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Hertha BSC: Rückblick 1990 bis 1999 - Tristesse, kuriose Auswärtsspiele, grandioser Aufstieg

17 Jahr, kurzes Haar - und den Kopf voller Flausen. Eckte ich in den letzten zwei Jahren an der POS ständig mit den Lehrern an, so ließ ich nach dem Mauerfall erst recht voll die Sau raus. Bereits in der 8. Klasse (1987/88) stolzierte ich mit Army-Hemd in die Schule und zog mir schwarze Boots (die ein wenig an Armeestiefel erinnerten) an. Als die Grenzen fielen, eilte ich wie zig tausende andere ostdeutsche Jugendliche in die nächsten Klamottengeschäfte. Ich legte im Sommer 1990 satte 99 Deutsche Mark hin und nannte nun ein Paar BW-Stiefel mein Eigen. Dazu die Jeans hochgekrempelt und eine sowjetische Tarnjacke übergezogen. Eine Camouflage-Gürteltasche und ein Jagdmesser komplettierten mein Outfit. Ich fuhr zum Alex und nervte die Jugo-Hütchenspieler, indem ich mich einfach ne Stunde daneben stellte. Ich hatte nen Groll auf diese Bande, da unmittelbar nach dem Mauerfall mein Vater am Kudamm auf diese plumpe Masche reinfiel und mal eben nen Blauen verlor. So bekloppt wie ich war, steckte ich hinten in die Hosentasche eine leere Fake-Geldbörse, in der Hoffnung, dass irgendein Rumäne dran ziehen würde und ich einen Grund für berechtigten Stress hätte. Nur am Rande: Statt des Fake-Portemmonaies kam mir das echte, vorn versteckte Portemmonaie abhanden. Ich merkte das erst gar nicht und achtete stets auf mein Gesäß, in der Hoffnung, gleich „zuschlagen“ zu können. Erst als mich Hütchenspieler und diverse andere skurrile Gestalten blöde angrinsten, kapierte ich, dass ich einfach nur naiv war und noch sehr viel lernen musste. Erbost über meine eigene Blödheit zog ich sinnfrei mein Messer und brüllte die Umherstehenden an. Irgendeine Ostberliner Atze hielt mich dann fest, beruhigte mich und erklärte mir, dass solch eine Aktion doch nichts bringen würde.

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Ich war einer von tausenden Ossi-Jugendlichen, die nach dem Mauerfall orientierungslos durch die Gegend eierten. Einerseits lebten wir voller Freude die Freiheiten aus. Andererseits wusste niemand, wo die Reise hinführen würde. Die einen knackten Wartburgs und Ladas und kachelten mit diesen durch die anliegenden Wälder und setzten diese dann abschließend mit Absicht gegen einen Baum. Andere zogen sich die Nase voll und rockten in den Kellerclubs durch bis morgen früh. Wiederum andere gingen pumpen und fuhren zum Fußball, um wilde Sau zu spielen. Die größten Experten frönten gleich alle drei Hobbys. Ich indes hatte noch keine Fleppen und fuhr mit Bus und S-Bahn zum Ostbahnhof und zum Schiffbauerdamm, um ab September 1990 meine Ausbildung als Energieelektroniker zu beginnen. Nach kurzem Anschnuppern kam ich mit Sowjet-Tarnjacke und BW-Stiefel in die Berufsschule, was mir eine Menge Respekt von den härteren Platzhirschen einbrachte. Mir wurde schnell klar: Entweder cool sein und mitziehen oder der Klassenidiot sein und richtig leiden müssen. Mit den Stories aus dem ersten Lehrjahr könnte ich ein halbes Buch füllen. Und ich werde sicherlich im kommenden Buch noch einmal ausführlich drauf zurückkommen. 

