Dynamo Dresden und die Nahtoderfahrungen: Lizenzentzüge, Herzschlagspiele und Aufstiege

Dynamo Dresden und die Nahtoderfahrungen: Lizenzentzüge, Herzschlagspiele und Aufstiege

„Sind Sie im Kopp net normal, oder was? Unverschämtheit, mir solch eine Frage zu stellen. Ich hau Ihnen in die Fresse! Mehr sind Sie net wert. … So was hab ich noch nicht erlebt, so was Dreckiges. Schicken Sie mir den Chefredakteur …“ Lang, lang ist’s her, als Willi Konrad vor laufender Kamera durchdrehte und den Reporter verbal aufs Übelste anging. Der Grund? Es wurde gefragt, ob Gelder auf ein Schweizer Konto überwiesen wurden. Der damalige Dynamo-Präsident Rolf-Jürgen Otto (Bauunternehmer aus Hessen) hatte Willi Konrad, der einst zu Zeiten des Bundesligaskandals 1970/71 bei Kickers Offenbach tätig war, beim 1. FC Dynamo Dresden als Technischen Direktor installiert. Holla die Waldfeh! Rückblickend kann man nur den Kopf schütteln, wer damals bei Dynamo Dresden das Sagen hatte. Nach dem sportlichen Abstieg aus der 1. Bundesliga am Ende der Saison 1994/95 brach das gesamte Kartenhaus zusammen. Der DFB verweigerte aufgrund des hohen Schuldenstandes - zudem war Dynamo in Sachen Lizenz-Erschleichen bereits vorbelastet  - die Lizenz für die 2. Bundesliga, und der Verein fand sich plötzlich in der Regionalliga Nordost wieder. Der Verein glich einem Trümmerhaufen, es sollte viele Jahre dauern, bis sich dieser von diesem Kollaps erholen konnte.

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Dynamo Dresden war nicht der einzige Verein, der es in der Wende- und Nachwendezeit mit windigen Personen zu tun hatte, doch konnte im Gegensatz zum 1. FC Magdeburg oder dem BFC Dynamo (damals FC Berlin) gemeinsam mit dem F.C. Hansa Rostock in der ersten gesamtdeutschen Erstligasaison gestartet werden. Vier Jahre lang konnte sich Dynamo Dresden im Fußballoberhaus halten, dann mussten die Scherben zusammengekehrt und in der Drittklassigkeit ein kompletter Neubeginn gestartet werden. „Wann ich hier als Präsident aufhöre, das bestimme ich und kein anderer!“, war einst in einer seiner Wutreden zu hören. Schwitzend keuchte Rolf-Jürgen Otto auf der Pressekonferenz: „Mir nimmt man das Zepter in dieser Situation nicht mehr aus der Hand…“ Wenig später kam es zur Anklage und zur Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe wegen der Veruntreuung von etwa drei Millionen D-Mark. 

Bei einem der ersten Auftritte des 1. FC Dynamo Dresden in der Regionalliga Nordost war ich vor Ort. Am dritten Spieltag (13. August 1995) gab Dynamo seine Visitenkarte beim FC Energie Cottbus ab, und insgesamt 6.214 Zuschauer füllten die Ränge des Stadions der Freundschaft, dessen Ränge größtenteils noch relativ flach und unüberdacht waren. Über 3.000 Dynamo-Fans füllten an jenem Sommertag die Gästekurve und setzen somit ein klares Zeichen: Egal, was kommen mag. Dynamo wird niemals untergehen! Ich stand damals mit einem Kumpel aus Frankfurt Oder am von neckisch drein schauenden Polizisten bewachten Bauzaun, der die Gegengerade von der Gästekurve abtrennte, und hoffte auf ein Törchen der Schwarz-Gelben. Ich wollte diese Meute jubeln sehen. Es war einfach zu derb, wie der Verein runtergewirtschaftet und fast komplett vor die Wand gefahren wurde. Und das mit Tempo 180. Ich spürte die innerliche Wut, wenn ich an die TV-Auftritte von Herrn Otto dachte, und mir kamen die Tränen, wenn ich mir damals die ostdeutsche Fußballlandschaft anschaute. Allein der F.C. Hansa Rostock hielt nach der grandiosen Wiederkehr in die 1. Bundesliga ab 1995 wieder das Fähnchen hoch. 

