Blau-weiße West-Berliner Familiensause nach Frankfurt (Oder)

Es hieß Abschied nehmen vom überregionalen Fußball. Abschied von der Oberliga. In der kommenden Saison wird die erste Mannschaft der Sp.Vg. Blau-Weiß 90 Berlin als eine Art Farmteam des SV Tasmania Berlin nur noch in der Berlin-Liga spielen, und die Frage ist, ob ein Großteil der blau-weißen Fans dann nur noch die zweite Mannschaft in der Kreisliga unterstützen wird. Trotz der Wut und Enttäuschung - bei den Heimspielen an der Rathausritze schauten zuletzt nur noch wenige Zuschauer vorbei -, beschlossen einige Fans, noch einmal auswärts zu fahren und die Mannschaft im Frankfurter Stadion der Freundschaft zu unterstützen.

Da es vor dem Spiel klassisch rüber nach Slubice gehen sollte, wurde recht früh der Regionalexpress gen Osten genommen. Ich staunte nicht schlecht, als ich vor dem Treffpunkt am Ostkreuz im Bahnhof Berlin-Lichtenberg noch fix in den dortigen Supermarkt reinhuschen wollte, um etwas zum Frühstück und etwas Proviant für die Zugfahrt einzukaufen. Alles voller Unioner! Und vor dem Supermarkt hatte sich eine Schlange gebildet, als hätte die HO-Kaufhalle des Vertrauens das Eintreffen von westlichen Zitrusfrüchten angekündigt. Der Grund für das Getümmel war die Auswärtsfahrt nach Mönchengladbach. An einem hinteren Bahnsteig stand ein schmucker Sonderzug bereit.

Überschaubarer war das Ganze am Ostkreuz. Der Regio rollte ein, und zu dritt schlossen wir uns im letzten Waggon der kleinen blau-weißen Reisegruppe an. Weitere Blau-Weiß-Fans würden später auf anderem Wege in Frankfurt (Oder) eintreffen, sodass am Ende schätzungsweise 40 bis 50 Gästefans im altehrwürdigen Stadion der Freundschaft anwesend waren. 

Angekommen an der Oder, sollte es der Polenmarkt sein. Mein Vorschlag, in der Innenstadt von Slubice in ein mir bekanntes Hotelrestaurant zu gehen - die dortigen Schnitzelplatten sind legendär -, fand keine Beachtung. Vielmehr wollte die kleine, aber feine West-Berliner Truppe ein wenig an den Ständen des Polenmarktes schmökern. Bei Gulasch, Krakauer und gezapftem Bier war die Laune durchaus gut - der totale Kulturschock blieb aus, wenngleich die wortgewandte (männliche) Bedienung ein wenig zu mehr Freundlichkeit mahnte. Statt einem lechzenden „Bier!“ könnte es aus seiner Sicht auch mal gern ein ganzer Satz werden. *Zwinkersmiley*

Mit dem Bus oder auch zu Fuß am Ufer der Oder ging es gen Stadion - und das Ganze fühlte sich tatsächlich an wie eine Ferienlagertour oder Klassenfahrt. Nur halt Ü45 bzw. Ü50. Der Humor ging der Gesellschaft jedoch noch nicht verloren, und somit wurde herumgeblödelt wie vor über 35 Jahren, als Blau-Weiß 90 Berlin ein Jahr in der 1. Bundesliga gespielt hatte und es jede zweite Woche auf der Transitstrecke durch die DDR zum nächsten Auswärtsspiel ging.

Der 1. FC Frankfurt (Oder) und Blau-Weiß 90 Berlin sind sich indes noch nie begegnet. Premiere also. Und das richtig schön Old School. Während im Gästebereich (in Beschlag genommen wurde der untere Bereich der Haupttribüne) manch einer vor Ort war, der bereits die Erst- und Zweitligazeiten Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre mitgemacht hat, traf man auf der Heimseite wieder ein paar FCV-Fans an, die in den 80ern in der DDR-Oberliga mit am Start waren. 

Zwar wurde es keine gemeinschaftliche Party, doch gab es untereinander das eine oder andere Gespräch. Die Berliner zeigten sich sehr erfreut von der Spielstätte und fühlten sich auf Anhieb sichtlich wohl. Die Grundstimmung war jedoch trotzdem ein wenig surreal. Verständlich. Sind die sportlichen Erfolge quasi wertlos, da die erste Mannschaft aufgrund der Kooperation mit dem SV Tasmania Berlin zurückgezogen und wie bereits erwähnt 2023/24 in der Berlin-Liga antreten wird. 

Auf dem Rasen zeigte die blau-weiße Mannschaft erstaunlichen Einsatz und stellte die abstiegsbedrohten Gastgeber vor echte Probleme. Vor knapp 200 Zuschauern konnte Emil Gustavus bereits nach fünf Minuten die Berliner mit 1:0 in Führung bringen, unmittelbar vor dem Pausentee konnte Tamino Marker auf 2:0 für die Sp.Vg. Blau-Weiß 90 erhöhen. So kam es, dass in der zweiten Halbzeit die Mannschaft supportet wurde, wenngleich für manch einen das Ganze etwas komisch oder auch befremdlich wirkte. Aber was soll’s?! Spieler und Fans sollten diese Art Abschiedstour in guter Erinnerung behalten, und somit gab es nach Abpfiff noch eine kleine „polnische Überraschung“.

Apropos, alte Zeiten. Vor einem Jahr kam mein Fußballroman über den ASK / FC Vorwärts Berlin / Frankfurt (Oder) auf den Markt. Es wird gemunkelt, dass es - schreibtechnisch betrachtet - wohl mein bislang bestes Fußballbuch geworden ist. Reale Fußballhistorie verknüpft mit den Alltagsgeschichten in Ost-Berlin der 50er und 60er Jahre sowie in Frankfurt (Oder) der 70er und 80er Jahre. Das knapp 200-seitige Stück ist mit persönlicher Widmung bei mir zu haben. Einfach eine Mail an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! senden.

Paar Infos zum Buch sind auf www.marco-bertram.de zu finden. 

Fotos: Marco Bertram

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