Ein (blau-weiß-roter) Fußball-Spaziergang durch Eisenhüttenstadt

Ein (blau-weiß-roter) Fußball-Spaziergang durch Eisenhüttenstadt

Immer wieder pendelte Edgar Anfang und Mitte der 1950er mit seinem mausgrauen IFA F9 von Ost-Berlin nach Stalinstadt, um dort als Bauleiter beim Aufbau der sozialistischen Planstadt tatkräftig mitzuwirken. So wie einst im polnischen Stalinogród (Nowa Huta) und im ungarischen Sztálinváros (Dunaújváros) sollte Stalinstadt ein funkelndes Schmuckstück des sozialistischen Realismus werden, allerdings wurde schon bald aus finanziellen Gründen umgedacht. Plattenbau statt klassizistischer Bauten. Parallel hochgezogen wurde das Eisenhüttenkombinat Ost (EKO). Wer dieser Edgar war? Er ist einer der Protagonisten in einem in Arbeit befindlichen Roman, der sich dem Alltag in der DDR und der Geschichte des ASK / FC Vorwärts Berlin / Frankfurt widmet. Um im Geiste die Schauplätze besser vor Augen zu haben, werden diese aktuell aufgesucht und in aller Ruhe zu Fuß erkundet. Berlin Prenzlauer Berg, Alt-Rahnsdorf, Frankfurt Oder, Groß Köris, Chorin, Prenzlau und Eisenhüttenstadt, das bis 1961 Stalinstadt hieß und dann mit Schönfließ und der bis dato eigenständigen Stadt Fürstenberg zu Eisenhüttenstadt fusionierte. 

Also hinein in den Regionalexpress und einfach geschaut, was der Tag so bringen wird. Dass es interessant werden würde, war mir klar, hatte ich in jüngerer Vergangenheit die beiden Derbys zwischen dem EFC Stahl und dem FSV Dynamo Eisenhüttenstadt besucht und ein wenig die Stadt beschnuppert. Dass es jedoch dermaßen prall wird, hätte ich am gestrigen Vormittag nicht geahnt. Am Ende des langen Tages qualmten die Socken und sechs Bierchen waren intus. Aber der Reihe nach. Nach Ankunft ging es in den alten Stadtkern von Fürstenberg, der an der Einmündung des Oder-Spree-Kanals in die Oder liegt. Dank der Corona-Krise herrschte auf dem Marktplatz und in den alten Gassen tote Hose, das gewünschte Käffchen auf die Hand verschob ich erst einmal.

Ich pilgerte die Gubener Straße runter und wählte die Straße der Republik für den Marsch zum anderen Stadtteil, der einst als Stalinstadt aus dem Nichts auf dem freien Feld hochgezogen wurde. Angelockt von ein paar leeren Plattenbauten streifte ich quer über eine Wiese, inspizierte die Abriss- und Umbauarbeiten und stieß wenig später auf zwei leerstehende Kaufhallen. Ich schätze mal, dass die eine HO und die andere Konsum war. In der einen gab es vor Weihnachten die gefrorenen Enten, in der anderen waren Apfelsinen erhältlich. So hörte man. Alter Schwede, ich ließ mein Smartphone mal gleich permanent in der Hand. Panorama-Funktion an - und fleißig geknipst.

Die Zeit schien stehengeblieben zu sein. Allein die Treppe hoch zur überaus breiten Straße der Republik! Richtig Osten. Und zwar so sehr, dass ich mich 1.000 oder auch 2.000 in Richtung Osten versetzt fühlte. Als geborenes Ost-Kind (Baujahr 1973) und Vielreisender habe ich in all den Jahren bereits sehr viel gesehen, doch stellte Eisenhüttenstadt am gestrigen Tag für mich eine emotionale Herausforderung dar. Ich war allein unterwegs und hatte ausreichend Zeit mitgebracht. Ich ließ mich treiben, und ich schwankte zwischen kindlicher Begeisterung und teils aufkommender Beklemmung.