In der Regionalliga-Saison 1995/96 wurde Dynamo Dresden am Ende Tabellenvierter, und die Zuschauerschnitt betrug nur noch 5.221. Im Vergleich zur Vorsaison hatten im Schnitt 11.500 Zuschauer dem Verein den Rücken zugekehrt. Dynamo fehlten schlichtweg die finanziellen Mittel, um ganz oben angreifen zu können, und der Schnitt verringerte sich auf 3.309 in der Saison 1998/99. Da die folgende Spielzeit 1999/200 aufgrund der Regionalliga-Reform richtungsweisend war, verdoppelte sich der Schnitt auf immerhin 6.173. Das Bittere: Es hatte einfach nicht gereicht. Als Tabellenachter musste Dynamo runter in die NOFV-Oberliga Süd. 

Während der Dresdner SC als Vizemeister hinter dem 1. FC Union Berlin sich für die neue Regionalliga Nord qualifizieren konnte, war Dynamo Dresden plötzlich nur noch viertklassig und hatte es unter anderen mit dem FC Anhalt Dessau, dem FV Dresden-Nord und dem FCH Hoyerswerda zu tun. In Elbflorenz drohte ein Machtwechsel, zumal sich die Stadtoberen und die Wirtschaft am „sauberen“ Dresdner SC, der keine angeblichen DDR-Altlasten mit sich trug, erfreuten und diesen rasch zum neuen Aushängeschild erklärten. In der Viertligasaison 2000/01 wurde Dynamo Dresden nur Tabellenvierter, der Zuschauerschnitt betrug 3.833. 

Wieder dynamischer Schwung kam in der Spielzeit 2001/02 rein. Viele ältere Dynamo-Fans sprechen von einer der genialsten Spielzeiten überhaupt. Dynamo war auf Meisterkurs, und auswärts wurde bei Sachsen Leipzig, Eintracht Sondershausen, Carl Zeiss Jena und beim VfB Leipzig ordentlich Alarm gemacht. Allerdings wurde das Ganze kein sportlicher Alleingang, es musste gezittert werden bis zum Schluss. Der VFC Plauen blieb auf Tuchfühlung, und das letzte Saisonspiel beim FSV Hoyerswerda musste unbedingt gewonnen werden. Ausgewichen werden musste in die Spielstätte des Eisenhüttenstädter FC Stahl. Satte 6.250 Zuschauer strömten ins Stadion und brachten die Ränge zum Beben. Nach einer Stunde stand es noch 0:0, und das große Zittern begann. In der 70. Minute erlöste schließlich Thomas Neubert die Fans. Der schwarz-gelbe Mob tobte vor Freude. Dann jedoch der Schock. Hoyerswerda konnte per Kopfball ausgleichen. Die Schlussphase war wie aus dem Drehbuch. Hoyerswerda haute den Ball über das Gehäuse, auf der Gegenseite traf Denis Koslov nur den Pfosten. Der Ball blieb im Spiel und Koslov konnte nachsetzen. 2:1 für Dynamo! Gänsehaut! Kollektives Ausrasten. Den Torjubel konnte man wohl auch in Frankfurt Oder und in Cottbus vernehmen. 

Dynamo Dresden war Staffelmeister und musste in der Aufstiegsrunde gegen die Amateure von Hertha BSC ran. Das Hinspiel wurde im gut gefüllten Rudolf-Harbig-Stadion mit 1:0 gewonnen, zum Rückspiel im Berliner Jahn-Sportpark reisten mal eben rund 10.000 Dynamo-Fans an. Die Einlasskontrollen waren eine einzige Katastrophe, und meine damalige kroatische Freundin bekam es zurecht mit der Angst zu tun. Nachdem sie kurz zuvor auf Madeira bei Maritimo Funchal das allererste Mal mit mir beim Fußball war, konnte ich sie dazu überreden, mich zu jener denkwürdigen Partie zu begleiten. Am Einlass hatte ich es schon fast bereut. Sie musste an den Ordnern vorbei über die drängelnden Massen gehoben werden. Die Dynamo-Fans ließen mich vor, damit sie mir nicht verloren ging. Respekt! 

