1992: ZSKA Moskau und Rangers in Bochum - Tischtelefon und Schottenmob

1992: ZSKA Moskau und Rangers in Bochum - Tischtelefon und Schottenmob

Wir schrieben den 9. Dezember 1992. Es lief die tägliche tagesschau im Ersten Deutschen Fernsehen. Routiniert las die Nachrichtensprecherin die Meldungen vor. Und dann gab es um 20:12 Uhr die verlesene Neuigkeit, die wie ein Donnerhall daherkam. „Der britische Thronnachfolger Prinz Charles und seine Frau Prinzessin Diana trennen sich.“ Allerdings würden sich die beiden nicht scheiden lassen, und sie würde auch weiterhin ihren königlichen Pflichten nachkommen.

Was es sonst zu vermelden gab? Heftige Kämpfe in Form von Artillerieduellen und Bombenanschlägen wurden aus Afghanistan gemeldet, jedoch schien unklar, wer an den Kämpfen beteiligt war. Aus diplomatischen Kreis ließ man verlauten, dass vermutlich schiitische Extremisten und usbekische Milizen einen Putsch gegen die Koalitionsregierung in Kabul versuchen würden. Wie so oft begann die tagesschau allerdings mit innenpolitischen Themen und einer Meldung über einen Kampfeinsatz mit großer Tragweite. 

 

UN-Truppen, angeführt von den US-Amerikanern, versuchten in Somalia die Kontrolle zu übernehmen (später endete das Ganze ein einem Desaster), im Bundestag wurde eine Gesundheitsreform diskutiert - mal wieder ging es um das Einsparen um Geld -, ebenso diskutiert wurde über das neue Abtreibungsrecht. Ebenso ein bemerkenswerter Punkt: Die beiden Rechtsextremisten Dienel und Reisz sollten nach dem Willen der Bundesregierung wichtige politische Grundrechte verlieren. Zuletzt das Wetter: Neblig trüb und ziemlich kalt.

Während damals vor 30 Jahren Millionen Bundesbürger vom warmen Sofa aus die tagesschau verfolgten, fanden sich bei wahrlich ungemütlicher Witterung exakt 9.341 Zuschauer auf den Rängen des Bochumer Ruhrstadions ein. Allerdings erwarteten diese kein DFB-Pokalspiel oder Bundesligaspiel der „unabsteigbaren grauen Mäuse“ aus Bochum, sondern die Champions-League-Partie ZSKA Moskau vs. Glasgow Rangers.

Und ja, wir sprechen von einer CL-Saison, die es in sich hatte. Wir erinnern uns: Es war das erste Mal, dass der einstige Europapokal der Landesmeister als UEFA Champions League ausgetragen wurden, und am Ende jener Spielzeit wurde am 26. Mai 1993 im Münchner Olympiastadion Olympique Marseille der große Sieger, indem kein geringerer als der AC Mailand mit 1:0 geschlagen wurde. Kurz nach dem großen Triumph kam jedoch heraus, dass Olympique Marseille unter Präsident Bernard Tapie Ligaspiele manipuliert hatte, um den vorzeitigen Meistertitel zu sichern. Wenngleich auch der 6:0-Sieg gegen ZSKA Moskau sehr fragwürdig erschien, wurde Olympique Marseille nicht der CL-Titel aberkannt. Allerdings musste OM runter in die zweite Liga und durfte bis 1994 an keinen europäischen Wettbewerben teilnehmen.

Ältere Fußballfreunde unter uns werden sich zudem an eine weitere Sache erinnern können. Nach Vorrunde und zwei Hauptrunden folgte 1992/93 in der Champions League die Gruppenphase, und in der zweiten Runde traf der von Christoph Daum trainierte VfB Stuttgart auf den englischen Meister Leeds United. Das Hinspiel endete 3:0 und das Rückspiel auf der Insel ging 1:4 aus. Dank der Auswärtstorregel hätten die Stuttgarter die Gruppenphase erreicht. Hätte, hätte, Fahrradkette, denn das Trainergespann des VfB bekam es nicht auf die Kette, vernünftig zu wechseln. Auf dem grünen Rasen war plötzlich ein Ausländer zu viel, das Spiel wurde mit 3:0 für Leeds United gewertet, und somit musste ein Entscheidungsspiel her. Die in Barcelona ausgetragene Partie verlor der VfB Stuttgart mit 1:2.

