Wecker auf halb vier gestellt, die passenden Klamotten bereitgelegt und sich für fünf Stunden aufs Ohr gelegt. Hamburg rief! Noch bevor der Wecker schellte, starrten die Augen in die Dunkelheit. Hamburg! St. Pauli! Auf ins Ungewisse! Mit dem gleichen guten Kumpel, mit dem ich bereits im Frühjahr 2012 zur Rostocker Fandemo nach Hamburg-Altona fuhr, setzte ich mich am Berliner Hauptbahnhof kurz vor sechs in den ICE. Klassisch in einem Abteil legten wir die Beine hoch und gingen die etwaigen Möglichkeiten durch. Wir hatten keine Ahnung, wie der Tag verlaufen würde. Ein Gästemob vor dem Stadion? Ein totales Chaos auf den Straßen? Stress mit den Einheimischen? Aufgegriffen werden von braun-weiß-roten Spähern? Gott bewahre!
FC St. Pauli vs. F.C. Hansa Rostock: Ein langer Tag auf den Straßen Hamburgs
HotSelten war so wenig in den sozialen Netzwerken zu lesen wie vor dem gestrigen Auswärtsspiel beim FC St. Pauli. Nur mit wenigen Fans gab es einen direkten knappen Austausch. Fakt ist, dass viele auf eigene Faust nach Hamburg reisen wollten. Einzeln, zu zweit, zu dritt. Neutral gekleidet. Als unterste Schicht ein Hansa-Shirt. Darüber klassisches Schwarz und Grau. Auch wir setzten auf 0815-(Wander)Schuhe und schwarze Jacken und hatten keinerlei Gepäck dabei. Während wir im Morgengrauen durch Stendal *Kopfkino an* und Uelzen fuhren, öffneten wir ein erstes kleines Craft-Bier, das mit seiner arg herben Note geschmacklich reinhaute wie eine Knacker zum Vanillepudding.
Erwartungsgemäß war morgens um halb neun am Hamburger Hauptbahnhof noch alles ruhig, und es blieb reichlich Zeit für einen ausgiebigen Stadtspaziergang. Der Wettergott meinte es gut, und nach zwei Tagen Sturm strahlte nun wieder die Sonne. Vorbei an den Deichtorhallen ging es zur Speicherstadt, wo wir auf dem Holländischen Brook und dem St. Annenufer am frühen Vormittag die einzigen waren. Keine Menschenseele weit und breit. Schals raus - Erinnerungsfotos vor der beeindruckenden Kulisse gemacht.
Speicherstadt, Elbphilharmonie, Portugiesenviertel, Landungsbrücken, Fischmarkt - das volle Touristenprogramm im Sonnenschein. Die ersten Barkassen drehten die Runden auf der Norderelbe, für schmale Taler konnten Mett- und Rühreierbrötchen geholt werden. An einigen Stellen postiert waren etliche Einsatzkräfte der Hamburger Polizei. Nicht, dass es zu einem spontanen blau-weiß-roten Mob-Foto vor der festgemachten St.-Pauli-Barkasse kommen würde. Schnieke wäre auch ein prall besetzter Dampfer gewesen wie einst beim Auswärtsspiel in Düsseldorf im Frühjahr 2010.
Ein Blick auf die Davidtreppe. Die blauen Stufen wurden bereits wieder braun übermalt. Schlichtweg hässlich rostbraun. Das eine oder andere blaue Graffiti war indes noch sichtbar. So zum Beispiel über einem Werbeplakat von Marteria. Passt! Ein Stück weiter kiekte einer janz blöde an einer schmalen Gasse. Sonnenbrille aufgesetzt, das Mountainbike abgestellt. Da wir auf blöde Blicke und dumme Fragen keinen Bock hatten, wählten wir kurzerhand eine andere Straße in Richtung Stadion.
Wir überquerten die Reeperbahn und stießen nun ins Epizentrum vor. Von einem touristischen Spaziergang hatte das Ganze nun nix mehr. Je mehr St. Pauli-Fans auftauchten, desto unwohler wurde das Gefühl. Vor den Kneipen und Kiosken wurde das Bier mit dem Herz drauf konsumiert, ein Stück weiter gönnten wir uns indes zwei kleine bauchige Flaschen, die am „dollsten knallen“ und ganz „edel“ sind. Ich musste an die Rostocker Demo 2012 denken. An die Unterführung auf der Straße Pepermölenbeck. An die tätowierte Frau, die am Fenster zwei Stinkefinger zeigte und ACDC laufen ließ. „Stell Dir mal vor, du wachst auf und solch eine Olle liegt neben Dir im Bett …“, meinte damals ein Polizist zum anderen. Tja, lang, lang ist’s her. Und auch damals konnten / durften wir nicht das Spiel im Stadion sehen. Damals ein polizeiliches Kartenverbot - heute eine 2G-Regel, die zum Verzicht der Karten führte. Während im Saarland bei Freiluftveranstaltungen die Sache inzwischen locker angegangen wird, werden in Hamburg die Zügel noch stramm gehalten.