Weiter ging es auf dem "Republik-Prospekt" (russisch: breite Straße / Magistrale) über die zahlreichen Gleise, als ich in der Ferne ein altes Hochhaus erblickte und es mit einem Mal den viel zitierten Aha-Effekt gab. Hier also befindet sich der leer stehende Plattenbau, an dem in großen Lettern das „Lang lebe Hansa“ prangt. Untermalt mit den leicht verblichenen Farben Blau, Weiß und Rot. Geile Sache! Und es wurde noch besser. Ein Haus weiter lud ein blau-weiß-rot bemaltes Trafohäuschen zur Fotosession ein, und auch auf der Rückseite des folgenden leer stehenden Neubauklotzes gab es ein fettes „Hansa Rostock“ zu sehen. Und siehe da, kaum achtete ich verstärkt auf Laternenmasten und Stromästen und Geländer, so sprangen mir immer wieder die FCH-Aufkleber ins Auge. 

Vorbei an der Inselhalle lief ich vor bis zur Lindenallee, schaute am Rathaus vorbei, fotografierte innen das große Wandmosaik und holte mir wenig später bei einem Bäcker ganz klassisch eine Bocki mit Schrippe für 1,85. Ich setzte mich an die kleinen Springbrunnen und betrachte das Ensemble. Am Straßenende erhoben sich die Hochöfen von EKO, linke Hand durfte ich ein weiteres sozialistisches Wandmosaik bewundern. Hm ja, ich fühlte mich nach Magnitogorsk, aber auch nach Irkutsk versetzt. Eisenhüttenstadt hat von allem etwas. Stalinbauten, Plattenbauten und solche schmucke Gebäude wie das Friedrich-Wolf-Theater.

Und dazwischen: Immer wieder Hansa Rostock! In der Innenstadt wurden sogar Poster plakatiert, die an den Meistertitel und den Pokalsieg 1991 erinnern. Stromästen wurden blau-weiß-rot angemalt / besprayt, als sei es dort das Normalste der Welt, und als i-Punkt wurden sorgsam die sehenswerten Poster angebracht. Starkes Ding - die abgedruckten Motive vom alten Ostseestadion sind ein echter Hingucker. 

In der damaligen Saison 1990/91, die als DDR-Oberliga begann und als NOFV-Oberliga (nicht zu verwechseln mit der jetzigen fünften Liga) endete, spielte neben dem F.C. Hansa Rostock auch der Eisenhüttenstädter FC Stahl (zuvor BSG Stahl Eisenhüttenstadt). Nachdem bereits einmal in der Saison 1969/70 DDR-Oberliga-Luft geschnuppert wurde (der Skandal 1970 beendete das Abenteuer jäh), packten es die Eisenhüttenstädter in der Endphase der DDR noch einmal zwei Spielzeiten ganz oben mit dabei zu sein. Für die Qualifikation für die 2. Bundesliga reichte es zwar 1990/91 nicht, doch immerhin wurde 1991 das Pokalfinale erreicht, in welchem Hansa Rostock der Endspielgegner war. Zwar wurde im Berliner Jahn-Sportpark mit 0:1 verloren, doch Dank des Rostocker Meistertitels durfte der EFC Stahl 1991/92 im Europapokal der Pokalsieger antreten. Gegner war Galatasaray Istanbul.

Das Hinspiel endete am 18. September 1991 mit 1:2, das Rückspiel in Istanbul ging mit 0:3 verloren. Den Führungstreffer im Hinspiel, der quasi ein Tor für die Ewigkeit wurde, schoss vor 3.420 Zuschauern Frank Bartz in der 40. Minute. Diese Partie hatte ich tatsächlich vor der Mattscheibe im Gemeinschaftsraum des Ausbildungswohnheims in Leverkusen verfolgt. Ein Jahr später begutachtete ich den Eisenhüttenstädter Auftritt im DFB-Pokal bei Rot-Weiss Essen. Der EFC Stahl hatte hart geackert (2:3 n.V.), und die wenigen anwesenden EFC-Fans bekamen ein paar damals übliche Problemchen mit den RWE-Fans.

