Fußballderby in Teheran: Über 110.000 Zuschauer bei Esteghlal gegen Persepolis

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JP Updated

Celtic FC gegen Glasgow Rangers, Boca gegen River Plate, Flamengo gegen Fluminense, Kaizer Chiefs gegen Orlando Pirates. Diese vermeintlich größten Derbys der Welt kennt wirklich jeder Fußballfan. Aber gibt es denn Spiele, die noch bedeutender sind? Ja, gibt es. Das wichtigste Derby Asiens beispielsweise fand am Freitag in einem Land statt, welches selbst für hartgesottene Groundhopper außergewöhnlich ist. Im Iran. Wenn Esteghlal Teheran und Persepolis Teheran aufeinandertreffen, stehen nicht nur die populärsten Clubs des Landes auf dem Platz, sondern auch die Gewinner von 16 von 29  ausgespielten iranischen Meisterschaften. Es spielt Blau gegen Rot. Der Lieblingsclub der Regierung gegen den Verein des Volkes. Und auf den Rängen heißt es dann: 55.000 gegen 55.000. 

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Zwei Kilometer vor dem Stadion geht nichts mehr. Autos, die Stoßstange an Stoßstange stehen, hupen einander im Sekundentakt an. Mopeds quetschen sich zusätzlich durch die Blechkarawane, die Fußgänger unter den Fans pilgern per pedes zum Stadion und auf der Fahrbahn verkaufen fliegende Händler Schals und Fahnen beider Vereine. Es ist 05:45 Uhr. Also mehr als neun Stunden vor dem Anpfiff. Auf dem Gelände des Azadi-Stadiums tummeln sich bereits zu dieser Zeit etwa 20.000 Menschen. Jeder will sich durch frühes Erscheinen sein Ticket sichern, denn einen Vorverkauf gibt es ebenso wenig wie Jahreskarten. 

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Das Großaufgebot der Militärpolizei sorgt dafür, dass sich die chaotischen Zustände an den Ticketschaltern im Rahmen halten. Die Beamten lassen jeweils nur etwa 1.000 Menschen auf einmal in Richtung Kassenbaracken losrennen. Erst wenn alle Leute ihr Ticket haben, wird das nächste Wolfsrudel auf die Beute losgelassen, nämlich auf die begehrten Unterrang-Tickets. Diese gibt es für umgerechnet 1,80 Euro, für den Oberrang sind etwa 60 Cent zu zahlen. Wer eine dieser wertvollen Zugangsberechtigungen erwerben konnte, hat anschließend genau zwei Möglichkeiten: Entweder er verlässt das Stadion und kommt später wieder, in der Hoffnung dann noch einen Platz auf den Tribünen zu finden. Oder er bleibt. 

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Ich entscheide mich für die zweite Alternative. Es ist mittlerweile 06:45 Uhr. Bereits etwa 10.000 Zuschauer sind zu dieser Zeit im Stadion. Erste Gesänge schallen durchs weite Rund, leidenschaftlich getragen von nahezu allen Anwesenden – in einer Lautstärke, die schon jetzt manches Bundesligastadion in Ehrfurcht erstarren lassen würde. Es ist 2 Grad Celsius kalt, viele haben Decken dabei, um die Kälte wenigstens halbwegs abzuwehren.  Es dämmert. Die Menschen trinken Tee. Es gibt ihn für umgerechnet 12 Cent, aber viele haben auch Thermoskannen dabei, mit daheim von ihren Frauen gekochtem Tee. Die Frauen selbst blieben zu Hause, denn weiblichen Personen ist der Besuch eines Fußballspiels im Iran auch im Jahr 2013 noch strikt verboten. 

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Nicht nur die Temperaturen steigen anschließend, sondern auch die Zuschauerzahl. Gegen 08:00 Uhr sind schon 30.000 Leute im Stadion, gegen 10:00 Uhr bereits 60.000. Die ersten La Ola-Wellen rollen, beide Fangruppen starten jeweils ihre eigenen. Die Überrollfahne der Esteghlal-Fans wird unter tosendem Applaus erstmals präsentiert. Ein Fernsehteam kommt durch den Block. Fans werden interviewt. Als die Journalisten im oberen Block angekommen waren, deuteten zahlreiche Zuschauer auf mich. Eine Befragung vor den Kameras scheitert lediglich an den sprachlich bedingten nicht vorhandenen Verständigungsmöglichkeiten. Um 12:30 Uhr, also zweieinhalb Stunden vor dem Anpfiff, sind mehr als 100.000 da. Die offizielle Kapazität des Stadions, die bei 98.832 Plätzen liegt, ist erreicht. Aber die riesige Schüssel füllt sich weiter. Die Pufferblöcke werden immer kleiner, bis sie letztlich gar nicht mehr existieren. Sämtliche Aufgänge sind belegt – die Ordner geben irgendwann auf, diese freizuhalten. Auf dem Oberrang erobern Zuschauer die Brüstung, bis diese von der Militärpolizei geräumt wird. Leute stehen hinter dem Block in Dreier- oder Viererreihen und versuchen irgendwie, einen Blick aufs Spielfeld zu erhaschen.  Und auch im Unterrang erhält bei weitem nicht jeder Zuschauer seinen per Eintrittskarte verbrieften Sitzplatz. Letztendlich sind es 110.000 Zuschauer, vielleicht sogar 120.000. 