Heute soll es jedoch um Hertha BSC gehen. Pünktlich zur Wiedervereinigung war Hertha BSC wieder dabei im Fußballoberhaus. Nachdem es in den 80ern sogar zwischenzeitlich runter in die Oberliga ging, sollte die Alte Dame wieder ein Aushängeschild werden. Allerdings wurde der Saisonstart 1990/91 richtig böse vermasselt. Bevor ich am 3. September 1990 mit Grummeln im Magen zum ersten Mal zur Ausbildungsstätte dackelte, musste sich Hertha am Freitagabend auf dem Betzenberg mit 3:4 geschlagen geben. Zweimal hatte Schlegel die Berliner in Führung bringen können, am Ende stand Hertha mit leeren Händen da. Als Hertha BSC nach dem siebten Spieltag noch immer sieglos war, winkten die neuen Kumpels nur noch ab. „Kannste knicken! Wenn du boxen willst oder mal nen neue Jacke oder ne Hifi-Anlage brauchst, musste mitkommen beim BFC!“ 

Das jedoch war mir eine Nummer zu fett. Zwar trat ich vor dem Ostbahnhof schon mal die Seitenscheiben abgewrackter Autos ein und war auch sonst der Bambule in der Ausbildungswerkstatt nicht abgeneigt (die Schwächsten mussten richtig leiden), doch auf massive Schlägereien mit Hools und der Polizei hatte ich nicht wirklich Bock. Mir war klar, dass mich die erstbeste Kante fürchterlich zertrümmern würde. So also wollte ich es erst einmal ruhiger angehen lassen und Hertha BSC einen Besuch abstatten. Ein Testspiel gegen eine Weltauswahl unter der Woche war optimal, um dem Berliner Olympiastadion einen zweiten Besuch (zuvor sah ich dort das Schüler-Länderspiel Deutschland vs. England 0:4) abzustatten. In voller Montur - ich kam ja direkt von der Ausbildung - fuhr ich mit der U2 gen Ruhleben und kaufte mir eine Karte für die Gegengerade. Als mich der Ordner locker flockig abtastete, staunte er ein wenig über mein am Gürtel hängendes Jagdmesser. Unvergessen seine Worte „Aber das kriegst du hier nicht mit rein, mein Junge!“ Stress gab es keinen. Vielmehr empfahl er mir, das Messer unter einem Baum unter Laub zu verstecken. Ich müsse mir halt nur gut den Baum merken. 

Tja, mit Hertha BSC fing also alles an. Vom Spiel gegen die Weltauswahl blieben nur einzelne Bilder und Sequenzen hängen. Das Flutlicht, die auf dem Oberrang stehenden Hertha-Fans, der auf dem Rasen wirbelnde Carlos Valderrama. Vom in den dunklen Abendhimmel gerufenen „Ha Ho He!“ zeigte ich mich sehr beeindruckt. In der Pause kaufte ich mir eine kleine Stofffahne, auf der späteren U-Bahnfahrt hatte ich noch einiges zu verarbeiten. Allerdings ging es im Ausbildungsjahr 1990/91 dermaßen hoch her, dass ich keine weiteren Fußballspiele mehr sah. Erschwerend kam hinzu, dass meine besten Freunde nicht allzu fußballinteressiert waren. 

Allerdings hatte das im Olympiastadion gesehene Spiel durchaus im Innern etwas geweckt, und somit war es kein Wunder, dass direkt nach meinem Umzug ins Rheinland im September 1991 es sogleich von Null auf Hundert in die Vollen ging. Nur drei Tage nachdem ich im Ausbildungswohnheim mein Zimmer bezogen hatte, stattete ich allein dem Pokalspiel Bayer 04 Leverkusen vs. 1. FC Köln einen Besuch ab und durfte nach der Partie auf dem Willy-Brandt-Ring vor einer Truppe Kölner laufen gehen. Neue Freunde fanden sich im Rheinland schnell, und nach und nach wurde von der ganzen Fußball-Palette genascht. Die Sportbild war ab nun Pflicht, in der Pause wurde vor allem der Statistik-Teil ausgiebig studiert. Was machten eigentlich meine Heimat-Vereine? Ich war erschüttert, dass der 1. FC Union Berlin und der BFC Dynamo (nun FC Berlin) nur noch in der Oberliga (3. Liga) kickten. Da zudem Hertha BSC wieder mit der 2. Bundesliga vorlieb nehmen musste, konnte manch ein Fußball-Smalltalk durchaus unangenehm werden. Schön und gut, dass man im tiefen Westen volle Kanne hier und dort mit dabei war, aber was ist los mit der Heimat? Wer einen ärgern wollte, hatte gleich das volle Blatt auf der Hand. Wo spielt eigentlich der DDR-Serienmeister? Nenne mir eine europäische Hauptstadt ohne einen Erstligisten!

