigentlich der 1. FC Magdeburg?! Es war alles ein einziges Trauerspiel. Von blühenden Fußballlandschaften keine Spur. Außer an der Ostsee und überraschenderweise ab 1997 in der Lausitz.

Union

Als 1997 in Berlin-Köpenick die Rettungsaktionen gestartet wurden, war ich mit drei Freunden dabei, zwei Segelboote zu bauen, um mit diesen um die Welt zu fahren. Den Fußball der Endneunziger hatte ich demzufolge nicht mehr so intensiv verfolgt. Aber logisch hatte ich mitbekommen, als Nike und Kinowelt bei Union einstiegen, rund 3.000 Fans für den Erhalt des Vereins demonstrierten. Mit einem Kraftakt wurde der Verein gerettet. Die Gewässer wurden etwas ruhiger, der Aufstieg wurde wieder ins Visier genommen. Stürmischer - und das im wahrsten Sinne des Wortes - wurden meine bzw. unsere Gewässer. Im Herbst 1999 gerieten unsere beiden Segelboote vor der niederländischen Küste bei Windstärke zehn und meterhohen Wellen in Seenot. Ein gefunktes Mayday. Nach dem Durchkentern ein paar in den schwarzen Nachthimmel rote Leuchtkugeln, die uns letztendlich das Leben retteten. 

Union

Zurück in Berlin, zurück beim Fußball. Und das auch beim 1. FC Union Berlin. Ich wollte Fotojournalist und Autor (nicht nur im Sportbereich) werden - und wie der Zufall es wollte, erhielt ich 2000/01 meine allerersten Akkreditierungen in Berlin-Köpenick. So auch für das legendäre DFB-Pokalspiel gegen den VfL Bochum am 20. Dezember 2000. Mit der frisch gekauften Spiegelreflexkamera - damals natürlich noch alles auf Dia und Farbnegativ - fand ich mich auf der kleinen, noch nicht überdachten Haupttribüne wieder. Robert Wulnikowski saß auf der Ersatzbank, die Nummer eins war noch Sven Beuckert. Erst zwei Jahre später hatte dann Wulnikowski nach der Amtszeit des bulgarischen „Generals“ einen Stammplatz zwischen den Pfosten. Allerdings wurde er in jener Partie nach einer halben Stunde eingewechselt und bildete für den Rest der Partie einen sicheren Rückhalt. Als neben mir die aus NRW angereisten Journalisten über das Stadion und die Infrastruktur witzelten, kam mir die Galle hoch. Als einer auch noch telefonierte und meinte, das Ding stehe zwar 0:0, sei jedoch quasi durch, weil die Ossis eh nix gebacken bekommen, stieg die Wut in mir auf.

Meine Fresse, was für ein Jubel, als Daniel Ernemann in der 90. Minute den Treffer des Tages erzielte und Bochum aus dem Pokal katapultierte. Was für eine Erlösung. Die Berliner Journalisten sprangen auf und warfen vor Freude die Sitzkissen in die Luft. Totale Ekstase. Auch ich war glücklich. Der Osten hatte es doch drauf. Es ging aufwärts. Und für mich persönlich war dies ein beruflicher Einstieg - auch wenn zwischen 2001 und 2008 erst einmal in anderen journalistischen Bereichen gearbeitet wurde. Die Lunte war gelegt, ich hatte endgültig Feuer gefangen. Ich wollte ab nun die Vereine der Region mit Kamera und Notizblock begleiten.

Union

Der restliche Werdegang der Eisernen dürfte bekannt sein und soll an dieser Stelle nicht noch einmal aufgearbeitet werden. Der Zufall wollte es, dass gegen Würzburg auf der Waldseite bekannte Zeitungsschlagzeilen vergangener Tage präsentiert wurden. Robert Wulnikowski war eigentlich für mich der Anlass („Hey Felix, mach mal bitte ein paar mehr Fotos von ihm!“), einen kleinen Rückblick zu verfassen. Als dann noch die Zeitungsausschnitte präsentiert wurden, passte das Ganze wie die Faust aufs Auge. „Im Blätterwald & aller Munde - ob Tadel oder ob Applaus“. Darüber Weiß auf Schwarz: „Union schießt über das Ziel hinaus.“ Links und rechts zwei gemalte Bilder. Zum einen zeigt Düwel randalierenden Fans den Finger, zum anderen jubelt Mattuschka nach seinem Treffer im Berliner Olympiastadion. 

Union

12 Schlagzeilen wurden von den Fans auf der Waldseite ausgewählt. Klar, dass auch der 8:0-Sieg im August 2005 gegen den BFC Dynamo nicht fehlen durfte. Weiterhin gab es die Schlagzeilen zu folgenden Ereignissen zu sehen: Der Sieg im Elfmeterschießen gegen Mönchengladbach im Februar 2001, der den Einzug ins Pokalfinale bedeutete. Die Spenden-Aktionen im Juni 2004, der Startschuss zum Umbau des eigenen Stadions im August 2008, die Ablehnung des DFL-Sicherheitspapiers am 13.12.2012, die Randale in Stockholm im Januar 2011, das „Liebeschaos“ im November 2008, der Freispruch nach Horrorbeinbruch im August 2012, die besagte gefälschte Bankbürgschaft im Sommer 1993, der Marsch durch Berlin im Februar 1997, die „Sofarandale“ im Juni 2014 und der erhoffte Kauf des KWO-Geländes im Dezember 2015.

Union

Hinter der Waldseite wurden Feuerwerksbatterien gezündet, auf dem Rasen wurde anschließend der 2:0-Sieg eingefahren. Gut dabei waren die Eisernen in den vergangenen Jahren öfters, und demzufolge fragten nicht wenige: „Wann wird Union wieder sportlich einbrechen?“ Fakt ist, fünf der letzten sechs Ligaspiele wurden gewonnen, in Dresden gab es zudem ein torloses Remis. Die letzte Pflichtspielniederlage musste am 09. Dezember 2016 in Heidenheim hingenommen werden. Bravurös verkauft wurde sich auch im DFB-Pokal bei Borussia Dortmund, als die Eisernen erst im Elfmeterschießen die Segel streichen mussten. Eine mögliche Prognose: Der Relegationsplatz wird hinter dem VfB Stuttgart und Hannover 96 erreicht. Der Gegner: Das kann nur einer sein. Der Hamburger SV! Dino-Fall im Köpenicker Forst? Na wer weiß, wir schauen mal …

Fotos: Felix, Marco Bertram

> zur turus-Fotostrecke: 1. FC Union Berlin

Artikel wurde veröffentlicht am
06 März 2017
Spielergebnis:
2:0
Zuschauerzahl:
20.000

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G
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Sehr schön geschrieben ;-)
G
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A
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jawoll
Dit is Union
E
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J
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