Randale totale im mongolischen Hostel: BL-Saison 2000/01 mit Rommé durchgespielt

Zocken bis zum Abwinken. Provozieren bis zur Weißglut. Sich über Wochen hineinsteigern, bis der große Knall kommt. Und dieser erfolgte im Zimmer eines Hostels in der mongolischen Hauptstadt Ulaanbaatar. Der Bogen war überspannt, es flogen die Fetzen. Frust und Enttäuschung. Die Karten segelten durch den kargen Raum, so dass vor Schreck die Kakerlaken (kein Witz!) sich fix verdrückten. „Idiot! Leck mich! Kannste alleine weiterspielen!“ Kurz überlegte ich, den Spielplan, den wir bereits zu zweit drei lange Wochen durchgeackert hatten, in tausend Schnipsel zu zerreißen und in alle Winde zu zerstreuen. Sprich: Den zerfetzten Spielplan durch das vergitterte Fenster auf die staubige Straße des Wohngebietes zu werfen. Aus und Vorbei. Die virtuelle und irgendwie ja doch reelle Bundesliga-Saison 2000/01 hätte kein Ende gefunden. Sie wäre abgebrochen worden. An welchem Spieltag genau es zum großen Eklat kam, weiß ich nicht mehr. Vermutlich um den 22. Spieltag herum. Gut möglich, dass es nach der 0:4-Niederlage der Leverkusener Werkself gegen den Effzeh geschah. Als die Sicherungen durchbrannten und ich meinem langjährigen Reisefreund so richtig die Fresse polieren wollte. Boah, was für ein unvorstellbarer Hass in jenem Moment. Ich hätte am liebsten die ganze Bude zerlegt. Gott sei Dank befanden sich jedoch nur zwei Holzpritschen und zwei Stühle im Räumchen. Mongolische Gemütlichkeit. 

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Ja, worum ging es denn nun? Die Idee, Ligen und europäische Pokale auszuspielen, hatte ich bereits drei Jahre zuvor. Mit Karsten (Betreiber dieses Magazins) wanderte ich im Sommer 1997 vier Wochen lang durch den Südwesten Irlands. Und da es der verregneteste Sommer seit Menschengedenken auf der Grünen Insel war, mussten wir die eine oder andere Stunde auch tagsüber in einem der zahlreichen Pubs verbringen. Kaffee trinken, quatschen, Tagebuch schreiben, Rugby und Pferderennen auf den aufgehängten Fernsehern schauen. Da auch all diese Aktivitäten irgendwann öde werden können, dachten wir uns ein Spiel aus. Wir fertigten beschriftete Zettel an, losten den UEFA-Cup aus, notierten sämtliche Partien auf Papier und spielten die Partien mit Münzen aus. Das Prinzip war denkbar einfach: Fünf Münzen in einen Becher. Zack, ausgeschüttet. Kopf gleich Null, Zahl gleich Tor. Somit war von null bis fünf Treffern alles möglich. Erst die Heimmannschaft, dann der Gast.

Portadown

Es war kein Gegeneinander, sondern ein gemeinsames Zittern, Jubeln und Abfeiern. Legte eine verhasste Mannschaft vier oder fünf vor, dann wurde tief durchgeatmet. Wurde unverhofft ausgeglichen oder gar noch übertrumpft, ertönte schon mal frenetischer Jubel in der Ecke eines irischen Pubs irgendwo zwischen Cork und Tralee. Nachdem an einem Nachmittag, an dem es draußen mal wieder Katzen und Hunde regnete und unsere Klamotten trocknen mussten, wieder einmal eine ganze UEFA-Cup-Saison durchgespielt wurde, schlurfte eine Frau an unseren Tisch und fragte, was wir denn stundenlang mit den Münzen und Zetteln treiben. Wir erklärten das Ganze mit kurzen Worten, woraufhin sie nur fragte: „And who won the cup?“, Portadown!“, Whoooo?“, „Portadown FC…“ Und das im Sommer 1997, als die Zeiten in Nordirland noch wahrlich unruhig waren. Aber auf den Münzenwurf hatten wir eben keinen Einfluss…

Anders drei Jahre später. Zwar ist auch beim Kartenspiel viel Glück im Spiel, doch unter dem Strich ist man selber des Glückes Schmied. Mit Jan, den ich ebenfalls zu Beginn der 90er während der Ausbildungszeit im Rheinland kennengelernt hatte, ging es im August gen Osten. Und zwar so richtig! Mit dem Zug nach Warschau und Moskau, und von dort aus mit der Transsibirischen Eisenbahn und Transmongolischen Eisenbahn über Irkutsk und Ulaanbaatar nach Beijing. Fünf Wochen insgesamt, davon insgesamt eine Woche im Zug und zwei Wochen in der mongolischen Hauptstadt. Viel Zeit also, um das virtuelle Fußballspielen auszufeilen. Karten statt Münzen. Selber aktiv werden, als nur beim Münzenwurf und der vorherigen Auslosung mitzufiebern. Den kompletten Bundesliga-Spieplan im DinA1-Format hatten wir bereits im Gepäck. Nach jedem Spieltag konnte die aktuelle Tabelle ausgerechnet und eingetragen werden. Wohl denn!