Die Partie an jenem Junitag 2002 wurde ein Hammer. In der gegenüberliegenden Kurve rumorte es kurzzeitig zwischen anwesenden BFCern und Dresdnern, während der Partie gab es auf den Rängen kein Halten mehr. Es wurde ein 0:0 auf Biegen und Brechen, am Ende brachen sämtliche Dämme und der Rasen wurde von den Menschenmassen geflutet. Während ein MDR-Reporter auf dem Rasen live vor der Kamera Bericht erstattete, trat im Hintergrund ein Dynamo-Fan einem rennenden Polizisten die Beine weg. Dynamo-Torwart Ignjac Kresic erklärte indes vor laufender Kamera, dass nun fünf Tage durchgesoffen werde. Und zwar bis zum Umfallen. Er mache das einfach, schließlich habe er sich das verdient.

Dynamo Dresden war zumindest wieder dabei in der Regionalliga, und nur zwei Jahre später konnte der nächste Aufstieg gefeiert werden. 2004/05 war Dynamo in der 2. Bundesliga mit von der Partie, und es gab ein fröhliches Wiedersehen mit Eintracht Frankfurt, Energie Cottbus und dem 1. FC Köln. Mit einem Mal war Dynamo wieder hip und der Zuschauerschnitt erhöhte sich auf stolze 16.316. Dynamo war auch auf dem Papier wieder die klare Nummer eins. Am Ende der Regionalliga-Saison 2002/03, in der es bei den Derbys derb gekracht hatte und sich sämtliche Emotionen und all die Wut entladen hatten, musste der Dresdner SC als Tabellenletzter absteigen. In der Zweitligasaison 2005/06 kam es auch zum Wiedersehen mit dem F.C. Hansa Rostock, der nach zehn Jahren aus der 1. Bundesliga abgestiegen war. Am Ende jener Saison war Hansa allerdings im Mittelfeld zu finden und Dynamo Dresden auf Rang 15. Die berühmte 40-Punkte-Regel war außer Kraft gesetzt, mit 41 (!) Punkten musste Dynamo eine Etage tiefer.

Nach zwei Jahren Regionalliga ging es 2008 schließlich als Tabellenachter hoch in die neu geschaffene 3. Liga. Einen weiteren Absturz in den Amateurfußball sollte es in der Folgezeit zwar nicht mehr geben, doch wurde es keinesfalls langweilig. 2011 wurde aus dem „1. FC“ wieder eine „SG“, und fortan hatte auch nur noch das weinrote Wappen Bestand (von 1990 bis 2002 war es grün, bis 2011 gab es eine parallele grüne Version), und nachdem 2011 gemeinsam mit Hansa Rostock der Sprung in die 2. Bundesliga gepackt wurde, erhöhte sich der Zuschauerschnitt im neuen Rudolf-Harbig-Stadion mal eben auf 24.848. Im Geiste hängen blieben sicherlich die Bilder vom Rückspiel der Relegation gegen den VfL Osnabrück. An der Bremer Brücke (Hinspiel 1:1) ging Osnabrück mit 1:0 in Führung, nach einer Stunde konnte Christian Fiel zum 1:1 ausgleichen. In der Verlängerung brachten Schahin und Koch den Gästeblock zum Brodeln. Eine 0815-Party wird es bei Dynamo Dresden wohl niemals geben. Die Fackeln brannten lichterloh, die Fans enterten den Rasen, es kam zu Konflikten mit den behelmten polizeilichen Einsatzkräften.

