Feyenoord Rotterdam zu Gast bei Union Berlin: Zwei Tage auf den Straßen unterwegs

Feyenoord Rotterdam zu Gast bei Union Berlin: Zwei Tage auf den Straßen unterwegs

Den 24. Juni 1990 werden viele ihr Leben lang nicht vergessen. Im Guiseppe-Meazza-Stadion traf im Achtelfinale der Weltmeisterschaft die deutsche Nationalmannschaft auf die Niederlande, und bereits nach 20 Minuten lagen die Nerven blank. Frank Rijkaard rotzte Rudi Völler an - und beide mussten mit Rot vom Platz. Ich war damals knapp 17 und schaute die Partie in meinem Zimmer vor den Toren von Ost-Berlin. Ich konnte es einfach nicht fassen, wie dreist der Rijkaard das Lama spielte. Hass, einfach nur Hass! Auf Rijkaard. Auf Holland! Als Jürgen Klinsmann und Andreas Brehme die DFB-Elf mit 2:0 in Front brachten, spielte ich in meiner Bude das erfreute Rumpelstilzchen. In der 88. Minute machte es Ronald Koeman vom Elfmeterpunkt noch einmal spannend. Wieder Hass. Ich spuckte fast meinen kleinen Schwarzweiß-Fernseher an vor Wut. Aber hey, Deutschland brachte die 2:1-Führung über die Runden. Alles gut.

Nix gut war für die Holländer. Drei Wochen später fuhr ich mit der Jungen Gemeinde für 14 Tage nach Frömern und nach - wie der Zufall es wollte - nach Holland! Wir Jungschen hatten das Achtelfinale längst abgehakt. Das Finale in Rom überstrahlte schließlich alles. Die Party auf dem abendlichen Ku`damm. Die fliegenden Leuchtkugeln, der Autokorso, die feiernde Meute. Ich fand das einfach nur mega. Das Fußballfiber hatte mich gepackt. Die holländischen Fußballfreunde hatten das Achtelfinale jedoch noch auf dem Schirm. Wir waren in Hoek van Holland untergebracht, und der blanke Hass schlug uns täglich entgegen. Okay, dachte ich, mir doch egal. Dann sind wir halt die scheiß Deutschen und ihr seid die scheiß Holländer. Gebongt!

 

Einmal richtig ausleben durfte ich das Ganze im September 1994, als wir mit einem Sonderzug nach Eindhoven fuhren. Nach dem 5:4-Heimsieg musste der TSV Bayer 04 Leverkusen beim PSV ran - und in Neuss stiegen noch etliche andere Hools aus Gladbach, Gelsenkirchen und Duisburg zu. Die Ankunft in Eindhoven werde ich ebenfalls mein Leben lang nicht vergessen. Dieser Ausbruch an Hass. Mit einem brachialen „Hurra, hurra, die Deutschen, die sind da!“ wurde aus dem Zug gesprungen. Böller detonierten zwischen den Beinen der Polizeipferde, ein Gaul brach direkt vor unseren Füßen zusammen. Mitleid? Keine Spur. Nur Hass auf die Holländer. Die Sache nahm beängstigende Formen an. Im schmalen Gästekäfig wurde es arg erhitzt, die Leuchtkugeln flogen hin und her, unten rissen die PSV-Fans wie Tiere an den Zäunen. Nach dem 0:0, das Leverkusen zum Weiterkommen genügte, wurde der Sonderzug von wütenden Holländern mit Leuchtkugeln beschossen. Die Notbremse wurde gezogen und es gab einen kurzen Schlagabtausch. So weit, so gut. In der Folgezeit hatte ich mit unseren westlichen Nachbarn weniger zu tun.

Bis zum 6. November 1999. Am Abend mussten die Kräfte der Niederländischen Marine und der KNRM raus auf die tosende See, um uns von den gekenterten Segelbooten mit einem Lynx-Hubschrauber und einem sturmfesten Rettungsboot zu bergen. Die holländischen Hünen, keiner war kleiner als zwei Meter, hatten ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um unser zu retten. Sie brachten uns nach Den Helder und auf die Insel Vlieland und klopften uns auf die Schultern. Glück gehabt, Jungs. Ohne Frage, war dies - neben der Geburt der beiden Kinder - der bewegendste Moment in meinem Leben. Aus den „scheiß Käsköppen“ wurden Lebensretter.