Aber jut. Nicht labern. Weiter ging’s gen Millerntor. Fast hinein in einen braun-rot-weißen Mob, der sich am Rande eines Parks warm sang. Dolle Wurst. Rückwärtsgang eingelegt und eine andere Straße genommen. „Lass mal kurz kieken!“, meinte mein Kumpel, der auf Betriebstemperatur kam. Auf die Ankunft der heimischen Ultras am Stadion konnte ich jedoch getrost verzichten. Ich stellte mich an einen Hoteleingang und kiekte lieber ein bisschen auf das Handy. Wenig später liefen wir entlang des Heiligengeistfeldes zur anderen Seite des Stadions - und siehe an, der Puls ging wieder deutlich runter. Zwar spazierten dort auch genügend St. Pauli-Fans herum, doch fühlte es sich alles ein stückweit entspannter an. Vor dem Bunker und dem U-Bahnhof Feldstraße war reichlich Polizei postiert, von Hansa-Fans war weit und breit nichts zu sehen. Wir drehten ein paar Runden und gönnten uns an der Ecke Sternstraße eine mit Pizza und Dönerfleisch belegte Pizza, die fast meinen Magen platzen ließ.
Ein Blick auf die Uhr: 15 Minuten noch bis zum Anpfiff. Wir liefen vor bis zum eigentlichen Gästeeingang, wo zwei Kamerateams auf das mögliche Ankommen etwaiger Hansa-Fans warteten. Allerdings würde dort am eingezäunten Zugang sich kein Rostocker sehen lassen. Drinnen läutete die berühmte Glocke und die Stimmung erreichte ihren ersten Siedepunkt. Was für ein mieses Gefühl, einfach draußen zu stehen! Zwischen die Tribünen hindurch konnte ein Blick auf die Heimfans erhascht werden. Wie zu erwarten war, gab es eine Choreo und ordentlich Pyro. Der markante Geruch der abgebrannten Feuerwerkskörper strömte schon bald in die Nase.
Wohin nun? Auf dem Neuen Kamp und der Budapester Straße kam plötzlich Bewegung auf. Zahlreiche Fahrzeuge fuhren mit Blaulicht in Richtung Haupttribüne und Südtribüne. Und siehe da, mit einem Mal rannte eine kleine Gruppe rüber zum Eingang der Haupttribüne, konnte dort aber von der Polizei gestellt werden. Vor dem Bäderland St. Pauli und dem Harald-Stender-Platz wurde nun richtig aufgefahren. Räumfahrzeuge, Wasserwerfer und sogar der THW waren nun am Start. Polizei zu Fuß und hoch zu Ross riegelten die Kreuzungen ab.
Ein Stück weiter konnte an der Ecke Detlev-Bremer-Straße / Clemens-Schultz-Straße eine große Menschenansammlung gesichtet werden. Rund 200 Hansa-Fans wurden im dortigen Bereich eingekesselt und festgehalten. Wie wenig später auf online kursierenden Videos bestaunt werden konnte, waren sie als Truppe vom Bahnhof Reeperbahn aus durch den Kiez in Richtung Millerntor-Stadion geeilt. Der Großteil wurde zwischen Clemens-Schultz-Straße und Simon-von-Utrecht-Straße festgehalten, weitere 70 Hansa-Fans wurden ein Stück weiter vor einem Restaurant gekesselt. Wie später zu lesen war, hatten sich sogar noch mehr Rostocker auf den Weg gemacht, wurden jedoch von der Polizei aufgegriffen und zurückgeschickt. Zum einen eine rund 60-köpfige Gruppe, die am Hamburger Hauptbahnhof eintraf, zum anderen eine ähnlich große Truppe, die in Thesdorf (Kreis Pinneberg) von der Polizei festgesetzt und abtransportiert wurde.
An der Ecke Detlev-Bremer-Straße / Clemens-Schultz-Straße hieß es indes erst einmal warten. Vor der dortigen Kneipe schauten ein paar Leute das Spiel auf einem Fernseher. Der FC St. Pauli führte bereits mit 2:0. Ein Gefühl der Ohnmacht machte sich breit. Plötzlich hieß es 3:0, doch wurde der Treffer aufgrund der Abseitsstellung nicht gegeben. Verdammter Mist. Wie damals im April 2012 drohte Hansa Rostock beim Erzrivalen sportlich unter zu gehen. Ich studierte kurz den Ticker und durfte erfahren, dass der FCH bis zum ersten Gegentreffer sogar recht gut in die Partie kam und die Möglichkeit der Führung hatte. Was ich nun jedoch mit einem Auge zu sehen bekam, war wirklich dünn. Das Erschreckendste: Das fast körperlose Spiel. Meine Güte, wenn man schon nicht spielerisch Paroli bieten kann - dann muss es doch wenigstens auf die Socken geben. Hart an den Mann. Das Publikum zum Kochen bringen. Eventuell den Gegner zu einer Tätlichkeit verleiten lassen. Ey, wir sprechen hier von St. Pauli gegen Rostock! Da darf auch mal zur klassischen Grätsche angesetzt werden.