Vereinstechnisch war ich noch völlig offen, doch über das, was sich in meiner Heimatstadt tat - oder eben nicht tat - war ich schon schockiert. Im Laufe der drei Jahre in Leverkusen kam es immer wieder vor, dass vor allem ältere Kollegen in diversen Abteilungen des Chemie-Giganten einem morgens die Zweitligatabelle hinlegten. Was sich in den Oberligen tat, interessierte dort unter dem Strich niemanden. Die 2. Bundesliga hatte man jedoch noch etwas im Blick. Als geborener Berliner musste ich damals demzufolge meist für Hertha BSC geradestehen. Da juckte es keine Sau, dass man als Ossi ja auch Hansa Rostock und Dynamo Dresden feste die Daumen drückte. Marco - Berliner - peinliche Hertha. Das rief selbstverständlich eine Trotzreaktion hervor und schnell hatte ich das Gefühl, dass die Alte Dame unterstützt werden musste, als sie ab und an in den Westen kam.

Meine ersten gesehenen Auswärtsspiele waren die beim FC Remscheid und bei Fortuna Köln, wobei vor allem die Sause nach Remscheid in fester Erinnerung blieb. Mit einem Magdeburger und einem Kumpel aus Frankfurt/Oder düste ich in die Röntgenstadt und wir fanden uns im Gästeblock wieder. Der dortige Anblick war ernüchternd. Ein Haufen Allesfahrer hatte sich eingefunden, um Hertha im leicht abschüssigen Block zu unterstützen. Vor 2.500 Zuschauern konnte Roman Sedláček den Gastgeber mit seinen beiden Treffern mit 2:0 in Führung bringen. Als der Berliner Liebling Theo Gries vier Minuten vor Abpfiff den Anschlusstreffer klarmachen konnte, keimte Hoffnung auf und das „Ha Ho He!“ hallte durch das Röntgenstadion. Der Ausgleich sollte jedoch nicht fallen. Nach dem 17. Spieltag der Mammut-Saison 1992/93 (24 Mannschaften) war Hertha BSC auf Rang 19 zu finden und bösartige Kollegen konnten am Montagmorgen wieder das berühmte Liedchen trällern: „Willst du Hertha oben sehen, musst du die Tabelle drehen…“

Arg ernüchternd war auch das eine oder andere besuchte Hertha-Heimspiel zu jener Zeit. Fuhr ich am Wochenende mal heim nach Berlin, schaute ich ab und an im Berliner Olympiastadion vorbei. Nachdem in der Woche zuvor noch ein Spiel im Kölner Müngersdorfer Stadion oder im Dortmunder Westfalenstadion besucht wurde, kam ein Hertha-Heimspiel vor 4.200 Verwegenem einem Kaltentzug gleich. Fassungslos schaute ich ins verwaiste Rund. Nur in der Ostkurve tummelte es sich ein wenig. Erstaunlich laut hallte das „Ha Ho He!“ durch das leere Rund. Manch ein Fußballspiel dort war echte Quälerei, doch irgendwie liebte ich auch das muffige Ambiente des Olympiastadions. Dass Fußball auch weh tun muss, wurde mir bereits meiner ersten Spielzeit bewusst. Windige Kurven in Gelsenkirchen und Duisburg-Wedau. Mitunter lustloses Gebolze auf dem Rasen. Ich zog innerlich den Hut vor den Hertha-Fans, die sich 1992/93 und 1993/94 den Abstiegskampf antaten. 4.000 Zuschauer gegen Wolfsburg und Mainz 05 - ein Grauen. Und das Schlimmste: Erzählte man einem Freund oder Bekannten, dass man ein Hertha-Spiel besucht hatte, wurde man nur traurig belächelt oder gar für völlig bekloppt erklärt. Egal! Ich träumte davon, dass eines Tages auch in meiner Heimatstadt wieder Erstligafußball gespielt wird und die Kurven gefüllt werden. 