 

Im Juni 2007 fuhr ich mit einem Freund noch mal nach Vlieland, um nochmals Danke zu sagen und dem Meer in den Abendstunden etwas Rum zu überreichen. Am Strand kippten wir eine Flasche kubanischen Rum in unseren Rachen, und ich schlug vor Freude Purzelbäume. Geiler Scheiß, ich lebe noch! Nachts gingen wir in eine Kellerbar und erlebten erstmals hautnah, wie es ist, wenn Holländer feiern und die Sau rauslassen. Kollektives Durchdrehen. Das Bier floss aus 1-Liter-Humpen, und es wurde getanzt und gesungen. Ich ließ mich anstecken, ließ mich emotional komplett fallen, riss später mein weißes Hemd auf, tanzte auf den Tischen und ballte vor Freude die Fäuste. Die Einheimischen fanden das prima. So muss gefeiert werden. Nix mit Handbremse. Laufen lassen bis der Arzt kommt! 

 

Große Berührungspunkte gab es in den Folgejahren nicht mehr. Während manch einer gern nach Holland und Belgien hoppen fährt, bin ich hier halt eher das Ost-Kind, treibe mich in der Region Nordost rum und fahre ab und nach rüber nach Polen. Nachdem in der neuen Conference League jedoch die Gruppe für den 1. FC Union Berlin ausgelost wurde, schnalzte ich die Zunge. Feyenoord Rotterdam. Besser geht es kaum! Ich besorgte mir eine Eintrittskarte für den äußeren Rand der Gegengerade und nahm mir beide Abende frei. Vor allem der Vorabend schien von großem Interesse zu sein. Bereits am Mittwoch gegen Mittag fuhr ich rasch zum Ostbahnhof, um das Feyenoord-Graffito zu fotografieren. Ein Kumpel fuhr kurz vorher mit dem Auto vorbei und schickte uns sogleich eine Nachricht. Ich nutzte das Ganze und streifte ein wenig durch die Gegend, da ich von Herbst 1990 bis Sommer 1991 am dortigen Ufer der Spree meine Berufsschule hatte. Vom Ostbahnhof kommend traten wir morgens gern mit den BW-Stiefeln die Fenster der verwaisten DDR-Fahrzeuge ein. Meine Güte, ist das schon drei Jahrzehnte her? 

 

Gegen 20 Uhr traf ich am Abend am Hackeschen Markt ein, um zu schauen, ob es sich dort noch ein Rotterdam-Mob gut gehen lässt. Etliche Fans sangen und tranken noch, doch zahlreiche Fans waren inzwischen weitergezogen. Als ich im Späti ein nordisches Bier kaufen wollte, wurden mal eben fünf Euro für die Butelka verlangt. „Nee, lasst ma! Dat könnt Ihr mit den Feyenoord-Fans machen!“, rief ich lachend und stellte die Flasche zurück. „Ey Bruder, wir müssen hier heute zehn Männer einstellen…“, versuchte man mir zu erklären. Fein, fein, nehmt es von Feyenoord, die werden reichlich Kohle dabei haben. Ein Großteil kam ja auch mit einem Trolli am Berliner Hauptbahnhof an. Ein Bild für die Götter. Hier und dort ein Rauchtopf, und dann ging es mit dem Trolli zum nächsten Hotel bzw. Hostel. Wenn schon, denn schon. Party-Urlaub in der deutschen Hauptstadt.