Apropos Barcelona. Der FC Barcelona, der am 20. Mai 1992 im Londoner Wembley gegen Sampdoria Genua den Europapokal der Landesmeister gewinnen konnte - den Treffer des Tages erzielte Ronald Koeman in der 112. Minute -, mussten sich in der Saison 1992/93 in der zweiten Runden den Jungs von ZSKA Moskau mit 1:1 und 2:3 geschlagen geben. In der Gruppe A hatte es der russische Meister, der noch das Sowjetemblem im Vereinswappen trug, mit Olympique Marseille, dem FC Brügge und den Glasgow Rangers zu tun.

 

Bis dato hatte ich angenommen, dass nur das Heimspiel gegen die Schotten nach Bochum verlegt wurde, doch durfte ich nun feststellen, dass auch die Heimspiele gegen Marseille und Brügge auf deutschem Boden ausgetragen wurden. So gab es im Berliner Olympiastadion gegen Marseille vor 20.000 Zuschauern ein achtbares 1:1 und vor nur 2.500 Zuschauern eine 1:2-Niederlage gegen Brügge zu sehen. Kommen wir jedoch zur Partie gegen die Glasgow Rangers, die am kalten Abend des 9. Dezember 1992 im Bochumer Ruhrstadion über die Bühne ging, zu sprechen. Aufgrund der in Moskau herrschenden Witterungsverhältnisse wurde das Spiel mal eben paar tausend Kilometer weiter westlich ausgetragen.

Die Schotten wird es gefreut haben, denn diese kamen in großen Scharen über den Kanal in den Ruhrpott. Hoch die Tassen! Bier her oder ich fall um! Und ja, an jenem Tag entstand tatsächlich eine Freundschaft zwischen Bochumern und einigen Rangers-Fans. „Brothers in Blue - We are the people - Bochum Loyal“, heißt es auf einer Zaunfahne, die bis heute im Ruhrstadion zu sehen ist. Schätzungsweise rund 5.000 Rangers-Fans fluteten die Stadt, die Kneipen und später die Ränge des Ruhrstadions.

 

Karsten und ich freuten uns außerordentlich über den angereisten Mob und die willkommene Abwechslung. Nachdem wir kurz zuvor im September 1992 den Celtic FC im Müngersdorfer Stadion gegen den 1. FC Köln bewundern durften, bekamen wir nun den Stadtrivalen zu sehen. Mit am Start war auch unser Kumpel Jan, der in den 1980ern als Kind und Jugendlicher regelmäßig zu den Heimspielen des FC Vorwärts Frankfurt (Oder) ging und nun wie wir seine Ausbildung im Rheinland machte. Während Karsten und ich uns aus reiner Neugier in die Gästekurve zu den schottischen Sportsfreunden stellten, kaufte sich Jan lieber eine Eintrittskarte für den Heimbereich und unterstützte die rund 500 anwesenden Fans von ZSKA Moskau, unter ihnen vor allem russische Staatsbürger aus den Neuen Bundesländern.

Wohl denn, ziehen wir von den 9.341 Zuschauern all die aus der Ferne angereisten Fans ab, so bleiben nur rund 3.000 bis 4.000 deutsche Fußballfreunde, die Interesse an dieser CL-Partie fanden. Das Erstaunliche ist, dass sich kürzlich nach einem Facebook-Post gleich vier Personen meldeten, die ebenfalls bei dieser Partie im Stadion waren. Ich sagte es ja immer, wir bewegen uns alle in einer Art Matrix. Das kann alles kein Zufall sein, wie sich jüngst bei einer Rezension zum Knaller-Buch „Für Köln - Der Hooligan Kodex“ von Biniak zeigte.

