Ballverliebt: Ein Buch wie eine melancholische Eisenbahnfahrt

 
5.0 (5)

Der perfekte Zeitpunkt, um dieses Buch zu lesen. Die Sonne scheint, vorbeiziehen Wittenberg, Bitterfeld und Böhlen. Böhlen! Chemie Böhlen! Beim Blick auf die Brachflächen des einstigen Chemie-Kombinates rattert das Kopfkino. Wie die Zeit vergeht! 17 Jahre hatte ich in der DDR gelebt, bereits 26 Jahre sind seit der Deutschen Einheit vergangen. Also weitaus mehr Bundesrepublik als DDR. Städte und Landschaften ziehen vorüber. Das Ziel: Eine Lesung in Zwickau. Das Tuckern in der Regionalbahn bietet sich geradezu an, die Vergangenheit Revue passieren zu lassen. Erinnerungen an diverse Zugfahrten in den 90ern, als es regelmäßig von Berlin ins Rheinland und ins Ruhrgebiet ging. Und andersherum. Damals schon: Blick aus dem Fenster. Der Blick in die Zukunft. Wie wird diese wohl werden? Was wird in 20 Jahren sein? Wie wird es sich wohl anfühlen, wenn ich Mitte 40 bin? Oh Graus! Was werde ich beruflich machen? Werde ich einen Bierbauch haben? Ein Platte? Schon die dritten Zähne? Wird Fußball immer noch eine zentrale Rolle in meinem Leben spielen? Damals im Zug von Berlin nach Leverkusen und Recklinghausen und zurück ließen mir manche Fragen keine Ruhe mehr. Nächste Station Stendal. Helmstedt. Minden. Logisch, dass es meist mit dem Nahverkehr voran ging. Des Geldes wegen. Und die Antworten auf die damaligen Fragen kenne ich nun. Bierbauch? Nein! Platte? Nein, noch nicht. Zähne? Schadensbegrenzung! Durchatmen. Beruflich? Das sehen wir ja gerade. Und der Fußball? Immer noch zentraler Dreh- und Angelpunkt, auch wenn sich der Betrachtungswinkel rapide geändert hatte. Lust auf der Fahrt nach Zwickau gedanklich noch einmal 20 Jährchen draufzulegen? Oh nein, keine Lust! Was mit Mitte 60 sein wird? Möchte ich nicht wissen! Ich betrachte mal lieber den Ist-Zustand der Gegenwart und schwelge mal ganz gern in Erinnerungen. Also lieber zu einem Buch gegriffen!

Beim Gang zum Bahnhof wollte es der Zufall, dass ein Pappumschlag in meinem Briefkasten steckte. Beim Losgehen noch fix den Umschlag herausgezogen und mit auf die Reise nach Zwickau genommen. In der S-Bahn aufgerissen und gleich voller Neugier geschaut, was sich wohl im kleinen Päckchen verstecken mag? „Ballverliebt“ heißt es mit grüner Schrift. Ein Mann jongliert einen alten Lederball. Ein Blick auf den Buchrücken: Jochen Schmidt & Jochen Reiß. Fragezeichen in der S-Bahn. Eine Stunde später im Zug nach Wittenberg kommen zum ersten Mal die Lachfältchen zum Einsatz. Also das ist ein Ding! Ein Buch - maßgeschneidert für solch eine Über-Land-Fahrt. Draußen lächelt die Sonne über der südbrandenburgischen Landschaft, im Innern lächelt mein Herz. Eine Liebe auf den ersten Blick. 

