Bierduschen, Konfetti und Bengalen: Die Dortmunder Südtribüne vor 24 Jahren

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„Komm doch mal mit zum BVB!“ Herbst 1992. Ich war jung. Ich war heiß auf Fußball. Und ich hatte kurz zuvor beim Duell 1. FC Köln vs. Celtic FC verdammt gute Europapokal-Luft geschnuppert. Der Auftritt der Celtic-Fans im Müngersdorfer Stadion hatte Lust auf mehr gemacht. „Kannst gern im Auto mitkommen, Dortmund spielt gegen den Floriana FC!“, erklärte einer der Älteren im Ausbildungswohnheim, der regelmäßig mit dem Auto zum Westfalenstadion düste. Wir kannten uns bislang nur vom Sehen. Was uns verband? Wir machten eine Ausbildung beim Chemie-Giganten in Leverkusen. Und er hatte zwischen Tür und Angel mitbekommen, dass ich gern über den Tellerrand schaute und zudem von der Atmosphäre beim Duell Dortmund vs. Leverkusen am Ende der vorangegangenen Saison angejuckt war. „Cool, und wo steht ihr?“, fragte ich. „Na, im Block 13! Mittendrin! Überleg´s dir. Wie gesagt, kannst jederzeit mitkommen. Ein Platz im Auto ist frei!“ Ich fackelte nicht lange und fand mich zwei, drei Tage später in seinem Gefährt wieder. Auf der Autobahn vom Rheinland durch das Bergische ins Ruhrgebiet. Zwar war das UEFA-Cup-Spiel gegen den maltesischen Vertreter Floriana FC wahrlich nicht der Knaller, doch für einen Anschnuppern auf der legendären Südtribüne eignete sich diese Partie prima.

Für acht Mark erhielt ich eine Eintrittskarte für den Block 14. Auf dem Ticket grüßte ein Mönch mit einem Bierkrug in der Hand: „Gut und günstig!“ Er meinte das „Dortmunder Stifts Pils“, doch traf diese Aussage durchaus auf das Gesamterlebnis zu. Der Knaller: Beim besagten Bundesligaspiel Dortmund vs. Leverkusen musste ich sogar nur fünf Mark für Block 02 der Nordtribüne hinlegen. Fünf Deutsche Mark für ein Topspiel der Bundesliga! Umgerechnet rund 2,50 Euro! Wenn man bedenkt, dass heutzutage sogar in der Berlin-Liga schon mal sieben Euro (ermäßigt fünf) verlangt werden. Von den Preisen in der Bundesliga ganz zu schweigen. Um kurz bei den damaligen Eintrittspreisen des BVB 09 in der Saison 1992/93 zu bleiben: Ein Sitzplatz auf der Gegentribüne (Block N) für das Heimspiel gegen den FC Bayern München kostete 35 Mark, für einen Sitzplatz auf der Nordtribüne (Blöcke X und Z) bei den Europapokal-Heimspielen gegen den Celtic FC und Real Zaragoza mussten jeweils 30 Mark hingelegt werden. Ein Stehplatz auf der Südtribüne kostete in jener Spielzeit 12 Mark, ermäßigt acht Mark.

BVB

Zurück zum Heimspiel gegen den Spitzenverein aus Malta. Gerade einmal 11.800 Zuschauer hatten sich auf den Rängen des damals noch weitaus kleineren Westfalenstadions eingefunden. Rund 9.000 von ihnen waren auf der Südtribüne zu finden. Man stand bei weitem nicht so dicht gedrängt wie sonst in den Blöcken 12, 13 und 14, doch eine passable Atmosphäre herrschte auch bei diesem Auftritt der Borussen. Zumindest im zweiten Spielabschnitt. Am Ende der ersten Halbzeit ertönte noch ein gellendes Pfeifkonzert. Das Starensemble des BVB 09 ließ gegen den krassen Außenseiter zwei Gegentreffer zu. Der Spielstand: 2:2. Im zweiten Spielabschnitt wurde jedoch ein Schippchen draufgelegt. Racki Zacki wurde nun fünfmal im Gehäuse des Floriana FC was hübsches eingenetzt. Somit wurde mit dem 7:2 ein standesgemäßes Ergebnis erzielt. Frank Mill machte dabei zwischen der 72. und 90. Minute einen lupenreinen Hattrick. Auf die Frage des Dortmunder Wohnheim-Kumpels, ob es denn mir gefallen habe, grinste ich nur. Na klar! Jederzeit gern wieder!

