50 Jahre unterwegs mit dem MSV Duisburg: Vom Abrissblock zur Fußballfibel

50 Jahre unterwegs mit dem MSV Duisburg: Vom Abrissblock zur Fußballfibel

 
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Sieg oder Niederlage. Hop oder top. Klassenerhalt oder Abstieg. Dazwischen gibt es aktuell nichts bei den Zebras aus Duisburg-Wedau. In den vergangenen neun Ligaspielen gab es fünf Niederlagen und vier Siege. Am kommenden Samstag tritt der MSV Duisburg im Kellerduell beim FC Viktoria 1889 Berlin an. Ralf Koss alias Kees Jaratz, der seit 2008 den Zebrastreifenblog schreibt, wird vor Ort im Jahn-Sportpark und - wie seit nun mehr 50 Jahren - dem MSV fest die Daumen drücken. Mit ein paar Freunden wird er gleich ein paar Tage in Berlin dranhängen und am Abend des 19. April eine Lesung in der BAIZ veranstalten. Im Vorfeld des Ganzen nutzten wie die Gelegenheit und führten mit ihm ein ausführliches Interview. Viel Spaß dabei!

turus (Marco Bertram): Moin Ralf, kürzlich kam dein Buch über die Zebras frisch aus dem Druck. Vorab musst Du uns aber eine Sache erklären - und zwar die mit deinem Namen. Bei Wikipedia und amazon geriet einiges durcheinander. Koos - Koss, Kees - Kess. Wir kam es eigentlich zum „alias Kees Jaratz“?

Ralf Koss: Ich wollte ein Pseudonym, als ich 2008 den Zebrastreifenblog begann. Damals habe ich noch viel Kulturjournalismus gemacht. Das Schreiben im Netz sollte von meinem Schreiben für die Printwelt getrennt bleiben. Ich wusste auch noch nicht, wohin der Zebrastreifenblog führen würde. Ich wollte weder pöbelnden Fans noch bornierten Kulturredakteuren Gelegenheit geben, mir das Leben schwer zu machen. Und für das Pseudonym kamen nur Helden des MSV aus meiner Jugend in Frage. Ich habe mir aus Kees Bregman, Kurt Jara, Bernard Dietz, Rudi Seliger und Ronnie Worm unterschiedliche Namen gebastelt und die dann zwei, drei Tage in mir klingen lassen. Kees Jaratz klang dann am besten in meinen Ohren.

turus: Du hattest bereits in den 1970ern eine Dauerkarte als Abrissblock. Kannst du dich an dein allererstes Fußballspiel erinnern oder wurdest du bereits im Kinderwagen ins alte Wedaustadion geschoben?

Ralf: Ich kann mich tatsächlich an mein erstes Spiel erinnern. Da war ich sechs oder sieben. Das war ein Heimspiel gegen Kaiserslautern. Von dieser Zeit erzähle ich auch ausführlicher im Buch. Bei diesem Heimspiel fand ich Fußball sehr langweilig. Ich war mehr action gewohnt vom Basketball. Den spielte meine Mutter in der damals höchsten Spielklasse und da war ich bei den Spielen oft dabei. Basketball war damals noch nicht so populär, aber es passierte beim Basketball eben viel mehr. Es ging hin und her. Jede Minute war ein Korb möglich. Fußball in den 60er war ja gerade im Mittelmaß ein langsames Spiel, oft ohne wirkliche Torchancen. Richtig los ging das mit dem Fußball für mich erst, als ich mit elf aufs Gymnasium kam. Von da an sind wir in einer Clique regelmäßig ins Wedaustadion.

turus: Was waren die schönsten und bittersten Momente mit dem MSV Duisburg?