 

Als ich in einem anderen Späti den Kassierer mit den Worten „Meester, kannste mir bitte dat Bier aufmachen?“ um Hilfe bat, spitzten die anderen Durstigen bereits die Ohren. Deutscher? Es blieb jedoch bei skeptischen Blicken. Was blieb an diesem Abend? Einfach sich treiben lassen und dem Bauchgefühl folgen. Nahe den Hackeschen Höfen bekamen sich ein paar Gäste in die Haare, Polizeifahrzeuge fuhren hin und her. Als Berliner war es nett, mal wieder abends in Mitte unterwegs zu sein. Zum Hackeschen Markt und in die Oranienburger Straße verschlägt es einen als Einheimischen ja nicht mehr so oft. Längst passé sind die Zeiten, als man abends in den Silberfisch, den Obstladen und ins Tacheles ging. 

 

Für Touristen ist das Ganze jedoch nach wie vor ein netter Hotspot. Neben dem „Generator“ hatte sich ein ordentlicher Pulk Holländer versammelt, und der innere Party-Knopf wurde bereits getätigt. Party on! Laufen lassen, singen, Arme hoch. Ein paar Einsatzkräfte beließen es dabei, darauf zu achten, dass sich der Mob nicht zu sehr auf die Straße schiebt. Groß war das Gejohle, als zwei Reisebusse vorfuhren und wenig später sämtliche Polizisten abrückten und mit Blaulicht zu einem anderen Einsatzort fahren mussten. Ab und an wurde eine Fackel und ein Rauchtopf auf die Straße geworfen, der Lärmpegel nahm weiter zu, die Stimmung wurde stetig ausgelassener. 

 

Gegen 23 Uhr rückten von der Tucholskystraße aus kommend ein paar polizeiliche Einsatzkräfte an, und wie auf Knopfdruck eilten die holländischen Fans in Richtung Friedrichstraße. Einige bogen in die Auguststraße ab und eröffneten das nächtliche Katz-und-Maus-Spiel, das an diesem Abend auch in Teilen von Kreuzberg und Treptow angesagt war. Am Hackeschen Markt belagerten kurz vor eins noch etliche Feyenoord-Fans eine Kneipe und einen Glühweinausschank und zündeten in der Unterführung ein paar Fackeln. Ach komm, Taxi und die letzte U-Bahn genommen und ab in die Koje. Der folgende Tag könnte lang und anstrengend werden.

 

Standesgemäß ließ ich den Spieltag mit einem Stelldichein am Hackeschen Markt einläuten. Aufgrund des Dauerregens war zwar nicht so viel los wie erwartet, doch heizte sich die Stimmung bereits auf. Ein Fußball wurde durch die Gegend gedroschen, eine aufgeblasene Banane musste derbe Fußtritte erleiden, und auch der Einsatz von Pyrotechnik kam nicht zu knapp. Unter der Unterführung und unter den großen Sonnenschirmen rauchte und brannte es immer wieder, die Polizei zeigte Präsenz, blieb jedoch zurückhaltend. Die Zugänge zum S-Bahnhof wurden kontrolliert. Es sollte verhindert werden, dass Feyenoord-Fans auf eigene Faust gen Olympiastadion fahren. Vom Alexanderplatz und vom Bahnhof Zoo aus - auch am Bierkönig am Ku’damm versammelten sich reichlich Gästefans - sollte es mit der U2 zum Stadion gehen. Dort sollten die Feyenoord-Fans hinten rum und über das Maifeld direkt zum Gästeblock geleitet werden. 

 

Gegen 17 Uhr erfolgte am Hackeschen Markt der Startschuss, und die anwesenden Fans wurden zu Fuß in Richtung U-Bahn geführt. Dass die anschließende Fahrt in den schmalen, engen Waggons der U2 ein Gaudi wurde, versteht sich von selbst. Während des Marschs und auch während der Fahrt wurde erneut gezeigt, dass man ordentlich im Pyro-Fachhandel eingekauft hatte. Die richtige „big Party“ blieb jedoch am Spieltag auf den Plätzen und Straßen Berlins aus. Das windige nasskalte Wetter nahm zumindest in dem Bezug reichlich Wind aus den Segeln. 