Ballverliebt

208 Seiten umfasst das gebundene Werk, das kürzlich bei EDEL BOOKS in Hamburg erschienen ist. Zusammengetan haben sich Jochen Raiß (Geschäftsführer von „fotogloria“), der seit über 25 Jahren historische Amateuraufnahmen sammelt, und der in Berlin geborene Autor Jochen Schmidt, der bereits einige Bücher auf den Markt gebracht hatte und 1999 den Open-Mike-Literaturpreis der Literaturwerkstatt Berlin erhielt. Jochen Raiß stellte für das Buch „Ballverliebt“ eine Auswahl an historischen Fußballfotos zusammen. Von unbekannten (Amateur-)Fotografen, von zum Teil unbekannten Orten. Und auch viele Umstände der vorliegenden Fotos sind nicht geklärt. Dabei ist so einiges. Herrschaften mit Melonen auf dem Haupt, der schwere Lederball vor der Gruppe liegend. Ein unscharfes Foto von einem Kick am Strand vor den Dünen. Ein Portrait von einem Mann, der vor einem Holzhaus steht. Helle Hose, Hemd mit Schnürchen. Energischer Blick, der klassische Ball zwischen den Füßen. Ein gewagter Hechtsprung eines Torwartes im unebenen Strafraum. Eine Ballannahme auf einer wilden Wiese. Und zwar im Anzug. Ein versuchter Rückzieher am Meer, und zwar splitterfasernackt. Zwei lachende Brüder beim Kampf um den Ball vor einem Gartenzaun. Ein Sportplatz (viel mehr ein Stadion), an dem im Hintergrund eine Eisenbahn vorbei dampft. Fotos, die Geschichten erzählen. Fotos, die zum Nachdenken anregen. Fotos, die das Kopfkino zum Heißlaufen bringen. Und das soll schon was heißen in der heutigen Welt, in der man tagein, tagaus mit tausenden Bildern vollgeballert wird.

Zu den Fotos hat Jochen Schmidt 33 Kapitel verfasst. Von „Töppen“ über „Wo waren die Mädchen?“, „Sich schmeißen“ und „Papa“ bis hin zu „Ein Grottenkick“ und „Wie schön der Himmel aussieht“. Wundervolle Texte, die meine Zugfahrt von Berlin nach Zwickau versüßten. In der Beschreibung des Buches ist es recht gut auf den Punkt gebracht worden: „Jochen Schmidt, der Meisters der Beschreibung, ließ sich von ihnen zu eigenen Reflexionen anregen. Seine Texte sind feinste Fußballprosa – über die Kindheit in der DDR, über das Verhältnis von Fußball und Zugfahren oder über die Einsamkeit der Torhüter.“ Das kann ich unterschreiben, das kann man so stehen lassen! 

Ballverliebt

Der Autor muss das Buch - zumindest teilweise - auf Zugfahrten geschrieben haben, denn teilweise sind exakt die Gedankengänge zu lesen, die eingangs geschildert wurden. Das werdende Alter, das Gewicht, melancholische Erinnerungen an die eigenen Kindheit, der zaghafte Blick in die ungewisse Zukunft. Liebe zum Fußball. Melancholie, Gefühle, Wehmut. Als Leser riecht man die Kirschbäume im Garten der Großeltern. Man riecht den Staub der Spielplätze. Man spürt die Schmerzen beim Sturz beim versuchten Fallrückzieher bzw. beim ersten versuchten Werfen als Torhüter. Inhaltlich verraten werden soll an dieser Stelle nichts. Sei nur gesagt, dass eines meiner Lieblingskapitel auf den Seiten 118 / 119 zu finden ist. Worum es in diesem geht? Um den Torhüter Martin Pieckenhagen, der einst im gleichen Ostberliner Neubau-Block wie der Autor gewohnt hatte. Und ja, es schien, als habe Pieckenhagen bei der Schulspeisung gewissenhafter „Falschen Hasen“, „Tote Oma“ und „Moppelkotze“ aufgefuttert, denn am Ende wurde er sieben Zentimeter größer als Jochen Schmidt. Während bekanntlich Pieckenhagen bis ins stolze Alter von 39 Jahren diverse Bundesligagehäuse hütete, wurde Schmidt Buchautor. Und wie heißt es am Ende dieses Kapitels so schön? „Wiegen die 40 Jahre im Literaturbetrieb, die ich bestenfalls noch vor mir habe, die 15 Jahre im Profifußball, die er hinter sich hat, wirklich auf? Mein Verstand sagt ja, aber mein Herz sagt nein.“

Sowohl mein Verstand, als auch mein Herz sagen: Dies ist eines der besten Fußball-Bücher, die ich bisher gelesen habe! Und das soll schon was heißen! Gratulation zu diesem Werk, liebe Kollegen!

 

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Artikel wurde veröffentlicht am
27 Dezember 2016

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