Einen Hoffnungsschimmer gab es in der DFB-Pokalsaison 1992/93. Gleich zweimal hatte die Hertha es mit dem TSV Bayer 04 Leverkusen zu tun. Noch bevor es zum überaus überraschenden Finaleinzug der Hertha-Bubis kam, musste die erste Mannschaft im Achtelfinale im Leverkusener Ulrich-Haberland-Stadion ran. Für Karsten und mich trennten sich an jenem Nachmittag die Wege. Während er den angestammten Platz im Block C aufsuchte, schaute ich im Gästeblock vorbei. Rund 1.000 Berliner Fans waren angereist, der Großteil blieb bis kurz vor Anpfiff draußen und stürmte dann mit einem kraftvollen „Hurra, hurra, die Berliner, die sind da!“ in den Gästeblock. Auf Heimseite hielt sich das Interesse indes ganz stark in Grenzen. Davon ganz abgesehen wurde zu jener Zeit auch gegen Wattenscheid und die Stuttgarter Kickers nur vor knapp 9.000 Zuschauern gekickt.

Hertha BSC kämpfte an jenem Tag bravurös. Niko Kovač, Mario Basler, Uli Bayerschmidt, Miroslav Tanjga, Theo Gries und Co. machten es den Rheinländern richtig schwer. Eine Sensation lag in der Luft. Bis zur 83. Minute konnte Hertha-Torwart Walter Junghans seinen Kasten sauber halten, dann jedoch erzielte ausgerechnet Andreas Thom den Treffer des Tages für die Werkself. Ebenso knapp ging es später im Finale zu, als die Amateure von Hertha BSC im ausverkauften Rund gut aufspielten und sich ebenso mit 0:1 geschlagen geben mussten. Ulf Kirsten schoss in der 77. Minute das 1:0 für Leverkusen.

Ich war doppelt bedient. Im Vorfeld hatte ich mich mit einigen Karten eingedeckt, die ich in Berlin verticken wollte. Aufgrund des miserablen Wetters wurde ich diese jedoch am Spieltag nicht los. Dazu das Ergebnis. Mensch, Scheiße, wenigstens die Verlängerung oder ein Treffer, um die blau-weiße Masse einmal jubeln zu sehen! Arg unbefriedigt ging es heim. Meine Laune war richtig mies. Immerhin gab es am nächsten Tag das „Aufstiegsspiel“ des 1. FC Union Berlin gegen Bischofswerda zu sehen, doch ist dies eine völlig andere Geschichte.

Daheim waren zu jener Zeit zuschauertechnisch die Heimspiele gegen den F.C. Hansa Rostock, den FC St. Pauli, den TSV 1860 München und Tennis Borussia Berlin echte Lichtblicke. Auswärts blieben vor allem drei weitere Partien in meinem Geiste hängen. Zum einen der Auftritt bei Fortuna Düsseldorf am 27. März 1993. Ich fand mich mit Karsten im Gästeblock ein, insgesamt wollten nur 4.200 Zuschauer den Zweitligakick im alten Rheinstadion sehen. Mein lieber Herr Gesangsverein! Solch ein Reisetruppe hatte ich selten gesehen. Zu den paar Exil-Berlinern kamen die Allesfahrer, die an jenem Tag richtig gut getankt hatten. Komplettes Durchdrehen, als Mike Lünsmann, Theo Gries und Mario Basler die Berliner mit 3:0 in Führung brachten (Endstand 3:1). Einer musste mal gleich vor Freude Wasser lassen und pinkelte fast an mein Bein. Sich kaum haltend könnend strullerte ein Fan mit typischer Jeansjacke mitten im Block und ließ zwischen den Wellenbrechern ein beachtliche Pfütze zurück. „Alter!“, meinte nur Karsten neben mir. Ich schämte mich fremd. In den 90ern ging es bekanntlich noch weitaus prolliger und assiger zu, doch solch ein Auftritt war schon ne Nummer. Lallende Gestalten, auf der Zaunkrone sitzende Typen, bei denen das behaarte Bauarbeiterdekoltee sichtbar wurde. 