Nach drei Jahren Zweitklassigkeit ging es wieder runter in die 3. Liga, 2016 wurde als souveräner Tabellenführer die Rückkehr in die 2. Bundesliga gefeiert. Nach weiteren vier Jahren Zweitklassigkeit ging es am Ende der Spielzeit 2019/20 wieder runter in Liga 3. Weitgehend ohne Zuschauer auf den Rängen wurde in der laufenden Saison der Wiederaufstieg in Angriff genommen. Nachdem es lange Zeit gut aussah, drohte kürzlich die Corona-Zwangspause die Mannschaft aus dem Tritt zu bringen. Cheftrainer Markus Kauczinski wurde nach der 0:3-Klatsche gegen den Halleschen FC am 25. April 2021 mit sofortiger Wirkung beurlaubt, Alexander Schmidt sollte es nun richten. Und er richtete es. Die Nachholspiele gegen den MSV Duisburg und beim KFC Uerdingen 05 wurden mit 1:0 und 2:0 gewonnen. Nach dem torlosen Remis beim SC Verl folgte ein 2:0-Sieg gegen den FC Viktoria Köln. Showdown gegen Türkgücü am vergangenen Sonntag. Ein Sieg - und der ersehnte Aufstieg in die 2. Bundesliga ist vorzeitig in trockenen Tüchern. 

Bereits Tage zuvor ließ man verlauten, dass es keine Feierlichkeiten am Stadion geben würde. Das Terrain wurde mit Zäunen abgeriegelt, am Spieltag selbst standen Wasserwerfer und Räumpanzer bereit. Es war allzu klar, dass dies nicht gut ausgehen würde. Ich möchte mich hierbei gar nicht zu sehr vertiefen, doch wäre es wohl besser gewesen, das Terrain nicht abzusperren und sich als Polizei nur für den Fall der Fälle im Hintergrund zu halten. Menschenansammlungen waren so oder so nicht zu verhindern. Ob im Großen Garten oder auf der Lennéstraße vor dem Stadion? Wo lag nun der Unterschied? Wie gesagt, wie sprechen vom eigenen Stadion und von einer Aufstiegsfeier! Von einer möglichen Abrissparty durfte wohl nicht ausgegangen werden.

Was nun bleibt, sind die Bilder von der Krawalle, von den im Einsatz befindlichen Wasserwerfern, vom Chaos auf der Straße. War es das wert? In Zukunft wird wohl der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer weiterhin davon sprechen, dass ganz Sachsen den Jungs von RasenBallsport Leipzig die Daumen drückt. Die SG Dynamo Dresden wird in den Augen vieler ein ostdeutsches Schmuddelkind bleiben. Aber was soll’s. Die Wogen werden sich auch dieses Mal wieder glätten. Und dann darf sich auf die wohl genialste Zweitligasaison aller Zeiten gefreut werden.

Und was die SGD betrifft, so schrieb Autor Uwe Leuthold (bekannt vom „Spuckelch“) in der SG Dynamo Fußballfibel einst ein paar passenden Worte: „Wir hatten mit Dynamo mehrere Nahtoderfahrungen. Sei es durch Lizenzentzüge, Fastpleiten oder Herzschlagspiele. Wir waren Zeugen von Grabenkämpfen im Verein. Uns vereint der Hass auf die Fußballmafia. Wir sahen Dynamo in der 4. Liga versinken. Wir erlebten die Berichterstattung nach den Ausschreitungen gegen den DSC, gegen Leipzig, in Dortmund, Karlsruhe, Kaiserslautern, Bielefeld, Rostock, Hannover. Wir haben zu all diesen Geschichten, Erzählungen, Erinnerungen aber ganz unterschiedliche Ansichten, waren dabei, haben mitgemacht oder nur davon gehört, wir beziehen dazu Standpunkte und ziehen daraus unterschiedliche Konsequenzen.“

Anmerkung: Über die Partien von Dynamo Dresden gegen Kaiserslautern (1995), in Cottbus (1995) und bei Hertha BSC II (2002) gibt es im Buch „Zwischen den Welten“ ausführliche Kapitel zu lesen. Über ein paar Begegnungen mit dem F.C. Hansa Rostock (1988, 2006, 2015 und 2016) steht im aktuellen Buch „Kaperfahrten - Mit der Kogge durch stürmische See“ einiges geschrieben. Infos zu den Büchern gibt es auf: www.marco-bertram.de

Fotos: Marco Bertram, RocciPix, Veit Pätzug, Michael

> zur turus-Fotostrecke: SG Dynamo Dresden

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Artikel wurde veröffentlicht am
18 Mai 2021

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