Das Jahr 2024 neigt sich dem Ende entgegen, draußen böllert und donnert es wie wild - und 2025 wird der F.C. Hansa Rostock einen runden Geburtstag feiern. Der FCH wird 60 Jahre alt, und in Sachen Feierlichkeiten wird man sich gewiss nicht lumpen lassen! Nicht lumpen lassen möchten wir uns auch. Zum Abschluss des Fußball-Jahres 2024 gibt es ein Kapitel aus dem neuen 512-seitigen Wälzer "Kaperfahrten II - 65 Grad Kurs Ost-Nordost" zu lesen. Als Dankeschön für Eure Treue und Unterstützung. Gedanklich zurück geht es zum Jahreswechsel 1978/79, bei dem die eisige Schnee-Katastrophe vor allem den Norden der DDR derb überraschte. Viel Spaß beim Lesen wünscht Euch Marco!
Hansa Rostock - Zeitreise 1978/79: Katastrophen-Winter und Abstiegsstrudel
Katastrophen-Saison 1978/79: Abstieg und Schneechaos
Oben knirschte bedenklich das recht flach gebaute Dach unseres Holzhauses - und ich hatte Durchfall. Im Bauch grummelte es und ich traute mich - vor lauter Angst vor einem großen Desaster - nicht zu pupsen. Es war Silvester 1978 und ich saß im Frotti-Schlafanzug am Wohnzimmertisch und spielte mit dem kurz zuvor an Weihnachten geschenkt bekommenen Bauernhof. Wenn ich pullern oder kackern müsse, würde in der Küche der gelbe Eimer bereit stehen, erklärte meine Mama. An einen Gang auf die eigentliche Toilette war nicht zu denken. Im Laufe des Tages fiel schlagartig die Temperatur und krasser Schneefall hatte eingesetzt. Bei diesen Witterungsbedingungen war der Weg ums Haus zum in einem hölzernen Verschlag befindlichen Plumpsklo schlichtweg zu arg.
Meine Eltern zogen mit mir im Sommer 1974 in das Holzhaus in Waldesruh, das sich vor den Toren Berlins befindet und damals wirklich ein Hort der Ruhe war. Das Haus war Mitte der 1930er Jahre eines der ersten der neuen Siedlung und diente anfangs nur als Sommerhaus. Nach dem Einzug machten meine Eltern das Haus winterfest, indem Isolierungen und eine weitere Holzverkleidung angebracht wurden. Die Fenster blieben jedoch zunächst einglasig, und im Winter zog ich im Kinderzimmer mit dem Finger Linien durch die gewachsenen Eisblumen an den Scheiben. Bei minus 15 Grad konnte dann wirklich von sibirischen Verhältnissen gesprochen werden. Damals wurde das Wasser noch mit der Hand gepumpt und anschließend mit einem Tauchsieder erwärmt. Ein Badezimmer gab es vor 1984 nicht, und gewaschen wurde sich ganz klassisch mit dem Lappen vor der Schüssel. Einmal pro Woche wurden 20 Tauchsieder-Ladungen heißes Wasser in eine Zink-Sitzbadewanne gegossen, um im Schichtsystem drin baden zu können.
Der Weg zum Plumpsklo war bei jeder Jahreszeit ein Abenteuer. Außenlicht an und einmal um das Hause getapst. Mal begrüßten einen die Ratten am Boden, wo der Kackeimer stand, mal fror einem der Hintern aufgrund der Kälte an der Brille fest. Und dabei hatte sich meine Mutter wirklich Mühe gegeben, das Klo nett zu gestalten. Mit Klebefolien aus dem Intershop wurden die kargen Wände dekoriert, und als Kind zählte ich beim Toilettengang immer die abgedruckten Blümchen.
Am Silvestertag 1978 wurde jedoch wie bereits erwähnt in den gelben Eimer, den mein Vater von den Fotochemischen Werken in Berlin-Köpenick mitgebracht hatte, gestrullert und gekackert. Meine Mutter hatte vorher stets den Boden des Eimers mit Wasser bedeckt, damit das Ganze im Garten besser mit einem Schwung am Komposthaufen in der hintersten gruseligen Ecke des Gartens entsorgt werden konnte.
Ich war damals fünf Jahre alt, und jener Jahreswechsel hatte sich im Gedächtnis fest eingebrannt. An Böllerei war aufgrund des plötzlichen Wintereinbruchs eher nicht zu denken, und am Neujahrsmorgen musste mein Vater wohl oder übel auf das Dach steigen, da dieses unter der brachialen Schneelast einzustürzen drohte. Zentnerweise schob er den Schnee vom Dach und ließ vor dem Haus meterhohe Schneehaufen auftürmen. Der freigeschaufelte Weg zum Gartentor glich - vor allem für mich als laufender Meter - einem Tunnel, und ich fand das alles irre spannend. Wenn da nicht der rumorende Bauch und der drohende feuchte Pups in die Schlafanzughose gewesen wäre.
