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Höchste Zeit für eine Rückkehr des AFC Wimbledon an die Plough Lane

 
5.0 (2)

Die Erinnerungen erscheinen wie aus einem anderen Leben. Kein Wunder, liegen sie bereits 27 Jahre zurück. Als wir zu zweit im Januar 1993 von Düsseldorf aus nach London flogen, um das erste Mal englische Fußballatmosphäre zu schnuppern, fuhren wir kreuz und quer durch die verregnete Metropole. Rasch zum alten Highbury, dann weiter zu den Queens Park Rangers und zum Chelsea FC. Nachdem wir uns das Spiel Tottenham Hotspur vs. Sheffield Wednesday (das geplante Duell QPR vs. Manchester United wurde kurzfristig auf Montagabend verlegt) angeschaut hatten, setzten wir uns in einen der roten Linienbusse und fuhren nach Gefühl einfach mal drauf los. Wir wollten uns auch die Spielstätte von Crystal Palace anschauen, landeten jedoch an einem Leichtathletikstadion. Nur auf Sicht - die Flutlichtmasten als Leuchttürme nehmend - klappte es zwar oft, aber halt nicht immer, das gewünschte Ziel zu erreichen.

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Wenig später fanden wir uns in einem Bus in oberster Reihe wieder. Einfach mal bis Endstadion fahren. Was soll da schon passieren? Mit meinen hellblond gefärbten Haaren war ich nun allerdings ein „Leuchtturm“ und weckte das Interesse zahlreicher jugendlicher Businsassen. Unvergessen, als eine farbige Kante mit fetter Goldkette zu uns nach vorn schlurfte, sich vorbeugte und uns fragte, ob alles okay sei. Allerdings erschien das Spektrum, was er mit dieser Frage letztendlich bezwecke, ziemlich breit. Von „Besser Ihr verpisst euch hier!“ bis „Gleich gibt’s richtig aufs Maul, Ihr weißen Penner!“ schien alles möglich. Anfang der 1990er Jahre waren manche Randbezirke in London wahrlich kein Hort der Gemütlichkeit, und die draußen auf den Bürgersteigen herumlungernden Typen ließen bei uns die Buchse schon etwas voll werden. 

Nichts wie raus aus dem Bus und zur Haltestelle auf der Gegenseite. Nach solch einer Irrfahrt gelangten wir auch zur alten Spielstätte des Wimbledon FC. Mensch ja, wie verheißungsvoll klang Wimbledon. Wer dachte nicht an die Triumphe von Steffi Graf und Boris Becker auf dem heiligen Rasen und das weiß gekleidete Tennis-Publikum auf den Rängen. Da müsste doch auch der dortige Fußballverein ein echter Nobelverein sein, oder nicht?! Großartige Recherchemöglichkeiten gab es damals noch nicht, und jede Fußballtour war eine Tour ins Ungewisse. Würde der nächste Zug wirklich fahren, wie er im Kursbuch vermerkt wurde? Wo genau lag das Stadion XY? Und nicht zuletzt die wichtige Frage: Wo würden wir die nächste Nacht verbringen? In den 1990ern bildeten Bahnhöfe und Parkanlagen häufig das nächtliche Domizil, in London nahmen wir uns allerdings ein recht nobles Hotelzimmer. 

So, nun aber zum Wimbledon FC. Alter Schalter, was ist das denn?! Wird hier überhaupt noch gespielt? Der Anblick, der sich uns bot, spottete jeder Beschreibung. Nee, oder? Echt?! Hier trägt Wimbledon seine Heimspiele aus? Ähm ja, der Wimbledon FC spielte damals in der Premier League! Dass der Verein bereits 1991 umgezogen war, hatten wir damals im Januar 1993 gar nicht auf dem Schirm. Wir standen vor dem maroden Stadion Plough Lane und staunten nur. Immerhin wurde dieses Stadion seit 1912 vom Wimbledon FC genutzt. Wir liefen einmal die angrenzende Straße entlang und fertigten an einer Ecke ein Erinnerungsfoto an. Eine ranzige Mauer, eine alter Ticketschalter, kreuz und quer verlaufende Stromleitungen, alte Flutlichtmasten. Wenig später lasen wir dann, dass die Spielstätte nicht mehr den Ansprüchen genügte und der Verein nun im Selhurst Park spielen musste. 

Für Furore hatte der Wimbledon FC in den 1980er Jahren gesorgt, als der Durchmarsch in die First Division (damals erste englische Liga) gelang. Unvergessen ist vor allem der 1:0-Sieg gegen den FC Liverpool im FA-Cupfinale 1988. In den 1990er Jahren konnte sich der Wimbledon FC in der neu geschaffenen Premier League behaupten, zur Jahrtausendwende erfolgte jedoch der Abstieg und das Management kündigte den Umzug nach Milton Keynes an. Verständlich, dass die meisten Anhänger des Wimbledon FC richtig „begeistert“ waren von diesen Plänen. Nach einem langen Hin und Her durfte der Verein 2003 tatsächlich umziehen und spielte nun im National Hockey Stadium in Milton Keynes (rund 100 km nördlich von London).