Transsib

Rommé bot sich prima an. Das konnte auch nach drei Baltika Nummer 9 noch locker flockig gezockt werden. Zwei Partien Rommé wurden pro Bundesliga-Spiel absolviert. Gewann man mit kleinem Vorsprung war es ein Tor, etwas höher waren es zwei Tore, packte man mit einem Schlag komplett aus, war es der worst case für den anderen. Drei Tore auf einen Schlag! Das Ganze hatte einen kleinen Nachteil: Es gab kein 0:0, kein 1:0 und auch kein 0:1. Von 1:1 bis 6:0 war alles möglich. Dazwischen gab es alles. Die häufigsten Ergebnisse waren 2:1 und 1:2, aber mitunter setzte es auch mal eine 0:5-Klatsche. Gingen Jan und ich auf Risiko und spielten auf Hand-Rommé, um entweder ein 0:2 umzudrehen oder den anderen vollends zu demütigen, knisterte die Luft. Und im Ganzen steckte wahrlich noch mehr Brisanz. Wer spielte denn welche Mannschaft? Es gab ein Ranking von eins bis neun. Die persönliche Nummer eins spielte man demzufolge immer nur selbst. Kam es zum Duell der eigenen Nummer eins und der eigenen Nummer zwei, musste der Gegner die „Zwei“ übernehmen. Klar doch, dass einem die ersten drei, vier Mannschaften am meisten am Herzen lagen, jedoch gab es am Ende einen Titelkampf von Jans Nummer sechs - VfL Wolfsburg - und meiner Nummer sieben - VfB Stuttgart. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich ausmalen zu können, dass zum Ende hin zunehmend taktiert wurde und ganz durch Zufall auch mal mit Absicht verloren wurde.

Um es mal gleich auf den Punkt zu bringen: Es war der Knaller, ein echter Brüller! Leute, dafür braucht man echt ein paar Wochen, doch es ist der Wahnsinn, wie Tag für Tag die Spannung steigt. Es machte süchtig, es machte einen mitunter völlig fertig. Der Vorteil bei uns: Wir kannten all unsere Seiten und wussten zu genau, wo der Hebel anzusetzen war. Verbale Provokationen bis auf Anschlag. Zeitspiel. Höhnische Gesten. Lächeln. Pokergesichter. Einfach alles. Bereits bei der Aufteilung der Mannschaften vor Beginn der Saison gab es großes Gezeter. Okay, ich als geborener Ost-Berliner griff mir Hertha BSC als Nummer eins, er als in Frankfurt an der Oder geborener übernahm den FC Energie Cottbus. Frecherweise schnappte sich Jan auch den F.C. Hansa Rostock, somit brachte ich Bayer 04 Leverkusen als Nummer zwei in Stellung. Jans Nummer drei war Eintracht Frankfurt, meine Nummer drei in jener Saison war Borussia Dortmund. Die Nummern vier bis neun waren nicht allzu emotional geprägt. Wer wollte schon die SpVgg Unterhaching (ja, damals in der ersten Liga!) oder den VfL Wolfsburg übernehmen?! Als dann jedoch Jans Wölfe plötzlich ganz oben mitspielten, musste plötzlich „mein“ VfB Stuttgart es oben richten. 

Spielplan

Beim Durchforsten des Spielplanes lässt manch ein 0:4 oder gar 0:5 schlimmer erahnen. Alles riskiert, alles auf eine Karte - oder besser gesagt auf Hand-Rommé - gesetzt. Und alles verloren. Energie Cottbus besiegte Bayer 04 Leverkusen am sechsten Spieltag mit 5:0?! Da muss bereits im Transsib-Abteil zwischen Ural und Omsk die Luft gebrannt haben. Zocken oben auf den beiden Pritschen im 2x2-Meter-Abteil, zocken im Speisewaggon. Logisch, wir spielten nicht den ganzen Tag - da hätten wir uns sonst die weite Reise sparen können und uns gleich in eine Berghütte im Riesengebirge setzen können -, doch abends wurden dann beim russischen Bier die Karten rausgeholt. „Los Jan, mischen und austeilen! Jetzt macht dich Hertha rund! Scheiß Cottbus!“ Zwei knappe „Halbzeiten“, am Ende verlor die Alte Dame mit 0:2. Resignation. Und gleich in der nächsten Partie verlor meine Nummer zwei gegen meine Nummer drei, die ja nun Jan übernehmen musste. Sprich: Leverkusen vs. Dortmund 0:4.