Die Fußballfreunde, die damals in Bochum ebenfalls am Start waren, hatten meist eine lustige Anekdote parat. So berichtet Karl-Heinz, dass vor dem Spiel ein Fahrer mit seinem Auto in einem Parkhaus mal eben das Kassenhäuschen umgefahren und somit für reichlich Spaß gesorgt hatte. Andreas erinnert sich indes daran, dass er im Stadion einen Platz auf der Pressetribüne einnehmen durfte. Auf dieser standen klassische Festnetztelefone bereit, welche die Medienvertreter kostenfrei benutzen durften. Leider hatte Andreas an jenem Abend nicht sein Adressbüchlein dabei. Aus dem Kopf fiel ihm jedoch die Nummer eines Freundes ein - und mit diesem telefonierte er dann während des Spiels vom Stadion aus. Geile Sache! Apropos, die Festnetznummer von meiner Mutter aus den 90ern kann ich auch noch auswendig. Zudem hatte ich immer die Nummer von einem guten Schulfreund in Waldesruh im Kopf parat. 030 - 566 …

Was die Stimmung auf den Rängen betraf, so war ich nicht ganz so Feuer und Flamme wie drei Monate zuvor, als die Celtic-Fan in Köln einen mega Auftritt hatten, doch handelte es sich auch im Fall der Rangers um einen guten Auftritt. Was die Anzahl der Fans betrifft, so toppten die Rangers sowieso die Angelegenheit. Ein klares Heimspiel im Ruhrstadion. Gefühlt hingen hunderte Stoffe an Zäunen und Geländern. Die paar hundert ZSKA-Fans / Sympathisanten waren an jenem Abend akustisch nicht / kaum wahrzunehmen.

Auf dem Rasen entwickelte sich eine knackige Partie, die hart umkämpft war. Ich hatte das gar nicht mehr so sehr in Erinnerung, doch die verfügbaren Zusammenfassungen (eine ist satte 14 Minuten lang) sprechen eine deutliche Sprache. In der Anfangsphase stürmte Moskau nach vorn und machte im Getümmel fast das 1:0. Rangers-Keeper Andy Goram und seine Mitspieler verteidigten in jenem Moment mit Mann und Maus das Gehäuse, bis letztendlich der Ball aus der Gefahrenzone bugsiert werden konnte. In der Folgezeit drückten die Rangers aufs Tempo, und in der 13. Minute macht schließlich Ian Ferguson aus der Drehung den Treffer zum 1:0 aus Sicht der Gäste klar. Zuvor sah ZSKA-Torwart Aleksandr Guteev alles andere als gut aus. Er ließ den Ball abprallen, an der Strafraumgrenze kam schließlich der nachgerückte Ian Ferguson, der mit überaus kurzen Hosen spielte, an die Kugel, und das abgefälschte Leder senkte sich ins Gehäuse.

ZSKA Moskau hatte fast die adäquate Antwort parat, ein Distanzschuss von Oleg Sergeev streifte den rechten Pfosten. Eine hochwertige Partie gab es sicherlich nicht zu sehen, doch war der Wille bei beiden Mannschaften erkennbar. Was auf beiden Seiten fehlte, war die Präzision. Erstaunlich viele Schüsse und Kopfbälle verfehlten deutlich das Ziel. Am Ende blieb es beim knappen, aber letztendlich verdienten 1:0-Sieg der Glasgow Rangers - und in all den Kneipen und Bars des Ruhrpotts konnte der Abend fortgesetzt werden. Für uns ging es jedoch mit dem Regionalexpress zurück nach Leverkusen. Am nächsten Morgen klingelte schließlich früh der Wecker und die Ausbildung im Werk rief. Anflanschen bzw. Strippenziehen und Platinen löten war angesagt ...

Fotos: turus-Archiv, Marco Bertram, schwarze Natascha, photomafia, Claude Rapp

> zur turus-Fotostrecke: Impressionen aus den 90er Jahren

Artikel wurde veröffentlicht am
12 Dezember 2022
Spielergebnis:
0:1
Zuschauerzahl:
9.341
Gästefans
5000

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Europapokal

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