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Amateurfußball in der Wallonie - magnifique!

Ich fahre mit dem Auto einmal quer durch Lüttich. Eben noch rheinischer Singsang in Aachen und nicht mal eine halbe Stunde später bewegt man sich in einem ganz anderen Kulturkreis. Sicher, die Stadt ist aschgrau, aber -  nicht zuletzt mit der reißenden Maas im Stadtbild - irgendwie auch wieder authentisch. Nächstes Mal steige ich auch aus, jetzt muss ich aber erstmal weiter nach Tilleur, einem Stadtteil von Saint-Nicolas, das in den Ardennen-Ausläufern über Lüttich thront. Zwischendurch, auf den fast serpentinenartigen Straßen, hat man einen wunderbaren Blick auf die eben genannte belgische Großstadt. 

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Ich halte sogar an, um von dem Panorama ein Foto zu machen. Wer hätte das gedacht - im Zentrum der belgischen Schwerindustrie? In Tilleur angekommen, verbleiben nicht mal mehr 20 Minuten bis zum Anpfiff. Das Stadion bettet sich in eine Hügellandschaft und als ich eine Anhöhe zum "Stade du Buraufosse" hochfahre und schließlich aussteige, höre ich schon das französische Kauderwelsch vom Stadionsprecher durch die Straßen scheppern. Jetzt aber nichts wie hin!

Doch zwischendrin muss ich ein paar Mal stoppen. Von der Straße, gewissermaßen von oben, kann man in den Ort des Geschehens hineinblicken und das lässt die Vorfreude steigen. Vierte Liga, Vorort von Lüttich. Da denkt man sich nichts bei. Doch der RFC Tilleur und seine Spielstätte, wäre allein einen Besuch in der Wallonie wert! Allein die Aussicht über den Ort und das stählerne Eisenbahnviadukt hinter der Gegengerade - wow! An zwei völlig verschiedenen, übertrieben-große Tribünen bleiben die Blicke hängen. Und dann ist da noch die brachliegende, steile und total verwitterte Hintertorseite.

Die ganze Anlage wirkt einfach nur total ursprünglich, authentisch, cool, verschlafen, abgefahren, lässig. Das absolute Gegenteil von den minimalistischen Sportplätzen, die heutzutage überall gebaut werden. Das ist einfach Amateurfußball mit Herz und Historie - und keine gnadenlose Effizienz in jeder Betonritze. Ob man in Tilleur irgendwann mal höherklassig gespielt hat, habe ich nicht in Erfahrung bringen können. Aber ein paar Aufkleber im Stadion zeugen schon davon, dass hier hin und wieder auch mal supportet wird und immerhin ist man auf der vierten Liga-Ebene ja gar nicht so weit vom professionellen Sport entfernt.

Es sind auch die kleinen Details, mit denen der Ort punktet. Angefangen von uralten Urinal-Anlagen bis hin zu achtlos weggeworfenen Zigarrenstummeln. Aber selbst wenn man alles aufzählt, die Stimmung, die das "Stade du Buraufosse" transportiert, kann man nicht vollends einfangen. Die andere Hintertorseite wurde zu einer Art "Lounge" ausgebaut. Dort gibt es verglaste Sicht auf das Spielgeschehen und reichlich Getränke. In das Haus darf jeder Besucher rein, auf einem der Stühle Platz nehmen und bei angenehmen Temperaturen das Spiel verfolgen. Einen Aufpreis muss man dafür nicht zahlen und auch diese Räumlichkeiten haben schon einige Jahre auf dem Buckel. Für mich kommt das natürlich nicht in Frage. Den ersten Abschnitt sehe ich ganz entspannt von der Sitzplatztribüne. 

Nachdem die Akteure mit Dutzenden aufgeregten Kindern einmarschieren, geht es auf dem Rasen gleich zur Sache. Tilleur führt nach einem platzierten Schuss von der Strafraumgrenze etwas überraschend mit 1:0. Meux ist Tabellenzweiter, der Gastgeber im "unteren Niemandsland" der Tabelle unterwegs. Wenig später gleichen die Gäste in ihren giftgrünen Trikots aus, das Tor - fast eine Dublette von der Gegenseite. Als der Pausenpfiff ertönt, liegt Meux dann sogar in Front. Mit fortlaufender Spieldauer konnte man mehr und mehr die Kontrolle über die Begegnung gewinnen. Die Partie sprüht vor Spielwitz und tödlichen Pässen. Chancenwucher und Torwartparaden hüben wie drüben. Ein hervorragendes Spiel in der vierten Liga.

Das Publikum wirkt eher gesetzt, aber es sind zahlreiche Kinder im Stadion, die zwischen den Sitzreihen herumtollen. Ich hab's mir auf dem hinteren Teil der Tribüne gemütlich gemacht, wo sich fast keine Menschenseele verirrt. Außer der Dorftrottel, der mit einer Buddel Wein in der Hand Selbstgespräche führt und immer wieder laute Rülpsgeräusche von sich gibt, mich aber in Ruhe lässt. Vielleicht schauen sich 250 bis 300 Zuschauer mit mir zusammen das Spiel an. Schwierig zu beurteilen, da das Stadion einfach überdimensioniert ist und sich einige Leute bei den niedrigen Temperaturen ins Häuschen verkrochen haben. Der überzogene Eintrittspreis von 12 Euro, mag auch etwas abschrecken. Doch mit der Akustik unter dem Blechdach der großen Sitzplatztribüne, können selbst 200 Fans ein bisschen Stimmung machen.


In der Pause gibt es - standesgemäß - eine große Portion Fritten, von der ich bis zum Abend werde zehren können. Ich bestelle mir mein Essen auf Französisch und bin auch ein bisschen stolz darauf, dass niemandem bei der Bestellung auffällt, dass ich offensichtlich fremd hier bin. Der schnauzbärtige Imbisswirt gibt sich wirklich Mühe, die Bestellungen rasch abzuarbeiten, trotzdem muss ich fast 10 Minuten warten. Als die Spieler einlaufen, habe ich meinen Snack endlich in der Hand und wandere in der zweiten Halbzeit auf die Gegengerade, die über einen Gästekäfig verfügt und sonst nur Stufen zum Stehen anbietet. Auf der Tribüne, wo vielleicht einige Tausend Leute raufpassen, stehen wir gerade mal zu dritt. 

Nach anfänglicher Überlegenheit der Gäste, kontert sich Tilleur ins Spiel zurück und erzielt nach schnellem Spiel den Ausgleich. Anschließend vergibt man sogar noch Siegchancen, aber auch Meux hat den Dreier einige Male auf dem Fuß. An der Seitenlinie pöbelt es das ein oder andere Mal auf Französisch und auch die zwei wackeren Senioren neben mir auf der Tribüne, legen sich mächtig ins Zeug. Beide Trainer werden schließlich ermahnt - doch auf dem Platz bleibt es bei dem gerechten Remis. Amateurfußball in Wallonien - Magnifique! 



Bericht: Matthias Backhoff

Fotos: Matthias Backhoff

Artikel wurde veröffentlicht am
13 Januar 2020
Spielergebnis:
2:2
Zuschauerzahl:
250

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