Ulan Bator

Ab dem 24. Spieltag der Saison 2000/01 lieferten sich Wolfsburg und Stuttgart oben einen hitzigen Zweikampf. Jans Nummer sechs gegen meine Nummer sieben. Das Ranking war schnurz, man wollte dann doch einfach nur Meister werden. Ganz egal, ob mit Schalke oder Stuttgart, oder halt mit Wolfsburg oder Freiburg. Nachdem es im mongolischen Hostel eskaliert war, siegte dann doch die Spielsucht. Zum Glück hatte ich den Plan nicht zerrissen, sondern nur zerknüllt. Nach einer Stunde Stille sprachen wir uns kurz aus. Der Plan wurde wieder geglättet. Die Karten wurden gemischt, das Flaschenbier geöffnet. Zum Wohl, mein Bester! Auf der späteren Fahrt von Ulaanbaatar nach China kochte doch wieder alles hoch. Es ging dermaßen eng zu. Ich konnte nicht mehr, wir konnten nicht mehr. „DFB-Klage“ hatte ich am 31. Spieltag notiert. Zahlen waren durchgestrichen. Es schien gemogelt worden zu sein. Keine Ahnung, wer da wohl wen verarscht hatte. HSV gegen Hansa. 0:3. Hertha gegen Frankfurt. 1:2. Dahinter ein Ausrufezeichen. Mir saß wohl gewiss schon die Hand locker. Köln gegen Cottbus. 0:4. 

Auch am 32. Spieltag muss es Ungereimtheiten gegeben haben. Egal, Hertha bügelte Freiburg mit 4:0 weg. Zweimal hatte ich ein gutes Blatt und schaukelte die Rommé-Partien locker nach Hause. Mal einfach nur innere Genugtuung, mal auch die geballte Faust. Und ja, Jan und ich schafften es, die Spielzeit zu Ende zu bringen. Bei der Partie Leverkusen gegen Bochum hatte ich gleich zweimal voll auslegen können. „6:0!! Yeah! Bätsch, du Brandenburger Fot…“ Halt Stopp, das schreiben wir nicht. War ja nur Scherz, auch wenn einem manchmal nicht nach Scherzen zumute war. Für mich kam es dick genug. Wolfsburg siegte am vorletzten Spieltag 4:0 und am letzten Spieltag genügte Jans Wölfen ein 1:1, um den Meistertitel einzufahren. Schöne Schose! Zum Abschluss rotzte er mit Frankfurt noch „meinen“ VfB Stuttgart mit 3:0 weg. Vizemeister. Mehr blieb nicht. Hertha BSC stieg zudem als Vorletzter ab, Jans Nummer eins - der FC Energie Cottbus - wurde am Ende immerhin Zehnter. 

Tabelle

In der chinesischen Hauptstadt drehten wir dann den Spielplan. „Die 2. Liga 2000/2001 - präsentiert von Sportbild“ auf der Rückseite. Na prima. Ich nahm den 1. FC Nürnberg als Nummer eins, Jan schnappte sich den MSV Duisburg. Uns verließen schnell der Mut und die Lust. SSV Ulm 1846, Rot-Weiß Oberhausen, Greuther Fürth, LR Ahlen und SSV Reutlingen. Mit diesen Vereinen konnte dann doch keine Spannung mehr aufgebaut werden. Nach zwei Spieltagen war bereits Schluss. Nach dem Duell VfL Osnabrück vs. Borussia Mönchengladbach 1:3 wurde die Partie FC St. Pauli vs. SV Waldhof Mannheim erst gar nicht mehr ausgespielt. Wer die Karten wegschmiss, weiß ich nicht mehr. Vielleicht war es aber auch das Signal zum Anschnallen. Finnair-Flug von Peking nach Helsinki setzte zur Landung an… 

Jan und Karsten, es war eine verdammt geile Zeit!

Fotos: Marco Bertram

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Kommentare
Schön aufs Maul im mongolischen Hostel. Genau mein Humor.
M
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G
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Tolle Idee, heute hätte man sein Smartphone und würd enicht mehr miteinander reden
G
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Schön krank
G
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Scheiß Wolfsburg! :-D
U
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