Aber nein. Es war einfach nur traurig. In der 61. Minute fiel das 3:0 für den FC St. Pauli, und das Spiel konnte getrost abgehakt werden. Kurz nach der Pause der Rostocker Anschlusstreffer - das wäre es gewesen. Szenario in der Detlev-Bremer-Straße. Und dann gleich hinterher der Ausgleich. Doch Pustekuchen. Die Polizei tätigte indes ihre Durchsage. In Kürze würden die Hansa-Fans zum Bahnhof Reeperbahn geleitet werden. Platzverweis bis 22 Uhr. Die Polizei wollte die Truppe an den Stadtrand bringen. Bei Gegenwehr wurde der Einsatz von Wasserwerfer, Schlagstock und Reizgas angedroht.
Gesagt, getan. Mit beachtlicher Polizeibegleitung wurden die Hansa-Fans gen Reeperbahn gebracht. Gesang und Schlachtrufe wurden angestimmt. In der Ferne hatte St. Pauli indes das 4:0 gemacht. „Scheiß St. Pauli!“, hallte es über die Reeperbahn. Mit der Trillerpfeife wurde wieder das klassische „Sieg!!!“ eingeleitet. Kulturschock bei den spazierenden Touristen. Hass in den Augen bei den rumstehenden St. Pauli-Fans. Während mein Kumpel die Fans noch bis zum Bahnsteig begleitete, gönnte ich mir oben noch eine gelbe bauchige Pulle mit edlem Gerstensaft. Erschöpfung und Enttäuschung. Doch das „Lebbe geht weider“. Paar Groschen ins Phrasenschwein.
Mund abgewischt und wieder runter zu den Landungsbrücken. Die Stadt als solches hat schon was. Ein Blick auf das Wasser. Die Sonnenstrahlen wärmten das Gesicht. Ein Blick auf das Handy: Ein befreundeter HSVer lud zum Trost-Bierchen in der Ditmar-Koel-Straße ein. Großes Hallo und neugierige Blicke von den anderen Gästen. Einer dachte, der inzwischen leicht aus der Jackentasche lugende Schal sei ein HSV-Schal und klopfte mir auf die Schulter. Das wird schon noch mit dem Aufstieg nach vier, fünf Jahren. Ich ließ ihn im Glauben.
Als er jedoch hörte, dass ich aus Berlin käme, fiel er aus allen Wolken und fragte, wo mein Berliner Dialekt sei. „Willste hör’n? Kannste kriegen. Wat kiekste so blöde? Is dir wat? Na watt denn?“ Gelächter und große Freude. „Nee, ehrlich ma?! Will St. Pauli wirklich uffsteigen? Jegen Augsburg, Hoffenheim und RB spielen? Macht ma. Mir doch mumpe. Tja, un nu? Ick mach die Biege. Tschö mit ö!“
Die Sonne näherte sich dem Horizont und am Ufer der Elbe ergab sich ein sensationeller Anblick. Immerhin etwas an einem unter dem Strich sehr traurigen Tag. Zu Fuß ging es zurück zum Hauptbahnhof. Auf dem Weg dorthin bestaunten wir die neuen modernen Gebäude am Grasbrookhafen. Später im ICE nach Berlin wurde erschöpft am Tagesabschlussbierchen genuckelt und über alte Zeiten nachgedacht. Kinder, wie die Zeit vergeht…
Anmerkung: Alte Zeiten, große Schlachten. Über zurückliegende Auftritte beim FC St. Pauli - so zum Beispiel über den 4:2-Sieg im August 1993 und den arg erhitzten Auftritt im März 2009 gibt es Berichte in meinem 512-seitigen Wälzer „Kaperfahrten - Mit der Kogge durch stürmische See“ zu lesen. Weitere Infos und Bestellmöglichkeit gibt es auf meiner privaten Webseite.
Fotos: Marco Bertram, Tobi, Klischi (Archivbilder), Aumi (Archivbilder)
Ligen
Benutzer-Kommentare
Ich bin selbst eine "Zecke", aber dein Gejammer ist einfach nur peinlich!
Braun ist nur der St Pauli Mist und deren rostbraune Davidtreppe + der Streifen im Schlüpper.
Gibt genug Zecken die diesen Ranzverein einfach nur hassen. Ich gehöre dazu!