BVB

„Prima, dann schau doch auch mal auswärts vorbei! Am 03. Oktober bei Wattenscheid 09!“, empfahl er auf der Rückfahrt in die Chemie-Metropole. Der Tag der Deutschen Einheit. 1990 stand ich mit meinem Vater vor dem Berliner Reichstag und sah die deutsche Flagge am großen Alu-Mast emporgleiten und die Silvesterraketen in den Nachthimmel steigen, exakt zwei Jahre später stand ich gemeinsam mit Kumpel Karsten und tausenden BVB-Fans im damals äußerst geräumigen Gästeblock des Bochumer Ruhrstadions. Die Wattenscheider standen indes dort, wo sonst die Anhänger des Erzrivalen VfL ihren Platz haben. Bei großen Duellen wie gegen Borussia Dortmund und den FC Schalke 04 zog die SG Wattenscheid 09 von der Lohrheide ins Ruhrstadion um. Bei Zuschauerzahlen um die 25.000 wie gegen den BVB erschien dies auch durchaus angebracht. Rund 15.000 drückten an jenem Oktobertag den Borussen die Daumen, der Rest war für Wattenscheid oder einfach neutral. 

BVB

Ein Auswärtsspiel als Heimspiel. Da sollte man ordentlich Dampf machen. Taten die Dortmunder auch. Stéphane Chapuisat machte die erste Bude in der fünften Minute, Frank Mill legte nur Sekunden später nach. 2:0 für den BVB. Nach knapp einer halben Stunde unterlief BVB-Keeper Stefan Klos allerdings ein Eigentor. Anschluss für Wattenscheid 09. „Stoffel“ merzte seinen Fehler jedoch wieder aus, indem er in der 36. Minute einen Elfmeter von Souleyman Sané hielt. Als der Dortmunder Publikumsliebling Chapuisat in der 66. Minute nach Vorarbeit von Zorc zum 3:1 einschieben konnte, kannte der Jubel beim schwarz-gelben Anhang keine Grenzen mehr.

HSV

Das nächste Heimspiel der Borussia war nach diesem furiosen Auftritt im Bochumer Ruhrstadion gebongt. Rein in die Karre und ab zum Westfalenstadion. Im Parkhaus noch ein paar Büchsen Bier, und dann hinein in die gute Stube! Und ich wurde wahrlich nicht enttäuscht. Im Gegensatz zum Heimspiel gegen Floriana herrschte gegen den Hamburger SV im Block 13 und in den Nachbarblöcken richtiges Gedränge. Obwohl „Gedränge“ noch höflich ausgedrückt ist. Das Stehen im Block 13 war nichts für Personen mit Platzangst. Bereits beim Einlaufen der Mannschaften ging die Post ab. Die Stufen bebten, als tausende Dortmunder das „Heja BVB! und das „Chapi, Chapi, Chapi, Chapuisat!“ anstimmten. Konfetti, Bierdeckel, Pilsdeckchen, Fahnen, Schals - alles flog und wehte kreuz und quer. Ohne wirkliche Ordnung. Ohne Vorsänger. Alles aus dem Bauch heraus - und doch hatte alles ein Grundprinzip. Ehe man sich versah, riss jemand direkt neben einen eine Bengalische Fackel an. Ohne Vorwarnung. Ohne Angst dafür eine derbe Strafe kassieren zu müssen. Hoch das Teil - und fertig. Manch einer griff zum Goldregen. Es qualmte, es roch nach Bier und Schweiß. Logisch, viel anders ist es in heutigen Stehblöcken auch nicht - und doch gab es einen Unterschied: Die Enge war utopisch. Einfach brachial.