Ralf: Puh, da gibt es viele, wenn man fast 50 Jahre ins Stadion geht. Das Halbfinale gegen Cottbus in der Pokalrunde 2010/11 war ein großartiges Spiel. Ausverkauftes Stadion, das fast die ganze Zeit komplett supported. kriege ich heute noch Gänsehaut. Aber auch das gedrehte Spiel gegen 1860 in der Saison 2015/16 war ein unfassbares Spiel. Wir waren Letzter und hatten gegen alle Erwartungen uns an den Relegationsplatz rangekämpft. Wir brauchten aber den Sieg, und diese Explosion beim Tor von Obinna kurz vor Schluss. Unfassbar laut. Bitter natürlich der Zwangsabstieg 2013 und diese Niederlage gegen die Bayern im Pokalfinale 98. Wir hatten die Chance den Pott zu bekommen. Und dann wird Bachirou Salou kaputt getreten. Nicht mal gelb für den Tritt. Ich spreche seinen Namen nicht aus.

turus: Verglichen mit den Ruhrpott-Nachbarn in Essen, Oberhausen und Bochum - was macht den MSV Duisburg aus? Sprich, welches Alleinstellungsmerkmal hat dieser Verein?

Ralf: So viele Unterschiede gibt es da gar nicht.  Das ist ja gerade das Problem dieser vier Pott-Vereine. Alle haben den größten Teil ihrer Zuschauerbasis in der eigenen Stadt. RWO hat sich sicher mehr mit der Regionalliga arrangiert als RWE. RWE hat eben eine größere Fanbasis. Was das angeht, sind die mit dem MSV und dem VfL vergleichbar. Wahrscheinlich unterscheidet sich die soziale Mischung des Publikums leicht bei diesen drei Vereinen. In Bochum hast du die Studenten der Uni als potentielles Publikum, Essen bleibt der Arbeiterverein der Stadt, selbst wenn die sozialen Gegebenheiten im Publikum andere sind. Der MSV ist für alle da, sowohl für den ärmeren Norden als auch den wohlhabenderen Süden. Das sind aber kleine Unterschiede. Bodenständig würde ich alle vier Vereine nennen. Emotional die Fans, mit der dunklen Kehrseite der übermäßigen Unzufriedenheit, wenn es mal nicht gut läuft.

turus: Als damals die Bagger anrückten und das alte Wedaustadion plattmachten, damit eine neue Arena gebaut werden kann… Wie war das für dich? Auch Freude und Zuversicht oder vor allem nur Trauer und Wehmut?

Ralf: Es war ja in ganz Deutschland beim Fußball eine Zeit der Veränderung. Natürlich gab es Wehmut, aber es war so offensichtlich, dass ohne ein neues Stadion der MSV den Anschluss an die Bundesliga verlieren würde. Um die Jahrtausendwende lebten wir in Duisburg ja noch in diesem Gefühl gerade erst nach einer erfolgreichen Zeit in die 2. Liga abgestiegen zu sein. Da gab es den neuen starken Mann, Walter Hellmich, der große Worte über die Zukunft sprach. Der Abriss rückte gegenüber dem Aufbruch also in den Hintergrund. Zuversicht nenne ich mein Rückblick nicht. Es war eher eine erwartungsolle Spannung, ob denn diesen großen Worte in sportlicher Hinsicht auch Taten folgten.

turus: Um auf die Fußballfibel zu sprechen zukommen, wie kam es dazu? Hattest du vorher bereits andere Bände gelesen bzw. Kontakt zu anderen Autorinnen und Autoren gehabt?

Ralf: Mich hat ein Leser meines Blogs angesprochen. Christian Lenke, der schreibt auch hier und fürs Zeitspiel. Das ist schon länger her. Bestimmt vier Jahre. Das passte das zeitlich nicht zu meinen anderen Projekten. Anfang letzten Jahres hat er mich nochmal drauf aufmerksam gemacht, dass der Verlag für den MSV einen Autor sucht. Ich sollte einfach mal mit Frank Willmann. Was mir machten. Das Ergebnis sieht man ja jetzt seit Anfang März.

turus: Welche Art von Autor bist du? Morgens beim schwarzen Kaffee am Küchentisch schreiben? Oder doch lieber bei Wein oder Bier des Abends bei leiser Musik im Wohn- oder Arbeitszimmer?

Ralf: Ich lebe vom Schreiben seit Anfang der 90er Jahre. Schreiben ist also Berufsalltag für mich und hat keinen romantischen Anstrich. Ich setze mich morgens an den Schreibtisch und arbeite meist mit einer Mittagspause bis frühen Abend. Gibt es Terminsachen, kann das auch mal später und mit  Wochenendarbeit werden.

turus: Aus deiner Sicht: Was erwartet die Leserinnen und Leser in deinem Buch?