In Erinnerungen schwelgend folgte ich der Lindenallee in Richtung Werksgelände und holte mir in einem Supermarkt erst einmal zwei Kannen Bier. Das Ganze schlauchte doch ganz gehörig, und ein Schlückchen Gerstensaft verhalf mir, wieder gelassener zu werden. Ein Blick auf die Karte - hey, die Sportanlagen Waldstraße waren ja gleich um die Ecke. Hin da! Ich lief an der überaus maroden Kegelbahn-Halle vorbei und betrat das Gelände. Ein Foto vom großen Stadion, im Anschluss ließ ich das Ganze erst einmal sacken und setzte mich auf die überdachte Auswechselbank des Nebenplatzes. Eine halbe Stunde saß ich so da, trank mein zweites Bier, hörte leise Musik und blickte minutenlang auf die sandige Asche des Platzes. Wer hier wohl schon alles gekickt und sich hübsche Schürfwunden zugezogen hatte?!

Ein Kumpel, der die SG Dynamo Schwerin supportet und nun in Eisenhüttenstadt wohnt, schickte mir eine Nachricht und fragte, wie der Stand der Dinge sei. Ob ich das große Hansa-Graffiti nahe des erwähnten Hochhauses am Kanal gesehen habe. Nein. Also später noch einmal hin da. Und das Inselstadion? Das einstige Walter-Ulbricht-Stadion in Fürstenberg? Der Sportplatz Diehloer Straße? Mit einem Mal wurde ich überhäuft mit Infos und Screenshots. Ich schulterte den kleinen Rucksack und marschierte zur Sportanlage, wo bis Juni 2016 die SG Aufbau Eisenhüttenstadt gekickt hatte.

Am verrammelten Sportbüro war sogar noch das „BSG Aufbau“ zu lesen. Zwar war der Sportplatz geschlossen, doch ließen sich prima Fotos über den Zaun anfertigen. Bitter, dass der EFC Stahl und die SG Aufbau Eisenhüttenstadt seit 2016 Geschichte sind. Wieder einmal sollten die Kräfte gebündelt werden, als FC Eisenhüttenstadt wird nun in der Brandenburgliga gespielt. Ich verstehe es wirklich nicht, wie man solch traditionsreiche Namen einfach über den Jordan werfen kann.

Ein Blick auf die Uhr. Nun war mir alles egal. Ich ließ mich komplett fallen. Ich schnappte mir einen kleinen Einkaufswagen, der bereits zu DDR-Zeiten durch die Kaufhalle eierte und die zerfransten Fetzen der Kartoffelsäcke mit den Rädern aufsammelte, und ging erst einmal einkaufen. Ein cross gebratenes Schnitzel an der Fleischtheke. Zwei Flaschen Bier im Wagen. Machte einen 1a-Eindruck. Dies war mir jedoch egal. Ich haute den Fleischfetzen rein und öffnete die nächste Kanne. Beschwingt folgte ich der Saarlouiser Straße und erfreute mich an den dortigen wirklich hübsch sanierten Wohnhäusern. Am Ende der Straße stieß ich auf das Restaurant Aktivist und vergoss innerliche Tränen, weil derzeit keine Besuche in solch gemütlichen Einrichtungen möglich sind.

Mit der Flasche in der Hand lief ich weiter zur Inselhalle, wo sich direkt daneben das Inselstadion befindet. Aufgeschüttete Sandwälle und zwei einsame verrostete Tore sind das Einzige, das darauf hinweist, das dies einmal ein richtig großes Stadion für die BSG Stahl werden sollte. Die Pläne wurden verworfen, doch spielte die BSG Aufbau von 1984 bis 1986 auf dieser Anlage, da der heimische Platz in der Diehloer Straße gerade umgebaut wurde. 