 

Richtig „gemütlich“ wurde es auf den Vorplätzen des Olympiastadions. Segelwetter vom Feinsten. Steife Brise aus Nordwest. Optimal, um am Einlass all die Dokumente zu zeigen. Und bitte Maske auf! Die Brillengläser beschlugen, der Regen peitschte einem ins Gesicht. Was für ein Mistwetter! Aber irgendwie auch passend für ein raues Duell gegen eine holländische Mannschaft. Nun hieß es jedoch erst einmal stehend, laufend, hüpfend die Zeit bis zum Anpfiff zu überbrücken. Wahrlich kein Wetter, um beim Bierchen locker flockig zu plauschen. 

 

Hübsch warm wurde es vor dem Anpfiff und kurz nach dem Anpfiff in der gut gefüllten Gästekurve. Gleich zweimal in Folge wurden zahlreiche Fackeln gezündet und anschließend in den Innenraum und in Richtung Marathontor geworfen. Das Ganze sah nett aus, doch das wilde Werfen wurde vom Heimpublikum mit einem Pfeifkonzert quittiert. Auf Heimseite wurde indes auf Pyrotechnik verzichtet, schließlich war Union Berlin nach den Vorkommnissen gegen Haifa und in Rotterdam genügend in den Schlagzeilen. Eine weitere Pyroshow hätte sicherlich weiteres Öl ins mediale Feuer gegossen. Man beließ es beim klassischen Support, der sicherlich am gestrigen Abend alles andere als übel war. 

 

Vor rund 30.000 Zuschauern (5.100 Gästefans) gab es eine unterhaltsame Partie zu sehen, bei der Feyenoord nach einer Viertelstunde mit 1:0 in Führung gehen konnte. Nach einem Pfostenschuss war es Sinisterra, der mit links vollenden konnte. Richtig schön anzusehen war kurz vor der Pause der Ausgleichstreffer vom Mannschaftskapitän Trimmel. Alter Schalter, was für ein geniales Tor! Die Heimfans standen Kopf - mit dem 1:1 ging es in die Pause.

 

Munter ging es weiter, die Partie gestaltete sich völlig offen. In der 72. Minute rutschte Union-Torwart Luthe auf dem klitschnassen Geläuf im eigenen Fünfer weg, Dessers kam an den Ball, bedankte sich und schob zum 2:1 für Feyenoord ein. Nun stand der Gästeblock Kopf und tobte vor Freude. Union versuchte noch mal alles, hatte in der Schlussphase jedoch reichlich Pech. Zuerst erhielt Trimmel die zweite gelbe Karte, weil er den Ball auf den Rasen schlug, nur zwei Minuten später sah der zuvor eingewechselte Teuchert die rote Karte, weil er im Liegen nachgetreten hatte (jedoch den Gegenspieler keinesfalls bösartig traf). Beide Entscheidungen des Schiedsrichters waren äußerst hart, und so war es nicht verwunderlich, dass sich ein Regen aus Bierbechern im Innenraum ergoss.

 

Die letzten Minuten hatten richtig Pfeffer drin. Und würde man ein Drehbuch schreiben, hätte man in der 90.+4. Minuten den Berliner Ausgleichstreffer platziert. Diesen gab es jedoch nicht zu sehen. Feyenoord behielt am Ende mit 2:1 die Oberhand, und die Fans feierten frenetisch mit den Spielern, die minutenlang vor der Kurve zwischen den behelmten Polizisten abgingen wie Schmidts Katze. Union hat weiterhin drei Punkte Rückstand auf Rang zwei, noch ist theoretisch alles machbar. Und icke? Noch nen Bier am Hackeschen Markt und nen bissel kieken gehen? Nee, das Wetter war dann doch zu arg. Ab nach heeme, hoch die Beene! Jute Nacht und schönen Gruß nach Holland!

Fotos: Marco Bertram

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> zur turus-Fotostrecke: 1. FC Union Berlin vs. Feyenoord Rotterdam

Artikel wurde veröffentlicht am
05 November 2021
Spielergebnis:
1:2
Zuschauerzahl:
30.000
Gästefans
5100

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Edamer Maasdamer Rotterdamer
Jut jeschrieben Marco!
WU
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