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Chaoten-Dieter, Fetzer und Bunny Hill: Lese-Zeitreise zurück ins Jahr 1979

 
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„Baller“ ist 15. Er wohnt mit Mutter und Bruder in Gelsenkirchen-Schalke und ist, klar, Schalke Fan. „Baller“ hat schon einiges auf dem Kerbholz. Raub, Einbruch, Körperverletzung. Manches aus Langeweile, anderes bewusst provoziert beim Fußball. „Fetzer“ ist 23 und sitzt in Siegburg ein. Schwere Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt haben ihn dahin gebracht. Auch „Fetzer“ ist Schalker. „Chaoten-Dieter“ verabscheut Gewalt, es sei denn er muss sich verteidigen. Dieter und sein Zwillingsbruder sind Fans des MSV Duisburg. Bundesweit bekannt und für Auswärtsfans immer ein sicherer Kontakt, wenn es darum geht einen Pennplatz zu finden.

Drei Protagonisten kurz vorgestellt, welche im Buch „Fussballfans – Betrachtungen einer Subkultur“ die Hauptrollen spielen. Während man heute eine unzählbare Menge an Literatur über Fans jeglicher Coleur kaufen kann, Gruppen eigene Bücher präsentieren und sich jeder, der einen Satz geradeaus schreiben kann, der Meinung ist, seinen Senf über Fans, Hools, Ultras kund zu tun, ist das Buch von Ulrich Pramann eine wunderbare Zeitreise ins Jahr 1980. 

Damals waren Fussballfans fast noch unbekannte Wesen. Einerseits belächelt ob ihrer bunten Erscheinung mit Kutten, Hüten und Tröten, andererseits gefürchtet wegen ihrem oftmals brachialem Auftreten. Es macht direkt den Eindruck, als wäre der Gang in den Fanblock damals eher Mutprobe als Vergnügen gewesen. Bildhaft wird erzählt wie sich Schalker in der alten Nordkurve wegen Nichtigkeiten gegenseitig die Nase richten, wie sich Fans auf Auswärtsfahrten in Raststätten und Bahnhöfen komplett ihren tierischen Instinkten hingeben.

Aus Fansicht kommen vor allem Schalker und HSV-Fans zu Wort. Der Fanclub „Bunny Hill“ aus der Hansestadt wird vorgestellt. Halbstarke, die unter der Woche ihr Seelenheil im Alkohol suchen und am Wochenende nicht weniger saufen, dafür aber umso mehr auf die Kacke hauen. Da es mit der Rivalität zum FC St.Pauli damals noch nicht soweit her war, sind ihre Feinbilder Kölner und Bremer. Aber prinzipiell kommt ihnen jeder recht, der sie quer anschaut. Selbst wenn er die gleichen Farben trägt.

Die Jungs und Mädels von „Bunny Hill“ waren auch am 07. Juni 1979 beim letzten Heimspiel des HSV. An diesem Tag, der durch die Meisterfeier der Rothosen gekrönt werden sollte, ereignete sich die bis heute wohl schlimmste Katastrophe in einem deutschen Stadion. Durch einen Platzsturm wurden 69 Fans zum Teil schwer verletzt. Auch darüber wird im Buch berichtet. Mit der nötigen Distanz und trotzdem läuft einem beim lesen ein Schauer über den Rücken. Man stellt sich vor wie man selbst in solch einer Situation reagieren würde und ist insgeheim froh über Sektorentrennung und Sicherheitskonzepte.

Den Fans gegenüber stehen Sozialarbeiter. Zum Beispiel „Joe“ vom Jugendamt in München. Der seine Arbeit gern macht, aber auch resignierend anmerkt, dass er nicht weiß, ob es was bringt wenn er und seine Kollegen nur 20 Prozent der Fans erreichen.

Was „Joe“ und seine Kollegen nicht schaffen, versuchen die Fans selbst zu regulieren. So hat es sich der „Deutsche Fussball-Fanclub Verband e.V.“ zu Aufgabe gemacht Fans untereinander zu vernetzen. 1980 waren es zirka 70 Fanclubs, die sich dem DFFV angeschlossen hatten. Die „Fanarbeit“ beschränkte sich aber wohl eher auf ein jährliches Turnier, das Kassieren von Beiträgen und ein Verbandsgericht, welches bei Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen Lagern vermitteln sollte.

 

Auch Dieter aus Duisburg und sein MSV Fanclub „Die Zebras“ waren Mitglied im DFFV. Für die Verbandsoberen ein Glücksfall. Waren Dieter und sein Bruder doch offen gegenüber allen Anhängern, die friedlich waren und Fußball und Bier mochten. Vereinsfarben waren Nebensache, gemeinsam wurde sich nach dem Spiel in einer Kneipe getroffen und gesungen.

Gesungen wurde auch im Bus, der die HSV-Fans um „Bunny-Hill“ nach Duisburg bringen sollte. Allerdings waren die Gesänge zum einen für den Fahrer kein Genuss, zum anderen erhielten sie auch prompt an einer der ersten Raststätten nach Hamburg Lokalverbot und einer der ihren eine Anzeige. Wenig erfolgreich gestaltet sich das Spiel und die anschließende Suche nach einer Kneipe. Früher war eben doch nicht alles besser.

 

Insgesamt bieten die knapp 280 Seiten eine wunderbare Zeitreise. Es dürfte eines der ersten deutschen Bücher sein welches sich so offen mit Fußballfans befasst. Ob alles was „Baller“, „Fetzer“ und der Rest erzählen wahr ist? Schwer nachzuvollziehen, aber durchaus möglich. Ich kann und will es nicht beurteilen. Ob die Protagonisten auch heute, knapp 40 Jahre später noch zum Fußball gehen? Zumindest von „Chaoten-Dieter“ aus Duisburg heißt es, dass er hin und wieder an der Wedau zu sehen ist.

Mit viel Glück gibt es das Buch bei ebay oder im Antiquariat. Ich wünsche Euch Glück beim suchen. Es lohnt sich!

Bericht: Christian Lenke

Fotos: Christian Lenke, Marco Bertram

Artikel wurde veröffentlicht am
21 Oktober 2019

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