Ausgesetzt in Namibia, Konflikt mit Messias, Überfall in Argentinien - wunderbare Zeitreise im Groundhopping-Buch

Ausgesetzt in Namibia, Konflikt mit Messias, Überfall in Argentinien - wunderbare Zeitreise im Groundhopping-Buch

 
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„Schnell trudeln wir abermals in einer gut gewärmten Filiale des Ronald McDonald’s-Konzerns ein, nur um Zeuge davon zu werden, wie ein rumlungernder Obdachloser einem unaufmerksamen Banat-Kid (Banat = so heißt die landschaftliche Gegend hier) die Junior-Tüte klaut und sich aus dem Staub macht. Zustände sind das! Kräftemäßig kurz vor dem Umklappen, beschließen wir, zum Bahnhof zu watscheln. Unter Umständen steht ja der Zug schon auf den Gleisen und wir können vielleicht dort endlich ein bisschen Ruhe finden. Nach nochmaliger, ewig währender Warterei auf die Sitzreservierungen (ist Pflicht, wird aber erst eine Stunde vor Losfahren des Zuges ausgestellt) sind wir endlich am Ziel, die Tagesaufgabe ist erfüllt. Offensichtlich quatschen wir zu laut, klopft es doch eine Minute nach Einnehmen der Plätze an der Abteiltür. ‚Äh Tschuldigung, seid Ihr Deutsch?‘ - ‚Ja, sind wir wohl, sagt zumindest der Reisepass.‘ - ‚Ihr seid nicht zufällig die zwei Kunden, die zum Derby nach Bukarest fahren, oder?‘ - ‚Schon wieder Bingo, der Herr.‘ Sein Name ist Arne, er kommt aus Ulm und nimmt den gleichen Nachtexpress in die Hauptstadt wie wir. Zufälle gibt’s, die gibt’s gar nicht! Zu allem Überfluss kennt er mich auch noch, hat einige meiner älteren Berichte gelesen. ‚So, so, du bist also die Labertasche, die sie Ober-L nennen.‘- ‚Schuldig, schuldig im Sinne der Anklage.‘

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Es geschah auf der „Tour des Leidens“ im März 2003, die von Zwickau aus nach Rumänien führte und von Markus Stapke ausführlich in einem unterhaltsamen Bericht beschrieben wurde. Der Hauch der rauen, wilden 90er wehte noch durch die Straße. Das meiste musste ganz klassisch analog organisiert werden, jeder Kauf eines Tickets - ganz gleich, ob für den Zug, die Metro oder das gewünschte Fußballspiel - war ein Abenteuer für sich. Mit offenem Ausgang. Vor solch einer Tour wusste man nie, was einen vor Ort in Bukarest oder Timisoara erwarten würde. Da die mobile Kommunikation noch klassisch mit dem „Handy-Knochen“ per Kurzanruf und SMS stattfand - im Ausland war dies damals kaum bezahlbar - spielte in der Regel der Zufall fröhlich mit. Bauchgefühl und das gewisse Näschen führten dazu, dass man sich im Nachtzug von A nach B über den Weg lief. Gab es im Ausland Probleme, konnten diese nicht mal eben wie heute mit Hilfe des Smartphones gelöst werden. Ritze war Ritze. Sämtliche Sitzplätze im nächsten Nachtzug waren ausgebucht? Haste erstmal blöde aus der Wäsche gekiekt und musstest dann rasch improvisieren.

Jeder, der in den 90ern und den frühen Nuller-Jahren auf Achse war, wird es bestätigen können. Irgendwie fand sich immer eine Lösung, allzu oft kam im letzten Augenblick Meister Zufall des Weges daher und öffnete ganz unverhofft ein verstecktes Türchen. Was waren das für dolle Zeiten! Nicht nur, weil wir alte Säcke damals noch jung und knackig waren. Es war die Freiheit. Das Abenteuer. Das Handy hattest du damals im Ausland eigentlich nur dabei, um die Uhrzeit abzulesen. Okay, im Notfall hätte man auch eine SMS schreiben oder die Polente anrufen können. Das war Anfang des Jahrtausends bereits der kleine Unterscheid zu den 90ern. Das war’s dann aber auch im Großen und Ganzen. 