Ralf: Mit meiner Geschichte mit dem MSV lernt man auch die Geschichte des Vereins und Duisburgs seit den 1960er Jahren bis in die Gegenwart kennen. Ich habe mit der Fibel eine literarisch ambitionierte Erzählung geschrieben.  Meine Messlatte war dabei natürlich die Urgeschichte dieses Schreibens, Fever Pitch von Nick Hornby. So habe ich meine Erfahrungen mit und im Fußball immer wieder ins Allgemein-Menschliche gedeutet. Komik sollte nicht fehlen und natürlich auch all die Emotionen, die Fußballspiele in Anhängern eines Vereins hervorrufen.

turus: Wie waren die ersten Reaktionen auf dein neues Werk?

Ralf: Auf unterschiedlichen Kanälen haben Leser reagiert. Stimmen von Frauen gab es tatsächlich noch nicht. Zum einen fühlte sich das Publikum bei der Premierenlesung Anfang März sehr gut unterhalten. Danach haben mich mehrere Bekannte angesprochen, wie sehr sie das Buch berührt. Darunter waren auch schon Menschen, die mit dem MSV nichts am Kopf haben, sich aber für Sport oder das Ruhrgebiet interessieren. Über den Zebrastreifenblog und Facebook habe ich Nachrichten bekommen, ich solle so weitermachen. Alles in allem also habe ich das Gefühl, das Buch wirkt, wie ich es mir erhoffte. 

turus: Seit 2008 schreibst du über die Höhen und Tiefen des MSV im renommierten Zebrastreifenblog. Die Zeiten haben sich geändert. Welche Veränderungen in Bezug auf einen Onlineblog konntest du im Laufe der Jahre feststellen?

Ralf: Neben Blogs sind als Medium des Austauschs über Fußball sämtliche anderen sozialen Medien natürlich von sehr viel größerer Bedeutung. Ich erreiche mein Publikum etwa mehr über geteilte Inhalte bei Facebook. Am Anfang klickten die Leser den Blog öfter direkt. Bei mir selbst gibt es natürlich auch Veränderungen. Auch der Blog war ein literarisches Projekt von Anfang. Mit dem Fußball wollte ich immer etwas über das einzelne Spiel hinaus erzählen. Ein Spielbericht alleine war mir zu wenig. Nach den all den Jahren habe ich das Gefühl, die meisten Spielsituationen schon einmal originell gedeutet zu haben. Ich kann nicht mehr über jedes Spiel schreiben. Mal schauen, wie sich das entwickelt.

turus: Ein Blick auf die aktuelle Saison: Wo wird der MSV nach dem letzten Spieltag stehen?

Ralf: Meinem Tabellenrechner nach werden wir 16. nach dem entscheidenden Unentschieden gegen Verl. Aber ich nutze Tabellenrechner immer als Beruhigungsmittel. Ich prognostiziere die Ergebnisse für den MSV so schlecht wie möglich und so gut wie nötig, damit alles gut geht. Das führt dann dazu, dass meist der MSV besser abschneidet als ich prognostiziere. Mein Tabellenrechner beruhigt aber die Nerven sehr, wenn es ganz eng ist.

turus: Der Blick voraus. Wo könnte der MSV in zehn Jahren zu finden sein? Könnte er überhaupt im Konzert der Großen mitspielen oder wird die Kluft noch größer werden zwischen den Platzhirschen und den Klubs, die zwischen zweiter und dritter Liga pendeln?

Ralf: Da bin ich in widersprüchlichem Denken unterwegs. Realistisch betrachtet, ist die Durchlässigkeit doch inzwischen nicht mehr gegeben. In der 2. Liga stehen gerade zwei von drei Aufsteigern aus dem letzten Jahr wieder auf einem Abstiegsplatz. Natürlich gibt es immer wieder mal eine Mannschaft, die gegen diese Prinzipien der Kapitalkonzentration dennoch Erfolg hat, das lässt sich nicht durch Leistung herbeiführen. Da muss Glück hinzukommen. Der Zufall. Das ist die Realität. Gleichzeitig hoffe ich natürlich doch auf Aufstiege. Ich bin ein Kinder dieser Leistungsgesellschaft. Das steckt tief in mir und führt zu den Widersprüchen, die uns auch im richtigen Leben begegnen.

turus: Schaust du dir eigentlich auch 1. Bundesliga und Europapokal an, oder befindet sich allein der MSV Duisburg im Fokus?