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Die Stimmung nähert sich dem Siedepunkt. Ich sitze inmitten der Esteghlal-Fans. Obwohl niemand mehr als ein paar Brocken Englisch spricht, werde ich herzlich aufgenommen. Zahlreiche Zuschauer wollen ein Foto mit dem verrückten Deutschen machen, und mir werden so viele Getränke und Snacks angeboten, dass ich irgendwann einfach ablehnen muss. Dann der Anpfiff, endlich, nach mehr als achtstündigem Ausharren. Unter der lautstarken Anfeuerung der sechsstelligen Kulisse startet der Tabellenneunte Persepolis besser ins Spiel, ein klarer Elfmeter wird den Rot-Weißen verweigert, bevor der Klassenprimus Esteghlal die Hoheit auf dem Platz übernimmt. Auf den Rängen sieht es ähnlich aus. Während vor dem Spiel die Anhängerschaft des Arbeiterclubs Persepolis lauter und fanatischer war, präsentieren sich die Esteghlal-Fans anschließend in Hochform. Lautstark, jeder Block von einem eigenen Capo angetrieben und vor allem sehr gut organisiert. 

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Mit 0:0 geht es in die Kabinen. In eine andere Kabine sollte es auch für mich gehen, nämlich auf die Toilette. Angesichts des Geruchs mache ich schnell kehrt. Andere Zuschauer hätten ihren Platz zu diesem Zeitpunkt längst verloren, aber dem weitgereisten Deutschen wird ein Spalier gebildet. Mit meinen unmittelbaren Nachbarn teile ich meine Packung Corny-Riegel und ernte strahlende Blicke der Dankbarkeit. Meine Bifis bleiben in der Tasche, denn sie enthalten Schweinefleisch. Ein Rahmenprogramm gibt es hier übrigens nicht. Die Hauptattraktion der Halbzeitpause ist Franco Baresi, welcher auf Einladung des Persepolis-Vorstands das Spiel besucht und auch von den Esteghlal-Fans begeistert bejubelt wird. Die Anwesenheit eines internationalen Superstars ist im Iran äußerst selten und erfährt daher überschäumende Wertschätzung.

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Die zweite Halbzeit beginnt. Vorher mache ich mich noch gehörig zum Löffel. Mein Nachbar hatte mir vom Imbiss ein Getränk mitgebracht, welches in einer Verpackung dargereicht wird wie in der Heimat die aus der Schulzeit bekannte Capri-Sonne. Als ich den Strohhalm versuche, an der üblichen Stelle einzustechen, scheitere ich. Die Folie ist hier oben sehr stabil, und man sticht den Strohhalm unten ein. Mehrere wildfremde Menschen versuchen mir zu helfen, und als ich die widerspenstige Hülle doch nach meinen Vorstellungen bezwungen hatte, klatschen bestimmt 50 Mann. Soviel Aufmerksamkeit ist mir peinlich. Glücklicherweise wenden sich die Fans wieder dem Spielgeschehen zu. 

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Persepolis wird immer stärker und erarbeitet sich Chance um Chance. Esteghlal sollte in der zweiten Spielhälfte keine einzige Gelegenheit mehr haben, nur noch der Tabellenneunte spielte. Lediglich ein Tor wird beiden Mannschaften verwehrt bleiben und mir somit das Erleben der endgültigen Gefühlsexplosion. Während die Persepolis-Fans verzweifelt über die Unfähigkeit ihrer Mannschaft sind, ihre Chancen zu verwerten, bleibt denn Esteghlal-Anhängern nur die Häme über jede vergebene Möglichkeit des Rivalen. Nach dem Abpfiff geht es schnurstracks raus aus dem Stadion. Das Gedränge hier ist abartig und ich verliere meinen netten Nachbarn, mit dem ich gern noch Kontaktdaten getauscht hätte. Wer hier zur Boden fällt, wird zertrampelt. Nicht nur ich klammere mich an den Schultern meines Vordermanns fest. 

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Durchatmen auf dem Vorplatz. Schnell ein Wasser kaufen. Und für umgerechnet 1,10 Euro noch eine Esteghlal-Fahne für die heimischen vier Wände. Ab zur U-Bahn, welche nach drei Kilometern Fußmarsch endlich erreicht wird. Den Rest des Abends verbringe ich mit dem Besuch des Azadi-Turms, dem Essen eines Kebabs und einer chaotischen Fahrt mit einem Schwarztaxi zum Flughafen, die am Ende in einem wüsten Streit über eine Erhöhung des vereinbarten Preises endete, welche ich schon aus Prinzip nicht mitmache, wenngleich ich es mir absolut hätte leisten können. Denn insgesamt hat mich der Tag inklusive beider je mehr als 40 Kilometer langen Taxifahrten keine 40 Euro gekostet. Einige Stunden später verlasse ich den Iran. Ohne mir einen wirklich aussagekräftigen Eindruck vom Land verschafft zu haben, aber mit wahnsinnig lebendigen Erinnerungen vom wichtigsten Fußballspiel Asiens. Einen Besuch des Teheraner Derbys kann ich unterm Strich jedem Reisenden dringend empfehlen.  

Iran

Fotos: Jörg Pochert, Chris Wode (letztes Foto beim Rah Ahan Sorinet FC)

> zur turus-Fotostrecke: Impressionen vom Derby in Teheran

 

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