15. Februar 1995: Als Mama dachte, ich habe die Iren verprügelt …

15. Februar 1995: Als Mama dachte, ich habe die Iren verprügelt …

Selten in meinem bisherigen Leben hatte ich mich dermaßen einsam gefühlt wie im Februar 1995. Ich hätte heulen können wie ein Schlosshund und verteufelte die Idee, zwei Wochen allein kreuz und quer durch Großbritannien zu reisen. Im Winter. Mit Rucksack. Im Zug. Im Vorfeld war ich dermaßen forsch, dass ich sogar Zelt und Schlafsack in den Trekkingrucksack gepackt hatte. Ich könne mich doch in den schottischen Highlands einfach am Ufer eines Sees hinpacken. Geile Idee im Winter. Schmerzfrei war ich in jedem Fall, doch das erschien mir später beim Blick aus dem Zugfenster dann doch zu abstrus. Graue, tief hängende Wolken so weit das Auge reichte. Regentropfen liefen die Scheiben hinunter, Inverness erreichte ich bei übelstem Inselwetter. Bed & Breakfast bitte! Warmes Bett und reichlich Speck und Bohnen zum Frühstück! Und dann die Sportzeitungen studiert. 

Der Plan stand. Zum einen wollte ich das Pokalspiel Celtic FC vs. Meadowbank Thistle (im Jahr darauf wurde daraus der Livingston Football Club) und zum anderen das Pokalspiel Manchester United vs. Leeds United mitnehmen. Doch bevor ich in Glasgow den Bhoys einen Besuch abstatten würde, wollte ich im Norden ein wenig wandern gehen.

Nach zwei Regentagen in Inverness klarte der Himmel ein wenig auf und ich nutzte die Gunst der Stunde und fuhr mit der Bahn runter nach Blair Atholl, das bekannt ist für sein schneeweißes Blair Castle. Von dort aus schlug ich mich zu Fuß in Richtung Süden durch. Ich folgte quasi dem Fluss Garry bis zum Fluss Tummel und erfreute mich an der phantastischen Landschaft. Richtig schmuck wurde es, als ich den Tay Forest Park und den Faskally Forest erreicht hatte. Der kleine Waldsee im letztgenannten Waldstück inspirierte mich später aufgrund der noch das Herbstlaub tragenden Bäume zur Kriminalgeschichte „Gelbes Laub“. 

Am Abend des 15. Februar 1995 verkrümelte ich mich in mein urgemütliches Zimmer in einem alten Steinhaus in Pitlochry, kochte mir einen Tee und ließ die Glotze aus. Stattdessen schaute ich aus dem Dachfenster und ließ die Gedanken in die Ferne schweifen. Endlich bekam ich mental die Kurve und konnte das erste Mal mein Alleinsein auf angenehme Art und Weise auskosten. Ich ahnte ja nicht, dass ich hätte mal ruhig den Fernseher einschalten sollen. Dass ich ein Länderspiel hätte sehen können, hatte ich einfach nicht auf dem Schirm gehabt. Mein Fokus war allein auf die Ligen und die Pokalwettbewerbe gerichtet. So also schlurfte ich am kommenden Morgen die Treppe hinunter in den Frühstücksraum, nahm Platz und erblickte ziemlich schnell die ausgelegten Zeitungen. Waaaaas bitte schön ist daaaaaaas denn???!!! „Death riot“ - „Sabotage“ - „You are scum!“ Wat? Ich verstand nur Bahnhof und starrte auf die Aufmacherfotos. Wer? Wo? Was?