Richtig an die Nieren ging die Schlussphase der Saison 1993/94. Am 6. April 1994 verlor Hertha BSC bei Rot-Weiss Essen mi 0:2 und stand nun gemeinsam mit Tennis Borussia Berlin am Tabellenende. Ich hatte inzwischen meine Ausbildung abgeschlossen und hatte noch einen Zeitvertrag als Facharbeiter im Bereich Umweltschutz. Als Neuling hatte ich dort nix zu lachen, zumal ich von Januar bis März im Ingenieurbüro sitzen und am Laptop eine speicherprogrammierbare Steuerung (SPS) programmieren durfte. In diesem Bezug war man als neu Gelernter sogar den Ingenieuren voraus, was bei den anderen Facharbeitern alles andere als gut ankam. Ab Ende März wurde es dann lustig. Ein, zwei NRW-Atzen hatten mich richtig auf dem Kieker und freuten sich diebisch, als die Berliner Klubs am Tabellenende zu finden waren. „Pass mal auf, Bulette. Kannst dich schon mal auf die Oberliga freuen! Kehrst doch eh bald zurück in den Osten! Spielen Union und FC Berlin nicht auch Oberliga? Alles die gleiche Scheiße!“ Ich ließ mir nicht allzu viel anmerken, doch am liebsten hätte ich beiden Köln-Fans richtig in die Fresse gehauen. Da ich jedoch noch bis Juli 1994 dort meine gute Kohle verdienen wollte, riskierte ich keine Eskalation. 

Hertha fing sich ein wenig, kam aber nicht so recht aus der Gefahrenzone heraus. Ein Alles-oder-Nichts-Spiel wurde am 25. Mai 1994 die Auswärtspartie beim Wuppertaler SV. Unter der Woche im Stadion am Zoo. Karsten hatte bereits ein eigenes Auto und tat mir den Gefallen, mit mir ins Bergische zu fahren. Oberhalb der Betonbahn fanden wir uns im away-Winkel ein. Solch ein nervenaufreibendes Spiel hatte ich lange nicht erlebt. Spielszenen blieben keine hängen. Haften blieb nur das Gefühl, dort oben zu stehen und auf das ferne Spielfeld zu starren. 4.000 Zuschauer verfolgten an jenem Abend die Partie, auch für den WSV ging es um den Klassenerhalt. In der 37. Minute traf der WSV-Spieler Broos ins eigene Tor. Frenetischer Jubel unter den Hartgesottenen im Gästeblock. Könnte nicht gleich Schluss sein? Tief saß der Schock, als Aerdken nach einer Stunde den Ausgleich erzielte. 1:1. Zu wenig aus Sicht der Berliner. Aber komm, wenigstens dieser eine Punkt muss mitgenommen werden!

Und dann! In der 75. Minute machte ausgerechnet Carsten Ramelow das 2:1 für Hertha klar. Was für Gänsehaut! Was für Erleichterung! Die verbleibende Zeit zog sich wie Kaugummi. Am Ende war der Sieg in trockenen Tüchern. Der Sprung aus der Gefahrenzone gelang. Auf der Rückfahrt saß ich neben Karsten im Auto und starrte auf die Fahrspuren der Autobahn. Im Radio lief eine Zusammenfassung der beiden NRW-Spiele. Rot-Weiss Essen verlor bei den Stuttgarter Kickers mit 2:4 und auch der WSV ging gegen Hertha leer aus. Endzeitstimmung beim Radiomoderator. Tiefes Durchatmen bei mir.  Am Ende jener Saison feierten über 1.000 mitgereiste Hertha-Fans den Klassenerhalt in Form eines 0:0 beim FC Bayer 05 Uerdingen. 

Nachdem ich im Sommer 1994 zurück nach Berlin gekehrt war, besuchte ich die Heimspiele sämtlicher relevanter Vertreter meiner Heimatstadt. Ich wollte nun im Nordosten zahlreiche persönliche Lücken schließen und fuhr an den Wochenenden kreuz und quer. Es eröffneten sich neue Horizonte und die Beziehungen zu den verschiedensten Vereinen kristallisierten sich langsam heraus. Eines meiner beeindruckendsten Spiele in den 90er Jahren war im Oktober 1995 das Erstligaspiel F.C. Hansa Rostock vs. Eintracht Frankfurt vor knapp 60.000 Zuschauern. Als Hansa den Ausgleich zum 1:1 erzielte, rollten bei mir die Tränen die Wangen herunter. Zum einen weil ich es Hansa einfach gönnte und mich die geile Atmosphäre in ihren Bann zog. Zum anderen weil ich solch volle Ränge auch der Hertha gönnen würde. Hertha gegen Hansa in der 1. Bundesliga - das wollte ich sehen! 