BVB

Geplante Pyro-Aktionen gab es meist nicht. Jeder zündete sein mitgebrachtes Zeug, wann es ihn beliebte. Meistens beim Einlaufen der Mannschaften zu Beginn des Spiels, häufig aber auch bei einem Tor oder halt auch mal völlig aus der Kalten. Das Spektakel war für einen Fußball-Frischling faszinierend und beängstigend zugleich. Erwischte einen ein Tor der Borussen aus dem Nichts, weil man nicht vorher den entsprechenden Spielzug beobachtete hatte, sondern den Blick auf all die Fans in der Umgebung schweifen ließ, stolperte man beim Jubel locker zehn Stufen hinunter und fand sich an völlig anderer Stelle wieder. Auch die eng zusammengepresste Menschenmasse kam ganz locker in Bewegung. Man wurde einfach mitgerissen vom vor Freude durchdrehenden Mob. Mögen Bierbecher auch in der Gegenwart beim Torjubel zum Stilelement gehören, so waren die damaligen Bierduschen auf der Dortmunder Südtribüne legendär. Tor von Flemming Povlsen?! Hoch die Arme, weg das Bier! Kuttenträger mit weit aufgerissenen Augen stürzten die Stufen hinab, als gäbe es kein Morgen mehr. Glückseligkeit in Reinform. Kein Wunder, dass viele Fans (und auch Spieler) der Meinung sind, ein entscheidendes Tor sei geiler als jeder Orgasmus. Wenn man die sich umarmenden, sich abknutschenden Männer sah, fiel einem das nicht schwer diesen Fakt zu glauben. Und klar, „Orgasmus-Jubel“ hatte ich in den Folgejahre noch genug, damals in Dortmund vor 24 Jahren war ich jedoch eher der Beobachter. Voll geflasht hatte mich das Ganze so oder so.

Wie das damalige Heimspiel gegen den HSV ausging? 3:1! Also demzufolge dreimal pogen, dreimal um die körperliche Unversehrtheit bangen, dreimal spratzende Adrenalinausschüttung beim schwarz-gelben Mob. Und das nach einem Rückstand! Harald „Lumpi“ Spörl hatte nach gut einer halben Stunde für die Hamburger Führung gesorgt, in den zweiten 45 Minuten folgten dann die brachialen emotionalen Entladungen. Dank Michael Rummenigge, Povlsen und Chapuisat! 

Dortmund

Generell galt damals zu jener Zeit bei Borussia Dortmund: Jedes Spiel ist eine Schlacht! Und Michael Schulz (gegen den HSV allerdings nicht im Aufgebot) war der Kämpfer in der ersten Reihe. Bei den gegnerischen Fans hieß es nur „Schulz, du Sau!“, beim Dortmunder Anhang war er dagegen der Held, der stets mit einem „Schuuuuulz, Schuuulz, Michael Schulz!“ angefeuert wurde. Selbst 24 Jahre später lesen sich die damaligen Mannschaftsaufstellungen großartig: Frank Mill, Michael Schulz, Michael Zorc, Knut Reinhardt und nicht zu vergessen Günter Kutowski. Das waren Spieler, die auch mal richtig drauf gehen konnten. Spieler mit Ecken und Kanten. Eine prima Mischung aus Spielkultur und Kampf. Leider hatte es damals nicht für einen Meistertitel gereicht. Erst als Michael Schulz in Bremen und Frank Mill in Düsseldorf spielten, konnte Borussia Dortmund im Mai 1995 den ersten Meistertitel nach 32 Jahren feiern. 