Für den Arsch war auch jene Spielzeit für den F.C. Hansa Rostock. An der Ostseeküste kam 1978/79 wirklich alles zusammen. Zum einen sorgten Anfang 1979 bittere Kälte, scharfe Winde und massenweise Schnee für katastrophale Zustände vor allem im Norden der DDR - 17 Menschen kamen ums Leben, die Insel Rügen war zeitweise von der Außenwelt komplett abgeschnitten, und der volkswirtschaftliche Schaden wurde auf zirka acht Milliarden DDR-Mark geschätzt -, zum anderen war vor allem die Hinrunde jener Oberliga-Saison eine einzige Katastrophe. Nach dem 13. Spieltag, der am 16. Dezember 1978 bei milder Witterung absolviert wurde, war Hansa Rostock mit einem Sieg und zwei Unentschieden aus 13 Partien auf dem letzten Platz zu finden.
Und dabei fing die Saison genau an meinem fünften Geburtstag so goldig an. Vor 25.000 Zuschauern wurde der 1. FC Union Berlin mit 4:2 weggebürstet. Rüdiger Kaschke, Axel Schulz, Michael Mischinger und Rainer Jarohs brachten die Kogge bis zur 50. Minute mit 4:0 in Front, danach ließ man die Zügel etwas schleifen und Ulrich Netz und Karsten Heine machten noch zwei Buden für die Eisernen. Gut, eine Woche später musste eine knappe 0:1-Niederlage bei der BSG Sachsenring Zwickau verdaut werden. Unschöner war dann die 0:2-Schlappe gegen die Loksche aus Probstheida. Hansa traf einfach nicht mehr. Nicht bei Stahl Riesa (0:2), nicht gegen Jena (0:2). Bis zum Jahreswechsel blieb der Sieg gegen Union der einzige. Im fuwo-Sonderheft „Das war unser Fußball im Osten“ vom Sommer 1991 blieb es sogar der einzige Sieg bis Saisonende. 26 Spiele. Ein Sieg, vier Remis, 21 Niederlagen - so die angebliche Bilanz. Als Torverhältnis wurde 17:75 abgedruckt. Sensationell! Sensationell bitter. Die Kombi aus Schneekatastrophe, Durchfallspuren im Schlafanzug und desaströser Punktausbeute roch nach einem dramatischen, spannenden Buchkapitel. Bei der Recherche im Netz durfte ich aber feststellen, dass die Buchse nicht ganz voll war. Der fuwo-Redaktion unterlief im Sommer 1991 irgendein dummer Fehler oder aber ein Mitarbeiter mit Liebe zum hässlichen Totenkopf aus dem Hamburger Kiez wollte Hansa einfach eine richtige Grotten-Saison unterjubeln.
Egal jetzt. Besser fühlte es sich an, dass die Buchse nicht komplett vollgekackert wurde und die Mannschaft mit der Kogge auf der Brust in der Rückrunde noch gekämpft hatte. Nachdem die Schneemassen geräumt und das Packeis auf der Ostsee gebrochen wurde, konnte am 17. Februar 1979 der Spielbetrieb fortgesetzt werden. Und was soll ich sagen? Quasi bei mir um die Ecke - von Waldesruh / Mahlsdorf-Süd bis Köpenick sind es nur wenige Kilometer - konnte Hansa beim 1. FC Union Berlin vor 7.500 Zuschauern im Stadion An der Alten Försterei einen 1:0-Sieg einfahren. Bereits in der dritten Minute erzielte Christian Radtke den Treffer des Tages. Eine Woche später wurde dann im heimischen Ostseestadion vor immerhin 11.000 Zuschauern die BSG Sachsenring Zwickau mit 2:0 besiegt. Rainer Jarohs und Jörg Seering erzielten die späten Treffer.
Was folgte, war ein sensationelles 5:5 beim 1. FC Lokomotive Leipzig. Vor 7.500 Zuschauern im Bruno-Plache-Stadion ging jeder mal in Führung, und nachdem Udo Rietzschel in der 77. Minute vom Elfmeterpunkt die Loksche mit 5:4 in Führung bringen konnte, war es Rainer Jarohs, der in drei Minuten vor Zapfenstreich den Ausgleich per Strafstoß besorgen konnte. Läuft doch! Am 17. März 1979 fuhr Hansa vor 12.000 gegen Stahl Riesa einen 3:2-Sieg ein (parallel dazu versohlte der BFC Dynamo die Trabbi-Bauer mit 10:0). Hansa war auf Rang neun zu finden, das Ruder schien nach der katastrophalen Hinrunde und dem ebenso katastrophalen Winter herumgerissen zu sein.
Denkste! 0:1 in Jena, 1:2 in Erfurt, 0:1 gegen den BFC Dynamo, ein 1:1 in Magdeburg, 1:2 gegen Dynamo Dresden, ein 2:3 bei Chemie Böhlen, ein 0:1 gegen den FC Karl-Marx-Stadt und ein 0:3 beim Halleschen FC Chemie. Bereits am vorletzten Spieltag waren sämtliche Messen gelesen. Immerhin mit Anstand verabschiedete sich der F.C. Hansa am 9. Juni 1979 aus dem Fußballoberhaus. Vor 3.000 treuen Fans erzielte Jörg Seering beide Treffer zum 2:0-Sieg gegen Wismut Aue.