Kürzlich holte ich aus meinem Briefkasten ganz unverhofft ein Buch heraus. Eine gelungene Überraschung. Nach dem Auspacken wunderte ich mich erst einmal. Was für ein altbackenes Cover. Welch ein dröger Titel. „Das Abenteuer Groundhopping geht weiter - Band 2 zu Stadien sammelnden Fußballfans“. Na toll, dachte ich auf Anhieb und fühlte mich ein wenig verkackert. Da ich im Zeitraum 1998 bis zirka 2003 in Sachen Fußball ein wenig raus war (private und berufliche Umstände) und ich damals auch keine Fanzines las, sagte mir der Name Jörg Heinisch auch nix. Ich ahnte auf dem ersten Blick ja nicht, dass er zur alten Schreiber- und Hopper-Garde gehörte.

Der zweite Blick machte mich indes neugierig. Nun verstand ich. Das vorliegende Buch ist eine Neuauflage des 2004 erschienenen Werks. Der Umschlag wurde ein wenig aufgepeppt (jedoch im alten Stil gelassen), der Inhalt ist indes identisch mit der ersten Auflage, die bereits 18 Jahre zurück liegt. Der Autor Jörg Heinisch wurde im Dezember 1970 in Hannover geboren und sah das erste Spiel seiner Frankfurter Eintracht im Jahre 1979. Seit 1999 engagierte er sich als Autor zur Historie der Eintracht sowie der Welt der Fußballfans. 20 Bücher und vier Hörbücher wurden bereits publiziert. Respekt! Das Buch „90 Minuten Eintracht Frankfurt“ erschien zuletzt 2019 im Werkstatt Verlag. Wohl denn, der gute Mann ist noch im Geschäft.

Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis zum Klassiker „Das Abenteuer Groundhopping geht weiter - Band 2 zu Stadien sammelnden Fußballfans“ verspricht einiges und triggerte mich teils sofort an. „Drohende Gefahr - Nordirland und Allein in Kiew“, „Kamera läuft … nur bis zum Überfall: Bürgerkrieg in Argentinien“, „Mit dem Zug zur WM nach Korea“, „Tour der Leiden“, „Überlebenskünstler - Interview mit Guinness-Buch-Rekordhalter Stephan Schlei“, „‚Registrazia‘ in Kasachstan“. Dies alles weckte mein Interesse. Allen voran der Überfall in Argentinien und die Fahrt mit der Transsib quer durch Sibirien bis Fernost. Kein Wunder, dass der Verleger Stephan Trosien der Meinung war, das Buch könnte mir gut gefallen. 

Tat es! Ich las es erstmals während meines Beinbruchs, und dann punktuell nochmals während meiner kürzlichen Corona-Quarantäne. Nicht jedes Kapitel gefiel mir außerordentlich - die Abschnitte über das Groundhopping im Allgemeinen zum Beispiel eher nicht -, doch glichen dies die abgedruckten Reiseberichte wieder aus. Dirk Schulz beschrieb seine Tour nach Mali zum Afrika Cup 2002, und gleich in der Überschrift tauchte eine Frage auf, die topaktuell ist: „Wozu ein Impfpass?“ Allerdings hatte das Ganze einen ernsthaften Hintergrund. Waren und sind Gelbfieber, Malaria, Cholera und Typhus in Mali ein großes Thema. Umso größer war 2002 das Erstaunen, als ein beleibter Hopperkollege ohne sämtlichen Schutz einreiste und sogar kopfschüttelnd durchgelassen wurde.

Der von mir bis ins kleinste Detail aufgesogene Erlebnisbericht von der Zugfahrt zur WM 2002 stammt aus der Feder von Jörg Heinisch. Für mich war dieser Text ein echter Volltreffer, war ich gerade mal ein und zwei Jahre zuvor mit der Transsibirischen und Transmongolischen Eisenbahn unterwegs und lernte Sibirien und die Zugfahrt als solches lieben. Ich hätte niemals gedacht, dass fünf Tage in einem Zug so kurzweilig werden können. Und wie es schien, hatte Jörg mit Fari einen passenden Reisebegleiter am Start. Dieser wollte unterwegs einfach mal spontan aussteigen und einen Abschnitt mit dem Leihwagen (!) zurücklegen. Zudem riss er mal eben das obere Bett aus der Verankerung. Das Ganze muss ein göttliches Bild abgegeben haben. Herrlich! Hinter Nowosibirsk gesellte sich der 22-jährige Roman mit ins Abteil. Er hatte gerade seinen Militärdienst in Tschetschenien beendet und spielte nun mit Jörg und Fari viele Partien Mühle und Kniffel. Nach dem zweiten Tag wurde im Zug kein Toilettenpapier ausgegeben, und Nervenkitzel gab es stets bei den unterschiedlich langen Stopps an den Bahnhöfen. Im schlimmsten Fall konnte man nach dem Einkauf auf dem Bahnsteig mit Pantoffeln vor einem leeren Gleis stehen. 