Erst nach und nach wurde mir klar, dass am Abend zuvor im Lansdowne Road Stadium in Dublin das „Freundschaftsspiel“ Irland vs. England ausgetragen - und letztendlich abgebrochen wurde. Die riesigen abgedruckten Farbfotos in den Boulevardzeitungen waren wahrlich eine Hausnummer, und jede Zeitung hatte um die zehn Sonderseiten, die sich der Thematik widmeten. „Shame Game - Full Story - Pages 2, 3, 4, 5, 40, 41, 43, 44“, hieß es zum Beispiel auf der Titelseite der Daily Mirror. „Death riot at England match“. Dazu ein irischer Fußballfan im mittleren Alter, dem das Blut über das Gesicht strömte. Mit den Worten „Deadly missile - a piece of timber flies through the air as the English hooligans give Nazi salutes“ wurde das berühmte Foto in der Zeitung The Sun betitelt, auf dem die auf dem Oberrang befindlichen englischen Fans zu sehen sind. Im Hintergrund zwei schwarze gekreuzte Hämmer auf einer englischen Fahne. Ein Bild, das sich eingebrannt hatte im Hirn.

Seite für Seite studierte die Meldungen, konnte das Ganze jedoch noch immer nicht ganz erfassen und begreifen. Die WM 1996 sei nun in akuter Gefahr, ließ der Premier Tony Blair verkünden. Ich fragte mich auch, ob zwei Tage später überhaupt das FA-Cup-Spiel des Celtic FC stattfinden würde. Ich konnte mir vorstellen, dass die Emotionen nach den Vorfällen extrem hochkochen könnten. Was ich nicht verstehen konnte, war die Tatsache, dass im Lansdowne Road Stadium unter den oben befindlichen englischen Fußballfans irische Zuschauer saßen. Die abgedruckten Fotos wirkten abstrus, wenngleich in den 1990ern noch einiges lockerer vonstatten ging. Rund 4.000 der insgesamt 40.000 Tickets gingen nach England, und somit war ein beachtlicher Mob in die irische Hauptstadt gereist. Bereits vor der Partie stimmten englische Fans diverse Gesänge an. „No surrender to the IRA!“, „Fu** the Pope!“ und „Clegg is innocent!“ (Clegg ist unschuldig!). Clegg wurde 1993 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er am  30. September 1990 in West Belfast an einem Kontrollpunkt mehrere Schüsse auf ein gestohlenes Fahrzeug abgefeuert hatte. Das Urteil wurde allerdings Anfang des Jahrtausends aufgehoben.

Um auf die schweren Ausschreitungen im Lansdowne Road Stadium zu kommen: Nachdem um 18:15 Uhr die Partie Irland vs. England angepfiffen wurde, dauerte es nur 22 Minuten, bis David Kelly den Gastgeber mit 1:0 in Führung bringen konnte. Die Stimmung schaukelte sich hoch, auch auf den heimischen Tribünen wurden provokante Gesänge angestimmt. Als in der 26. Minute ein Treffer der englischen Elf nicht gegeben wurde, brachen im wahrsten Sinne alle Dämme. Herausgerissene Bänke wurden in Richtung Spielfeld und Unterrang geworfen, Leuchtraketen wurden abgefeuert, irische Fans flüchteten daraufhin auf das Spielfeld. Es kam zu einem heillosen Durcheinander, die Partie wurde zunächst unterbrochen und dann schließlich abgebrochen. Hinzu kam, dass es relativ lange dauerte, bis die Einsatzkräfte der Garda Public Order Unit (Garda Riot Squad) den Ort des Geschehens erreichten. Nach und nach wurden die Heimzuschauer evakuiert, während die rund 4.500 englischen Fans noch im Stadion weilen mussten. In Folge dessen nahm das Level der Gewalt noch weiter zu.