Ralf: Im Grunde interessiert mich das nicht mehr wirklich. Beides schaue ich mir an, wie ich früher oft Radio gehört habe. Ohne Konzentration. Nebenbei. Weil es gerade läuft, aus alter Gewohnheit. Dann merke ich manchmal auf, wenn was besonderes passiert. Aber wenn ich irgendwelche pseudo-aufgeregten Reporterstimme höre, kann ich das Geschehen auch ignorieren, wenn mich jemand anspricht. Fußball ist für mich der MSV. Noch genauer, eigentlich nur der MSV in einem Stadion. 

turus: Ein Blick über den Tellerrand und mal ganz frech gefragt: Wird Rot-Weiss Essen noch den Aufstieg schaffen?

Ralf: Schwer zu sagen. Wenn eine Mannschaft zu Beginn der Saison so dominierte wie RWE und es dann noch knapp wird, hat der Gegner, in dem Fall Preußen Münster, einen Vorteil. Der drückt sich nun mit einem Punkt Vorsprung aus. Wir in Duisburg kennen diese Situation von vor zwei Jahren. Und wenn ich mich daran erinnere, sehe ich schwarz für RWE. Auch wenn ich nichts dagegen hätte, sie in der 3. Liga nächstes Jahr zu sehen. Ein Spiel mit mehr Brisanz als gegen Münster.

turus: Im kommenden Jahr könnte es ein Aufeinandertreffen des MSV Duisburg und des BFC Dynamo kommen? Was sagst du dazu? Besser gefragt: Was fällt dir auf Anhieb zum BFC Dynamo ein?

Ralf: Ich kenne natürlich die Geschichte vom BFC, und habe zunächst eine Reportage im Kopf, in der die Identität des Vereins ständig Thema war. Diese Bemühungen, ein normales Publikum in der Berichterstattung in den Blick zu bekommen, statt eine rechtsradikale Hooligan-Szene immer wieder nur zum Thema zu machen. Ich schaue da aber sehr oberflächlich drauf. Ich bin da mehr in meiner Region unterwegs, wo RWE ja ein ähnliches Problem hat.

turus: Apropos Berlin, am kommenden Samstag darf bereits im Jahn-Sportpark angeschnuppert werden. Duisburg gibt beim Kellerduell seine Visitenkarte beim FC Viktoria 1889 Berlin ab. Ein paar Freunde / Bekannte von dir und du werden dann noch in der Hauptstadt bleiben, da es am 19. April eine Lesung in der Baiz geben wird. Worauf dürfen wir uns freuen?

Ralf: Ich lass das entspannt auf mich zukommen, habe das Buch dabei und werde auf jeden Fall ein paar Ausschnitte zum Besten geben. Es wäre natürlich für uns MSV-Fans schön, wenn wir uns mit bester Laune nach einem Auswärtssieg dort begegneten. Egal, wie es ausgeht, gute Unterhaltung möchte ich schon bieten, aber auch etwas über diese besondere Fußballkultur erzählen, die im Ruhrgebiet gelebt wird. Ob ich oder wir den Zebra-Twist dann singen, soll das Publikum mal entscheiden. Ich bin textsicher. Zumal der Twist in meinem Bühnenprogramm zum Glück im Fußball auch vorkommt. Was Henry Valentino damit zu tun hat, verrate ich aber erst am Dienstag.

turus: Vielen Dank für das Interview! Und dem MSV viel Glück im Abstiegskampf!

 

Lesung und Signierstunde

19. April 2022 um 19:00 Uhr

BAIZ Kultur- und Schankwirtschaft

Schönhauser Allee 26A

10435 Berlin

 

Fotos: Ralf Koss, Christian Lenke, Marco Bertram

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Inhalt über Klub(s):
Artikel wurde veröffentlicht am
14 April 2022

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