Und da! Von der Seite aus kommend war das große Hansa-Graffiti nun wirklich nicht zu übersehen! An einer alten Betonmauer wurde ein riesiges FCH angebracht. Erstaunlich, dass es in Eisenhüttenstadt keine anderen Fraktionen gibt, die Paroli bieten wollen / können. Nun denn, mir soll es recht sein. Hansa-Zone Eisenhüttenstadt, vermischt mit einer beachtenswerten Prise Dynamo Schwerin. Ein paar Meter war es die Farbkombination Weiß-Blau-Rot, die mich geradezu magisch anzog. Ein russischer Spezalitätenhandel wollte von mir aufgesucht werden, und wenig später ging es mit neuem Proviant wieder zurück nach Fürstenberg, wo zwischen Oder und Oder-Spree-Kanal das einstige Walter-Ulbricht-Stadion auf mich wartete. Zwar waren die Tore komplett verschlossen, doch lockte auf der Gegengerade ein sonniges Plätzchen am Zaun zum Verweilen ein. Bei russischem Pivo und angenehmer Sonneneinstrahlung ließ ich es mir richtig gut gehen und blickte verträumt auf die alten Ränge. Dort, wo ich mich niederließ, zeugten alte, fast zugewachsene Betonstufen von einem einstigen weiteren Zugang. 

Bereits seit 1927 wird in dem aufgeschütteten Oval Fußball gespielt, zu DDR-Zeiten wurde zwischen Bezirks- und Kreisklasse gependelt, 1987 traf Motor Eisenhüttenstadt im Rahmen eines deutsch-deutschen Fußballvergleichs auf den West-Berliner Verein Norden-Nordwest. Das Spiel in Fürstenberg endete 0:0, beim Rückspiel in West-Berlin (ein Jahr später) musste man sich mit 0:7 geschlagen geben. Eine dolle Sache. Wenn es Corona wieder zulässt, ist ein Besuch eines Heimspiels des 1. FC Fürstenberg wahrlich Pflicht. Verbunden mit einem weiteren Spaziergang durch die alten Gassen Fürstenbergs und die Magistralen der einstigen Stalinstadt. Mit Schrecken musste ich jedoch später feststellen, dass sich auch die Fußballabteilung des 1. FC Fürstenberg dem FC Eisenhüttenstadt angeschlossen hatte ...

Nach dem Sonnetanken spazierte ich zum Bahnhof und setzte mich in den Zug, der mich nach Frankfurt Oder brachte. Ein Blick auf die Uhr. Wenn man schon mal hier ist, kann es doch gleich noch einmal runter an das Ufer der Oder gehen. Gesagt, getan. Ich spazierte zur Oderbrücke und setzte mich auf die Wiese vor der Havanna-Bar. Drinnen wurde hinter verschlossenen Türen fleißig gebohrt, draußen wurde noch etwas gebechert. Ich probierte mit einem Kumpel ein weiteres russisches Bier und erfreute mich an der Abendsonne, die die Oder und die in Slubice befindlichen Gebäude in ein hübsches Licht tauchte. So also gleitete ich gaaaanz entspannt in die Abendstunden und ließ später im Zug nach Berlin das Ganze noch einmal Revue passieren…

Wer die etwas trostlose fußballfreie Zeit überbrücken möchte, dem sei die 512-seitige Lektüre ans Herz gelegt: Ende 2020 kam der 512-seitige Wälzer„Kaperfahrten - Mit der Kogge durch stürmische See“aus der Druckerei. Mitgearbeitet haben an diesem Buch rund 20 Personen (Heiko Neubert, Mia B. "Chelsea", Aumi, Keili, Klischi, Anika...), anzuschauen und zu lesen gibt es Berichte, Anekdoten und Fotos aus dem Zeitraum 1988 bis 2020. Das Buch ist direkt beim Herausgeber / Autor Marco Bertram (auf Wunsch auch mit persönlicher Widmung) bestellbar:Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! 

Weitere Infos zum Buch gibt es auch auf der privaten Webseite: www.marco-bertram.de 

Fotos: Marco Bertram

> zur turus-Fotostrecke: F.C. Hansa Rostock

> zur turus-Fotostrecke: Fußball in der Region Nordost

Artikel wurde veröffentlicht am
15 April 2021

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G
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Ich hatte gut gelacht beim Lesen. Vor allem, als der Einkaufswagen zur Sprache kam. Danke, daß Dynamo Schwerin Erwähnung findet.
DS
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Mega Digga
G
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G
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ND
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G
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