BVB

Aber auch ohne Titelfeier hatte ich damals in Dortmund hervorragende Spiele erlebt. Unvergessen zum Beispiel das Heimspiel gegen den 1. FC Nürnberg am 28. November 1992. Zweimal ging der Glubb in Führung, in der letzten Viertelstunde drehte Dortmund die Partie. Zuerst sorgte Zorc in der 75. Minute per Elfer für den Ausgleich, dann ließen Reinhardt und Chapuisat in der 89. und 90. Minute die schwarz-gelbe Masse vor Freude kollektiv ausrasten. Es wäre interessant zu wissen, wie viele umgeknickte Beine, blaue Flecken und Prellungen es auf der Südtribüne bei solch einem Spiel gegeben hatte. Und was sonst noch hängen blieb aus jener wunderbaren Zeit im Westfalenstadion? Der gerufene Schlachtruf „Wempe-Zeit! Wempe-Zeit!“ (der Juwelier Wempe präsentierte damals die verbleibende Zeit - oder war es der Spielstand?) sowie die elendig lange Wartezeit im Parkhaus nach den Spielen. Da Geduld nicht meine Stärke ist, war die irre lange Wartezeit im Parkhaus eine echte Qual. Dies war auch der Grund dafür, dass ich in Zukunft lieber mit dem Regionalexpress nach Dortmund fuhr, zumal im Ticketpreis die freie Hin- und Rückfahrt mit den VRR Verkehrsmitteln enthalten war. Mit dem Dortmunder Kumpel aus dem Wohnheim war ich seitdem nicht mehr gemeinsam auf Achse. Falls er diesen Bericht lesen sollte: Vielen Dank, dass du mich damals mit in den Block 13 genommen hattest! 

BVB

Um noch kurz zurück auf jenen Europapokal-Saison zu kommen: Nachdem der Floriana FC weggeputzt wurde, war der Celtic FC, den Karsten und ich bereits in Köln gesehen hatten, der Gegner des BVB. Die „Boys in Green“ zu Gast im Westfalenstadion. Das Schicksal meinte es wahrlich gut mit uns. Bei jener Partie standen wir nicht auf der Südtribüne, sondern wie bereits in Müngersdorf gemeinsam mit den zahlreichen Celtic-Fans im Gästeblock. Allerdings war dieses Spiel bei weitem nicht so aufregend wie das in Köln. Chapuisat erzielte den Treffer des Tages, und nachdem der BVB auch in Glasgow mit 2:1 gewinnen konnte, war im Achtelfinale Real Saragossa der Gegner. Da die Südtribüne bereits ausverkauft war, kauften Karsten und ich uns ein Sitzplatzticket für die besagten 30 Mark im Block Z der Nordtribüne. Gegen den spanischen Vertreter, bei dem Andi Brehme mit auf dem Platz stand, gab es einen 3:1-Sieg zu feiern. Im Viertelfinale gegen die Roma war es für uns allerdings nicht mehr möglich, an Karten heranzukommen. Gleiches galt für das Halbfinale gegen AJ Auxerre und erst recht für das Finale gegen Juventus Turin. Damals wurde das UEFA-Pokal-Finale noch mit Hin- und Rückspiel ausgetragen. Juve war im Frühjahr 1993 für den BVB schlichtweg eine Nummer zu groß. Die Partien gingen klar mit 1:3 und 0:3 verloren. Aber ja, wir erinnern uns alle noch sehr gut: Die Revanche glückte vier Jahre später im Finale der Champions League…

Anmerkung: Einige Passagen wurden aus dem Buch „Zwischen den Welten“ (2014 erschienen) entnommen und in diesem Bericht in abgewandelter Form verwendet.

Fotos: Karsten Höft, Marco Bertram

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Artikel wurde veröffentlicht am
18 Oktober 2016

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G
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Wempe Zeit
G
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Schuuuuuuuuuuuuuulz!!!!!!
G
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G
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Ist das alles ein Vierteljahrhundert her? ich fühl mich glatt als Opa. :-/
Aber schön wars!
K
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