Bereits im Sommer 1995 holten drei Freunde und ich zwei Bootsschalen vom Strelasund auf einen Bauernhof vor den Toren Berlins. Wir hatten einen Plan. Wir wollten die beiden Boote ausbauen und mit ihnen nach Australien segeln. Kommen die Olympischen Spiele 2000 nicht nach Berlin, segeln wir halt zu ihnen nach Sydney. Je mehr das Projekt Fahrt aufnahm, desto weniger schaffte ich es zum Fußball. Ab 1997 nahm die Anzahl der gesehenen Spiele für die kommende Zeit stetig ab. Doch bevor Hände und Kopf zu 100 Prozent beim Bootsbau waren, sollte sich ein Hertha-Spiel fest im Geiste verankern.

Nein, ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass nur anderthalb Jahre nach dem grandiosen Auftritt des F.C. Hansa Rostock auch Hertha BSC das Berliner Olympiastadion rocken würde. Am Montag, den 7. April 1997 stand das Zweitligaspiel gegen den 1. FC Kaiserslautern an, und man rechnete im Vorfeld mit 30.000 anwesenden Fußballfreunden. Optimisten sagten auch 35.000 oder gar 40.000 Zuschauer voraus. Aber 75.000?! Nie im Leben! Umso größer wurden die Augen, als ein Block nach dem anderen geöffnet werden musste. Und das am Montagabend! Okay, würde nun aber die Mannschaft der Erwartungshaltung standhalten können? Man durfte nur staunen! In der 25. Minute machte Axel Kruse das 1:0 für Hertha BSC! Irre, einfach irre! Ein weiterer Axel sorgte für das 2:0. In der 55. Minute bugsierte Axel Roos den Ball ins eigene Gehäuse. Der enorm wichtige Sieg war in trockenen Tüchern. Das Fundament für den späteren Aufstieg war hergestellt.

Im Sommer 1997 ging ich mit Karsten durch den Südwesten Irlands wandern. Da es noch kein allgemein verfügbares Internet gab, holten wir uns Sportbild und Kicker, um uns mit Neuigkeiten zu versorgen. Wie schaute es bei den Transfers aus? Wen holte Hertha BSC? Bryan Roy, Kjetil André Rekdal, Hendrik Herzog - das las sich wirklich gut. Am 03. August 1997 war ich beim ersten Heimspiel dabei. Vor ausverkauften Rängen erkämpfte Hertha gegen Borussia Dortmund ein 1:1. Nachdem Ricken den BVB in Führung gebracht hatte, war es Ante Covic, der den umjubelten Ausgleichstreffer erzielen konnte. Dufte Stimmung! Dufte waren ebenso die vor dem Anpfiff abgespielten Klassiker. Ein Hauch der alten Zeiten zog durch das weite Rund. 

Für mich war dies ein perfekter persönlicher Abschluss. Zwar schaute ich bis 1998 noch das eine oder andere Hertha-Spiel, doch war der Kopf eher beim Segelprojekt. Nachdem es nach dem schweren Schiffbruch auf der stürmischen Nordsee im November 1999 wieder zurück nach Berlin ging, wurden die persönlichen Karten komplett neu gemischt. Nach ein, zwei ruhigeren Jahren ging es ab 2002 fußballtechnisch wieder in die Vollen - jedoch unter ganz anderen Vorzeichen. Für den Zeitraum 2000 bis Gegenwart gebe ich bezüglich der Alten Dame den Staffelstab weiter. In Kürze wird es sicherlich den zweiten Teil des Rückblicks über Hertha BSC geben. Von jemanden, der die Mannschaft auch aktiv begleitete. Mein persönliches Fazit: Mit Hertha fing 1990 alles an und die mitunter harten Erfahrungen aus den 90ern möchte ich nicht missen!

Fotos: Marco Bertram

> zur turus-Fotostrecke: Hertha BSC

> zur turus-Fotostrecke: Impressionen aus den 1990er Jahren

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Artikel wurde veröffentlicht am
23 Januar 2019

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Teils sehr skurril.
J
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Ganz schön rassistisch am Anfang
G
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G
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Anfang des Jahrtausends kam ein Bruch. Der Umbau des Stadions, das Maskottchen, das Logo, der Einfluss von Nike. Das kam in der Stadt nicht gut an. Gut, das Stadion musste umgebaut werden, aber es war eine fürchterliche Zeit.
G
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Die Zuschauer Zählen vor 96...krasse Kiste
G
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R
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