Völlig schockiert zeigten sich der englische Trainer Terry Venables und der irische Trainer Jack Charlton, der von den englischen Schlachtenbummlern teils als Judas beschimpft wurde. Jack Charlton erklärte nach dem Spiel: „I have seen a lot in football but nothing like this. It is a disaster for Irish football but I didn't want the game abandoned because what do you do with 2.000 English fans running around the town?“ 

An jenem 16. Februar 1995 deckte ich mich mit Tageszeitungen ein, setzte mich in einen Zug und fuhr runter nach Glasgow, wo ich mir ein bezahlbares Zimmer suchte. Bereits in Inverness hatte ich mich in einem Sportgeschäft mit zwei Trikots eingedeckt. Eins von Celtic Glasgow und eins von der englischen Nationalmannschaft. Celtic hatte ich das erste Mal live auswärts im September 1992 im Kölner Müngersdorfer Stadion gesehen, und was die Nationalmannschaften betrifft, so drückte ich damals sämtlichen Teams von den Inseln die Daumen. Irland, Schottland, England - alles geil. Die Reisen zuvor nach Irland (1992) sowie London, Liverpool und Manchester (1993 und 1994) hatten mich richtig geflasht. Umso mehr schockierte mich, dass der Hass zwischen Iren und Engländern teilweise immer noch dermaßen abgrundtief war. 

Das Pokalspiel zwischen Celtic und Meadowbank Thistle wurde am 18. Februar 1995 ohne Probleme ausgetragen. Ausversehen fuhr ich zuerst zum Celtic Park, wurde dann jedoch von einigen Fans aufgegriffen und kurzerhand in einem Bus mitgenommen zu einem der vielen Vereinsheime und anschließend zum Hampden Park. Immmer wieder wurde im Pub das berühmte „Oh Hampden in the sun, Celtic seven and the Rangers one…“ angestimmt. Die Luft war arg drückend, die Laune der Fans war erstaunlich euphorisch. Meinen Rucksack samt den Trikots hatte ich vorher am Bahnhof in einem Schließfach verfrachtet. Wenn die gewusst hätten, dass ich mir fünf Tage zuvor ein nagelneues, strahlend weißes England-Trikot gekauft hatte. Stress gab es später dennoch im Stadion. Unter meiner schwarzen Lederjacke trug ich einen neutralen dunkelblauen Fleeceschal, der in den Augen einer der Zuschauer zu blau war. „You fu**ing bastard!“ hieß es plötzlich, und ehe ich mich versah, wollte mir ein stämmiger Celtic-Fan im mittleren Alter an den Kragen. Die Jungs, die mich vor dem Spiel eingesackt hatten, konnten die Situation glücklicherweise fix klären. 

Stress gab es später auch im heimischen Berlin. Meine Mutter wusste von meiner Vorliebe für den britischen Fußball und machte mir am Telefon die Hölle heiß. Meine Ohren glühten, als ich in meiner damaligen Bude zum Hörer griff und meiner Mum nur Bescheid sagen wollte, dass ich gesund aus Großbritannien zurückgekehrt sei. „Bist du irre??? Wie konntest du nur zu diesem Spiel fahren???“, hörte ich nur. „Aber Mama, ich war in Schottland, nicht in Dublin!“, versuchte ich zu erklären. Es half nichts. Im Normalfall interessierte sich meine Mutter nicht die Bohne, welche Fußballspiele ich besuchte, doch in diesem Fall war es etwas anders. Ich allein im Februar auf den Inseln. Der Klassiker Irland vs. England in Dublin. Meine Vorliebe für brenzlige Situationen. Das konnte einfach kein Zufall sein! Aus dieser Sache kam ich nicht mehr raus. „Mama, ich war beim Spiel Celtic vs. Meadowbank…“, sprach ich behutsam in die Muschel. Meadowbank klang wie Lansdowne. Und Celtic? Was wusste meine Mutter schon von Fußball?! Celtic? Irland? War doch so wat von klaaaaaaar… Marco!!!!

Anmerkung: Die Erlebnisse auf der 1995er Tour sind im Buch "Zwischen den Welten" nachzulesen. Weitere Infos zu sämtlichen Büchern auf der privaten Webseite des Autors:

> www.marco-bertram.de

Fotos: Marco Bertram

Artikel wurde veröffentlicht am
18 Februar 2021

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