Allerdings lief bereits ein Insolvenzverfahren, so dass der Wimbledon FC bereits in der Folgesaison Geschichte war. Den Platz nahm nun mehr der neu gegründete Klub Milton Keynes Dons ein. Glücklicherweise hatten die Fans bereits vorgesorgt und 2002 den AFC Wimbledon ins Leben gerufen. Und das Ganze wurde ein echtes Fußballmärchen! Zum Premierenspiel gegen Sutton United am 10. Juli 2002 kamen über 4.500 Zuschauer, und auch in den folgenden Ligaspielen brach der AFC Wimbledon sämtliche Rekorde der Seagrave Haulage Premier Division (Combined Counties League, CCL). 

Es folgte der sportliche Durchmarsch. 2009 durfte bereits der Aufstieg in die Conference National (höchste englische Nichtprofiliga) gefeiert werden, zwei Jahre später wurde im City of Manchester Stadium im Play-off-Finale Luton Town mit 4:3 nach Elfmeterschießen bezwungen. Der AFC Wimbledon spielte nun in der League Two. Am 30. Mai 2016 gelang dann sogar der Sprung in die League One (dritte englische Liga). Im Play-off-Finale wurde im Wembley-Stadion gegen Plymouth Argyle mit 2:0 gewonnen. Der Clou: Nachdem es bereits in den Jahren zuvor zu Duellen in den Pokalwettbewerben gekommen ist, trafen nun 2016/17 in der League One Milton Keynes und der AFC Wimbledon in sportlicher Augenhöhe aufeinander. 

Bekannt sein dürfte zudem, dass der AFC Wimbledon als Vorbild diente, als 2005 der FC United of Manchester ins Leben gerufen wurde. Kris Stewart und andere Gründungsmitglieder unterstützten und berieten die Fußballfreunde in Manchester. Einen regen Austausch gab es auch, als im gleichen Jahr in Österreich der SV Austria Salzburg gegründet wurde.

Ob es schon mal Spiele zwischen dem AFC Wimbledon und dem FC United of Manchester gab? Die Antwort lautet: Ja! Am 13. Juli 2013 wurde im Kingsmeadow (Cherry Red Records Stadium) im Londoner Stadtbezirk Kingston upon Thames vor insgesamt 1.270 Zuschauern ein Freundschaftsspiel ausgetragen, das am Ende 2:0 ausging. Über jene Partie gibt es einen Bericht im neu erschienen Buch „Meine Zeit beim AFC Wimbledon“ zu lesen. Daniel Roth verfasste im Zeitraum von 2010 bis 2019 über seine Zeit in London zahlreiche Texte, die er in seinem Blog „Cody bei den Dons“ online stellte. Diese Texte wurden nun zusammengefasst und im besagten Taschenbuch abgedruckt.

Da es einzelne Berichte sind, die nur etwas überarbeitet wurden, gibt es in dem Buch keinen roten Faden. Zudem fallen die einzelnen Texte sehr unterschiedlich aus. Mal wurde etwas trockener und schnodderiger geschrieben und mal geht es sehr informativ und emotional zur Sache. Wer sich für den englischen Fußball und ganz speziell für von Fans gegründete Vereine interessiert, dem sei dieses Buch zu empfehlen. Falsch macht man mit dem Kauf dieses Buches gewiss nichts. Wenngleich mir manche Kapitel doch zu arg nüchtern ausfielen. Emotionaler und liebevoller hätte auch der letzte Abschnitt ausfallen können, in dem Daniel Roth schreibt, dass nun neue Kreise gezogen werden müssen und das Kapitel London aufgrund des Umzuges nach Newcastle abgeschlossen sei. 

Arg enttäuschend ist der Fototeil in der Mitte des Buches. Die abgedruckten Handyfotos sind wahrlich nicht das Gelbe vom Ei. Es hätte eigentlich nur zwei Möglichkeiten gegeben: Entweder von anderen befreundeten Personen ein paar Fotos mit reinnehmen oder aber die Farbfotos im Innenteil komplett weglassen. Immerhin wurden die beiden besten verfügbaren Aufnahmen für das Cover genommen, so dass dieses recht nett daher kommt. 

Nun denn, weitere deutschsprachige Literatur über den AFC Wimbledon ist derzeit nicht zu finden, von daher kommt das Buch von Daniel Roth gerade recht. Denn eins ist unumstritten: Das Projekt AFC Wimbledon ist wirklich spannend. Und 2020 wird höchstwahrscheinlich ein neues Kapitel geöffnet, indem das Stadion New Plough Lane mit einer geplanten Zuschauerkapazität von bis zu 9.000 eröffnet wird. Das neue Stadion wird sich rund 500 Meter weiter östlich vom Standort des ehemaligen Stadions Plough Lane befinden. Der AFC Wimbledon kehrt zurück in seine alte Heimat - und für uns ist es dann höchste Zeit, nach 27 Jahren mal dort wieder ein Erinnerungsfoto anzufertigen…

Fotos: Marco Bertram, Felix

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Artikel wurde veröffentlicht am
19 Dezember 2019

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