Carlo „Fari“ Farsang hatte auch während seiner Argentinien-Tour im Dezember 2001 einiges erlebt. Jörg Heinisch hatte das Ganze auf Papier gebracht, sodass auch die kommende Generation noch davon erfahren darf. Man sollte dieses Kapitel unbedingt lesen! Sei nur kurz erwähnt, dass Fari seinen Rucksack mit dem gesamten gedrehten Material in einem Fast-Food-Restaurant stehen ließ und es anschließend im Rekordtempo mit einem Taxi zurückging. Happy End? Ja! Es floss aber reichlich Angstschweiß - und das nicht nur in jener Situation. Aufgrund der Wirtschaftskrise befand sich Argentinien am Rande (und teils mitten drin) eines Bürgerkrieges. Kein Wunder, dass der ihn begleitende NRD-Redakteur damals nur meinte: „Ich bin fix und fertig. Ich bin jetzt vier Tage mit Dir unterwegs. Ich kann nicht mehr. Was ich hier erlebt habe.“

Ein weiteres Highlight des Buches ist das Interview mit Stephan Schlei, der zum damaligen Zeitpunkt in 31 Jahren 27-mal um die Erde gereist war. Als Anhalter! Er lebte und reiste mit nur minimalen Beträgen, schlief in Kellern und auf dem Feld und fuhr stets kostenfrei als Anhalter durch die Kontinente. Nun denn, in den 90ern pennte ich auch häufig in versifften Ruinen, auf abgefuckten Busbahnhöfen, auf Parkbänken oder auch mal unter freiem Himmel auf dem Acker, doch waren seine Touren noch ein anderes Kaliber. Zumal man von 2002 mal eben 31 Jahre zurück rechnen darf. Sein Spaß begann demzufolge bereits in den frühen 1970ern. Logisch, dass er beim im Buch abgedruckten Interview einiges zu erzählen hatte. So wurde er einst einmal vom damals 19-jährigen Rudi Völler im Auto mitgenommen. 

Wenn ich Euch bis jetzt noch nicht davon überzeugen konnte, dieses Buch zu kaufen, so sage ich einfach mal: „Der Fall Messias“ ist allein der Kauf wert. Carlo „Fari“ Farsang verfasste im November 2003 ein Resümee und kam dem Wunsch der breiten Masse nach, einen seit 1995 schwelenden Konflikt aufzuarbeiten und zu rekonstruieren. Mit den Messias-Brüdern ging es einst nach Afrika, wo es in Namibia eine Schlüsselszene gab, die zu einem über acht Jahre andauernden fiesen, verleumderischen, bis hin zur körperlichen Gewalt reichenden, psychologischen Konflikt führte. „Wer macht geilere Fotos von den Dickhäutern?“, lautete die Frage unter der namibischen Sonne.

Dem Berliner Freund hinter dem Steuer der Rostlaube juckte jedoch nicht diese Frage. Er peitschte die Karre mit 120 Sachen durch die Landschaft und ignorierte den Wunsch des Anhaltens. Demonstrativ wurde das Gaspedal durchgedrückt und die Situation eskalierte. Nach einem Streit wurde Carlo „Fari“ Farsang einfach an einer Kreuzung in der namibischen Walachei rausgeworfen. Carlo ließ sich nicht lumpen und trampte die lächerlichen 1.000 Kilometer nach Johannesburg und traf pünktlich zum gewünschten Spiel ein. Während der kommenden Jahre gab es immer wieder meist zufällige Aufeinandertreffen an den verschiedensten Punkten dieser Erde, während der WM 98 explodierte dann das Pulverfass, was dazu führte, dass vier Stunden in einer französischen Zelle verbracht werden mussten. Das ewige Katz-und-Maus-Spiel mutierte langsam aber sicher in eine Hass-Zone, in der es keinen Spielraum mehr gab. Gut, mehr wird nicht verraten! Wenn ich es bis jetzt nicht geschafft habe, Euch neugierig zu machen, dann ist dem eben so. Von mir gibt es nach anfänglicher Skepsis eine klare Leseempfehlung! :-)

Fotos: Marco Bertram, Marco Hensel, Marcel Hartmann

> das Buch „Das Abenteuer Groundhopping geht weiter“ beim Verlag (externer Link)

Artikel wurde veröffentlicht am
17 Februar 2022

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