Während ich in Waldesruh im Kindergarten in der Scharnweberstraße mit meinem Namensvetter Marco S., der in jüngerer Vergangenheit den FC Einheit Rostock neu gegründet hat, zusammen mit Bauklötzen und im urwüchsigen Garten Räuber und Gendarm spielte, musste Hansa Rostock eine Runde in der Staffel A der DDR-Liga drehen. Gegner waren unter anderen die ASG Vorwärts Stralsund, die TSG Bau Rostock, die BSG Post Neubrandenburg, die SG Dynamo Schwerin und die BSG Hydraulik Parchim, und als Neuzugang konnten keine Geringeren als die Eigengewächse Juri Schlünz und Andreas Zachhuber begrüßt werden. Während im fuwo-Sonderheft 1979/80 die Oberliga-Vereine jeweils eine ganze Seite bekamen, musste sich der Zweitligist Hansa Rostock mit einer halben Spalte zufrieden geben. Das Trainergespann bildeten Harry Nippert und Jürgen Heinsch, als Mannschaftskapitän wurde Gerd Kische angegeben. Keine Prognosen, keine Analysen. Wer wollte, der konnte sich telefonisch im Sportbüro des Ostseestadions melden. Anschluss unter der Nummer 34205.
Aber gut, mehr als souverän wurde die Zweitliga-Saison 1979/80 gemeistert. 21 Siege und ein Remis in 22 Spielen - das nennt sich fette Ausbeute! Dazu ein meisterliches Torverhältnis von 77:8. Wer der Glückliche war, der den Rostockern einen Punkt abknöpfen konnte? Es war die ISG Schwerin Süd, die ein achtbares 2:2 erkämpfte. Weitaus bitterer traf es die Betriebssportgemeinschaft Kernkraftwerk Greifswald, die in Rostock mit 0:10 unter die Räder kam. Im Schnitt sahen 3.545 Zuschauer die Heimspiele im Ostseestadion, und Ihr kommt nicht drauf, wer Rang zwei in der Zuschauertabelle belegte! Nicht Vorwärts Stralsund, nicht Dynamo Schwerin - es war die BSG Hydraulik Parchim, die im Schnitt 2.091 Zuschauer bei den Heimspielen begrüßen durfte. Wieder runter in die Bezirksliga ging es für die Jungs aus Parchim trotzdem.
Um dieses Kapitel abzurunden, eine Woche vor meiner Einschulung in die 10. Polytechnische Oberschule „Helene Weigel“ in Berlin Mahlsdorf startete die Oberliga-Saison 1980/81 und Hansa Rostock teilte sich zum Auftakt daheim vor ausverkauften Rängen die Punkte (2:2) mit dem 1. FC Lokomotive Leipzig. Am Wochenende meiner Einschulung spielte der F.C. Hansa gar nicht mal so weit von mir weg im Stadion der Freundschaft beim FC Vorwärts Frankfurt (Oder). 6.000 Zuschauer bekamen einen flotten Start der Partie zu sehen. Bereits nach etwas über einer Minute brachte Rainer Pietsch den FCV mit 1:0 in Führung, nur zwei Minuten später konnte Rainer Jarohs vom Elfmeterpunkt aus ausgleichen. In der neunten Minute war es Michael Mischinger, der Hansa mit 2:1 in Front bringen konnte, in der 19. Minute erzielte Jürgen Theuerkorn den Frankfurter Ausgleichstreffer.
Während ich mein erstes Schuljahr nur mit Einsen und Zweien und einem Bienchen abschloss, packte Hansa Rostock mit 20:32 den Klassenerhalt. Dabei „beendeten“ die Rostocker die Saison bereits am 22. Spieltag. Am 25. August 1981 bekamen offiziell 30.000 Zuschauer ein spektakuläres Spiel zu sehen. In der 79. Minute schoss Jürgen Uteß das Tor zum 4:2 und der viel zitierte Drops schien gelutscht. Allerdings kam der amtierende Meister aus Ost-Berlin noch einmal zurück. Rainer Troppa und Ralf Sträßer machten noch zwei Buden - die Partie endete 4:4. Vielleicht war der späte Ausgleich den Jungs mit der Kogge auf der Brust einfach zu viel. In den letzten vier Saisonspielen wurde kein einziger Punkt mehr geholt, und man durfte froh sein, dass das Punktepolster bereits groß genug war.
Das Buch „Kaperfahrten II - 65 Grad Kurs Ost-Nordost“ ist derzeit nur direkt beim Herausgeber & Autor Marco Bertram erhältlich.
Entweder per Mail: mDiese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Oder über das Kontaktformular auf www.marco-bertram.de
Euch allen einen guten Start ins Jahr 2025! Ahu!
Fotos: Hansa-Fanclub „Udopia Zwickau“, Marco Bertram, privat